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Brenner-Gespräch (1): Haben Sie ein System?

So viele Leute fahren über die Alpen nach Italien. Quart bittet herausragende Persönlichkeiten an den Straßenrand zu einer Jause mit Gespräch. Folge 1: der Komponist und Theatermacher Heiner Goebbels, der an der Universität Gießen „Künstlerische Praxis“ lehrt.

Andreas Schett: Ich lese so gerne Interviews mit Leuten, die erzählen, welches Buch, welcher Film, welche Musik ihr Leben verändert hat. Gibt’s so etwas bei Ihnen?

Heiner Goebbels: Ich bin in Landau in der Pfalz aufgewachsen und da gab es einen Kulturdezernenten, der Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre die Crème der europäischen und internationalen Solisten und Orchester in die Provinz brachte. Ein Glücksfall! Zu dieser Zeit kamen auch die großen russischen Künstler erstmals auf Welttournee in den Westen; die hatten drei, vier Konzerte in Deutschland und spielten in Berlin, München, Düsseldorf und eben in Landau. Mit einer Stehplatzkarte hörte ich so zum ersten Mal beispielsweise Mstislaw Rostropowitsch, Svjatoslav Richter und David Oistrach. Das Wunderbare an Oistrach war, dass er mit seinen kleinen dicken Wurst­fingern und seinem etwas metzgerhaften Äußeren eigentlich überhaupt nicht das ausstrahlte, wozu er musikalisch in der Lage war. Sobald er etwas gespielt hatte, ließ er beide Hände fallen, stand da und wartete auf den nächsten Einsatz. Dadurch entstand eine große Spannung zwischen dem akustischen Erlebnis und – man könnte fast sagen – einer performativen Verweigerung. Das hat sich ganz stark in meine Erinnerung eingegraben, die Spannung zwischen Hören und Sehen, dass sich eben die beiden Bereiche nicht komplett schließen und sich dadurch meinem Interesse wieder entziehen, weil das Kunstwerk in sich schon vollständig ist. Bei Oistrach entstand eine Kluft zwischen Körper und Klang. Ich bin fast über die Balustrade gefallen, um mir das ganz genau anzuschauen, wie er das hinkriegt mit seinen Fingern, die relativ kräftig waren und so eine Zartheit im Ton produzieren konnten. Das war ein Widerspruch, den ich offenbar damals gespürt habe und an dem sich mein Interesse entzündet hat. Und das Thema ist für mich immer noch aktuell.
Ein anderes Konzert, das mein Leben verändert hat, war 1971 bei den Donaueschinger Musiktagen: Don Cherry versammelte damals alle europäischen Free Jazzer, die Rang und Namen hatten, um sich und rollte auf der Bühne einen Teppich aus. Zusammen mit seinem damals dreijährigen Sohn, Eagle-Eye, der immer dazwischen herumwuselte, seiner Frau sowie einer finnischen Sängerin und einem Hund lagerte er dort auf Kissen. Und intonierte ganz einfache, stark an indische Ragas erinnernde Unisono-Melodien. Die in einem Halbkreis um ihn aufgestellten Free Jazzer kochten vor expressiver Individualität und Unangepasstheit, und nur durch die Autorität seiner musikalischen Biografie konnte Cherry sie sozusagen auf diese ganz einfachen Tonleitern verpflichten. Und es war eine berührende und aufwühlende Erfahrung, dieses Spannungsfeld zwischen öffentlicher Disziplinierung und individuellem Widerstand zu spüren, die aufgeladene und kaum zu bändigende Kraft und Komplexität hinter dieser Einfachheit. Die Jazzer, die um nichts in der Welt bereit waren, sich unterzuordnen, wurden plötzlich von einem Guru domestiziert, einem Magier, der sein privates Wohnzimmer auf die Bühne brachte.

S.: Wohnzimmer auf der Bühne ist ein gutes Stichwort. In Ihrer jüngsten Arbeit – Eraritjaritjaka nach Texten von Elias Canetti – gibt es das auch.

G.: Ja, das Wohnzimmer auf der Bühne berührt ein Schlüsselproblem künstlerischer Arbeit überhaupt – nämlich die Frage: Wie geht man mit dem Verhältnis zwischen privat und öffentlich um?

S.: Wie geht man damit um?

G.: Man muss zwar diese Frage stellen, darf sie aber nicht nach einer Seite hin – der öffentlichen oder der privaten – auflösen. Das ist wahrscheinlich das Geheimnis dieser Spannung: das Aushalten von zwei Interessen, die nicht auf Deckungsgleichheit zu bringen sind.
Ein Projekt, an dem ich jetzt gerade arbeite, beinhaltet auch so eine Wohnzimmer-auf-der-Bühne-Situation. Die Musik erklingt zu Texten von Gertrude Stein, die sie im Zweiten Weltkrieg geschrieben hat. Das Buch heißt „Wars I Have Seen“ (und taucht auch in meiner Oper „Landschaft mit entfernten Verwandten“ auf). Das ist ein Kriegsbuch, wie man es kaum kennt, in dem die Autorin wirklich sehr private Interessen völlig unvermittelt neben öffentliche Beobachtungen stellt. Sie schreibt zum Beispiel über die deutschen Gefangenen und spricht im nächsten Atemzug mit ihrer Nachbarin, die sie auf der Straße trifft, über den Umstand, dass ihr Hund Diabetes hat. Dieses Nebeneinander muss der Leser überhaupt erst einmal sortieren, er muss gewichten. Er hat aber auch die Freiheit dazu. Es ist niemand da, der es für ihn tut. Das ist etwas, was mich auf der Bühne oder in der Kunst immer am stärksten interessiert hat.

S.: Bei Eraritjaritjaka gibt es einen Mann, der auf der Bühne zu Streichqartettklängen Texte von Canetti rezitiert. Und plötzlich erhebt sich jemand aus dem Publikum und filmt den Mann. Sein Bild wird groß auf die Rückwand projiziert und der Mann verlässt die Bühne, um mit dem Taxi in seine Wohnung zu fahren. Was er dort tut und dabei sagt, ist zeitgleich immer auf der Leinwand zu sehen. Erzählen Sie: Wie kam es zur Entscheidung, dass der Mann die Bühne verlässt?

G.: Canetti hat diesen untrüglichen Blick für Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse. Und dieser Blick, der sich sozusagen manisch auf alles richtet, trifft auch alles: die Beziehungen der Menschen untereinander, die Beziehungen zwischen Mensch und Tier, zwischen Musik und Sprache, zwischen zwei Sätzen, zwei Wörtern oder zwischen Individuum und Staat, Privatheit und Öffentlichkeit. Man muss versuchen, diese Beob­achtungen mit seinen eigenen Erfahrungen abzugleichen. Und darum habe ich zunächst gedacht, ich muss raus aus dem Theater. Man kann das alles nicht repräsentieren auf der Bühne, das wussten schon viele gute Theatermacher vor langer Zeit. Das ist also der Grund, warum bei Eraritjaritjaka der Schauspieler das Theater verlässt und es ist ganz wichtig, dass der Zuschauer das miterlebt, wenn ein Mann glaubhaft von der Bühne geht und durch eine Stadt fährt, die man kennt, die man im Video auch sieht, an der man sich orientieren kann. Und ihn dann tatsächlich in einem quasi privaten Wohnzimmer, am Schreibtisch oder in seiner Küche sehen kann. Damit ändert sich auch der Tonfall des Sprechens. Es gibt keinen Adressaten mehr wie vorher auf der Bühne. Und hier berühren wir auch ein anderes Problem: Wie verhindert man, dass der Zuschauer den Mann für eine Personifizierung Canettis hält und denkt, es seien dessen Probleme? Wie kann ich es schaffen, dass die Sätze aus Canettis Notizbüchern zu Fragen werden, die man an das Publikum verteilt? Ich glaube dadurch, dass ich zum Beispiel den ersten Teil des Stückes sehr abstrakt inszeniert habe. Da steht ein Mann wie eine Schachfigur auf einer weißen Bühne und alles wird nur zwischen Text und Musik verhandelt; die Szene hat eigentlich die Qualität eines Lesevorgangs, man könnte genauso gut das Buch in die Hand nehmen. Während der erste Teil also so konzipiert ist, dass man ihn nicht als Verkörperung des Textes sehen kann, sondern als intellektuelle Anregung, ist der zweite Teil, nachdem der Mann die Bühne verlassen hat und an seinem Schreibtisch sitzt, so wahnwitzig konkret, dass es nicht ernst gemeint werden kann. Wenn der Mann zum Beispiel darüber nachdenkt, wie es ist, alleine zu leben und dabei Zwiebeln schneidet …

S.: … exakt im Rhythmus der Musik –

G.: … ja, oder wenn er beim Omelettessen oder Bügeln irgendwelche Dinge von sich gibt – das ist so filmisch detailhaft, dass eine andere Ebene erreicht wird. Das Niveau der Texte und die Profanität der Dinge werden zu Gegenpolen. Damit entsteht eine Freiheit der Imagination. Ich möchte dem Zuschauer nicht seine Bilder verbauen und ihn festlegen auf meine Interpretation der Welt, ich möchte seinen Blick öffnen.

S.: In Ihren Stücken gibt es oft verschiedene Textautoren, etliche Komponisten und mehrere Gestalter. In Ihren Aufsätzen zum Thema Musiktheater fordern Sie eine „Enthierarchisierung der Mittel“, weder Text noch Bild oder Musik sollen im Vordergrund stehen, sie sollen ineinander geraten, sich durchdringen. Und dann ist immer wieder die Rede von der Kohärenz der Mittel, vom „Zusammenhang“. – Wie lässt sich ein solcher herstellen bei derart vielen Bestandteilen?

G.: Jeder Zuschauer stellt den Zusammenhang zwischen diesen verschiedenen Mitteln anders her, wichtig ist nur, dass sie der Reihe nach eingeführt werden, dass der Zuschauer in das Vokabular des Abends eingeführt wird. Bei Eraritjaritjaka funktioniert das fast klassisch: Zuerst sieht es so aus, als wäre es ein Streichquartett-Abend. Dann kommt ein Körper dazu, den man von hinten sieht. Und ein Text, den man aus den Lautsprechern hört. Man weiß aber nicht, wie Körper und Text zusammenhängen. Darauf folgt das Licht, ein Scheinwerfer, der zur Figur wird, der auf die Bühne kommt und agiert, indem er zum Beispiel den Schauspieler dirigiert. Und wenn der Schauspieler den Raum verlässt, beginnt ein Film. Jedes dieser Elemente erfordert eine andere Wahrnehmungshaltung. Schon allein den Unterschied zwischen Hören und Sehen finde ich frappant. Und ich bestehe auch auf dem Unterschied. Ich versuche das nicht zusammenzubringen. Schauspieler in meinen Stücken hört man eben nicht aus der Richtung ihres Körpers, sondern aus den Boxen. Damit findet eine Trennung des Körpers von der Stimme statt, eine Trennung des Textes von der Bewegung. Es entsteht eine zweite, akustische Bühne und in dieser Kluft zwischen akustischer und visueller Bühne zum Beispiel wird die Neugierde des Zuschauers geweckt. Er lernt im Laufe der Aufführung, sich innerhalb dieser Möglichkeiten frei zu bewegen.

S.: Das Publikum stiftet sich also selbst den Sinn.

G.: Ja.

S.: Die Frage, die sich daran anschließt, lautet: Welchen Zusammenhang oder welchen Sinn finden Sie als Künstler, der diese vielen Mittel zusammenführt? Oder, anders gefragt: Was hat die Musik eines Cage oder Schostakowitsch mit Canetti zu tun? Oder Kierkegaard mit Prince – die Kombination, die man in Ihrem Stück „Die Wiederholung“ findet?

G.: Das kann ich relativ präzise sagen, wenn auch immer ein Rest von Unerklärlichkeit bleibt. Prince hat in seinem Song „Joy in Repetition“ auf dem Album „Graffiti Bridge“ die wesentlichen Motive des Kierkegaard-Textes „Die Wiederholung“ trivial vereinigt: Regen, Verführung, Voyeurismus, Eifersucht, Nachdenken über Repetition. Haargenau dasselbe hat Kierkegaard in seinem wunderbaren Essay beschäftigt.

S.: Aber was ist damit gesagt, dass die Ideen einmal von Kierkegaard aufgegriffen werden und einmal von Prince?

G.: Damit ist gesagt, dass auch hier verschiedene Zugänge möglich sind. Ich kann jemandem, dem Kierkegaard zu abgehoben ist, mit dem Prince-Song die gleiche Geschichte erzählen. Bei Musik von Schostakowitsch und Crumb zu den Texten von Canetti ist es noch direkter. Es sind Komponisten, die mit einer ähnlichen gesellschaftspolitischen Sensibilität gearbeitet haben. Die Berührungspunkte liegen in der Frage, wie ein künstlerisches Subjekt sich in totalitären Strukturen – mit denen sich Schostakowitsch im Stalinismus oder Canetti im Faschismus konfrontiert sahen – behauptet. Und das tun merkwürdigerweise beide ähnlich und auf durchaus stolze Weise. Zum Beispiel zitiert Schostakowitsch in seinem achten Streichquartett eine Notenreihe, die aus den vertonbaren Buchstaben seines Namens besteht. Das ist schon sehr stark, nicht ohne Stolz auf die eigene Exis­tenz, die trotz der Repressionen im sozialistisch-rea­listischen System bestehen kann. Und in vielen Texten Canettis kann man merken, dass er nicht uneitel mit der Weltgeschichte umgesprungen ist. „Nichts ist langweiliger, als angebetet zu werden. Wie hält Gott das nur aus?“, schreibt er. Auch George Crumb hat ja sein Streichquartett, das ich zitiere, im Kontext des Vietnamkrieges positioniert.

S.: Mit demselben Assoziationsprinzip könnte man auch Künstler miteinander in Verbindung bringen, die ihr Werk auf der grünen Wiese geschaffen haben.

G.: Das würde ich nicht tun. Ich bin mir der Beliebigkeit künstlerischer Prozesse bewusst und treffe eine künstlerische Entscheidung erst dann, wenn mehrere Dinge dafür sprechen. Es muss genügend Gründe geben, dass ich etwas miteinander kombinie­re. Solche Entscheidungen, wie zum Beispiel jene, Prince und Kierkegaard zu verbinden, müssen auf mindestens drei, vier Ebenen fallen, damit sie stimmen. Auch bei der Auswahl der Musik für das Canetti-Stück – die ich ja nicht alleine gemacht habe, sondern gemeinsam mit dem Dramaturgen, auch die Musiker haben Vorschläge eingebracht – gab es mehrere Kriterien: politische, biografische, ästhetische, pragmatische … Oft ging es auch einfach nur um die Frage, wie durchlässig die Musik ist, ob sie es aushält, dass man zeitgleich einen Text spricht.

S.: An Ihrer Canetti-Arbeit hat mich fasziniert, dass Sie die fragmentarischen Mittel, die Sie in beliebiger oder auch nicht beliebiger Weise zusammengeführt haben, mit dem Einsetzen einer einfachen, berührenden Geschichte zu einem Ganzen verbinden: Ein Mann geht nach Hause, macht sich ein Spiegelei, öffnet die Post, denkt nach und spricht dabei einen Satz nach dem andern. Auf ganz neue und eigenartige Weise entsteht so etwas wie eine Erzählung, die aus vielen verschiedenen Quellen gespeist ist.

G.: Sie haben wahrscheinlich Recht, dass dadurch in gewisser Weise die heterogenen künstlerischen Mittel zusammengehalten werden. Aber ich glaube nicht, dass das die wichtigste Leseart ist. Sie täuscht ein bisschen über die Komplexität dessen, was da tatsächlich passiert, hinweg. Der Mann kann ja nicht einfach ungestört nachdenken. Da kommt ein Junge ins Wohnzimmer, der seine Bücher sehen will, und plötzlich sitzt ein Streichquartett auf seinen Möbeln und macht schreckliche Musik. Es ist keine ungestörte Idylle, die sich auf der Bühne auftut, sondern eine gebrochene. Und da Sie ein bisschen die Narration gegenüber der Fragmentierung ausspielen – ich glaube, dass die Unterbrechung dasjenige Moment ist, das uns als Zuschauer am stärksten uns selbst realisieren lässt. Detlef Linke, ein Hirnforscher, der 2005 verstorben ist, hat mich auf Hölderlins Anmerkungen zu Antigone hingewiesen; Hölderlin schreibt sinngemäß, dass erst im Zusammenstoß sehr unterschiedlicher Teile, die unserem unterschiedlichen Wahrnehmungsvermögen entsprechen, überhaupt so etwas wie Vorstellung entsteht. Und ich bin absolut dieser Meinung. Ich kann einer geradlinigen Erzählung nicht folgen. Ich kann sie auch nicht wiedererzählen, bei mir bleibt nicht so viel hängen. Ich habe eine ganz andere Struktur, einen eigenen Rhythmus, ein anderes Zeitgefühl. Und ich empfinde das Verfolgen einer Erzählung bis zu einem bestimmten Grad immer auch als Unterwerfung, zu der ich nicht bereit bin. Wenn ich allerdings mit einer vielfältig gebrochenen, auch unterbrochenen Erzählung konfrontiert bin, wie Eraritjaritjaka eine ist, dann kann ich mich immer wieder an dem Zusammenstoß dieser verschiedenen Teile, am Geschehen auf der Bühne synchronisieren. Daraus entsteht meine je eigene Narration – oder das, was Hölderlin Vorstellung nennt.

S.: Zeitgenössisches Theater erlebe ich oft so, dass viele Dinge, die nichts miteinander zu tun haben, zeitgleich auf der Bühne passieren. Die Mittel sind separiert, sie reiben sich aneinander, aber es hat überhaupt keinen Sinn …

G.: … ja, da fliegt einem natürlich das Material um die Ohren …

S.: … jede Form der Narration wird verweigert und trotzdem gibt es eine Linearität, die darin besteht, dass die Vorstellung um 20 Uhr beginnt und um 22 Uhr endet.

G.: Deshalb lege ich so viel Wert auf die Kohärenz des Materials. In dieser Beziehung bin ich sehr abergläubisch. Zum Beispiel habe ich in dem Stück „Die Wiederholung“ nur Sounds verwendet, die aus dem Klangrepertoire von Prince kamen. Ich glaube sogar, dass alles zerfleddert und auseinanderfällt, wenn der Klang der Bass Drum von einem anderen Künstler kommt. Es gibt eine innere Kohärenz, zum Beispiel eine klangliche, die man nicht bewusst wahrnimmt, die man aber spürt, die durch den Körper geht.

S.: Apropos Prince und Bass Drum. Sie haben sich viel mit Sampling beschäftigt (das ist die Technik, vorhandenes akustisches oder musikalisches Material in neue Kompositionen einzubringen, Anm.) und haben dazu auch einen Aufsatz mit dem Titel „Das Sample als Zeichen“ geschrieben. Woran erkennt man ein gutes Sample?

G.: Die Frage ist heute schwerer zu beantworten als vor 20 Jahren, als ich den Text geschrieben habe.

S.: Die Frage ist doch immer dieselbe: Wenn man ein Sample als Zeichen begreift und es ein Meer voller Klänge gibt – woran orientiert man sich?

G.: Man kann keine allgemeinen Grundsätze aufstellen. Ein gutes Sample kann eines sein, das nicht als solches erkennbar ist, weil es in der Kohärenz des Materials aufgeht. Es kann aber auch gerade dadurch interessant sein, dass es als solches ausgestellt ist und die Kluft zu den übrigen Klängen nicht verheimlicht.

S.: Was sagen Sie Ihren Studenten, wenn Sie derartige Fragen behandeln?

G.: Das ist ja das Schöne an der Lehre, dass man nicht mit festen Grundsätzen arbeiten kann. Man fängt immer wieder bei Null an. Natürlich hat man seinen Erfahrungsschatz und kann sich unter Umständen besser ausdrücken, aber es gibt keine schnellen Gesetze. Die muss man immer aus dem jeweiligen Projekt, vor allem dem jeweiligen Material, der jeweiligen Produktionsweise heraus entwickeln. Wenn etwa ein Hörspiel, das meine Studenten machen, nicht funktioniert, kann das viele Gründe haben. Es kann an der Aufnahme liegen, am Gedanken, der dem Konzept zugrunde liegt, es kann am Rhythmus liegen oder daran, dass das Sample schlecht geschnitten ist.

S.: Nachdem Sie das jetzt 30 Jahre lang machen, könnten Sie ja sofort sagen: Moment, das funktioniert nicht, weil das Sample schlecht geschnitten ist –

G.: Nein, das kann ich eben nicht.

S.: Das können Sie nicht?

G.: Ich kann sofort sagen, da stimmt etwas nicht. Aber ich tue nicht so, als ob ich immer genau wüsste warum. Es könnte auch daran liegen, dass die Boxen falsch stehen oder der Klang nicht vorbereitet ist. Wenn wir eine Kunstform nach strengen hierar­chi­schen Regeln organisieren – etwa beim konventio­nel­len Rollenstudium – dann kann ich diese Gesetze mit den Studierenden von A bis Z durchbuchstabieren. Wenn ich hingegen jede künstlerische Arbeit zum Teil auch als eine forschende begreife und zum Beispiel ein merkwürdiges Gegenlicht mit einem besonderen Klang kombiniere und einem Text, der gar nicht fürs Theater geschrieben wurde – dann kann ich nicht auf Anhieb sagen, was daran falsch ist, wenn etwas falsch ist. Hier muss das Zusammenspiel dieser verschiedenen Ebenen erst ausgehandelt werden.

S.: Wir alle lehnen Hierarchien und Gesetzmäßigkeiten – von wem auch immer verordnet – ab. Trotzdem kommt es in jedem Arbeitsprozess zu einem Punkt, an dem die Frage bleibt: Wie und woran, an welchen Gesetzen, Ideen oder Erfahrungen entlang entscheiden wir uns?

G.: Es ist kein Zufall, dass aus unserem Institut in Gießen keine Einzelkämpfer hervorgehen, sondern lauter kleine Kollektive: Riminiprotokoll – vielleicht die bekanntesten – oder Monstertruck und viele andere. Das hat damit zu tun, was ich vorhin mit dem Öffnen des Blicks beschrieben habe. Wir suchen an unserem Institut nach einem performativen Konzept, das – analog zu den Erfahrungen in der bildenden Kunst – den Blick auf die Materialien öffnet, Texte erschließt, ohne sie auf eine besserwisserische Interpretation zu reduzieren. Die drei Mitglieder von Riminiprotokoll können sich eben nicht auf ein Bild einigen und geben darum auch keines vor. Ihr Ehrgeiz besteht darin, einen Prozess anzuzetteln, an dessen Ende der Zuschauer jeweils sein Bild oder seine Erfahrung setzen kann. Und ihr höchstes Glück sehen sie eben nicht in der Realisierung ihres eigenen Egos.

S.: Glauben Sie eigentlich, dass Mozart sein Ego realisiert hat?

G.: Ja, natürlich. Ich glaube, das ist die Idee der meis­ten Komponisten, auch heute noch. Ich finde den Teamprozess – dass man etwas herausfindet, was man sich allein vorher nicht hätte vorstellen können – tausendmal spannender und aufregender als nur das zu machen, von dem ich vorher schon weiß, wie es aussieht.

S.: In dem Buch über Sie und Ihre Arbeit* wird eine Anekdote erzählt: Sie halten einen Vortrag an einem Konservatorium in Sizilien und am Ende fragen die Professori einigermaßen bestürzt: Herr Goebbels, haben Sie kein System? Diese Frage muss ich Ihnen noch einmal stellen –

G.: Ich habe das System, das ich jetzt gerade entfaltet habe. Ich glaube, dass das System jeweils aus dem Material kommt. Und man muss so etwas wie Materialrespekt mitbringen, der einem auch die Offenheit lässt, seine Arbeitsweise immer wieder neu in Frage zu stellen. Und immer wieder auf das Material, mit dem man arbeiten will, zu reagieren.

S.: Mir ist es zu wenig zu sagen, es ist immer alles materialabhängig, situationsabhängig oder projekt­abhängig. Dann sagen wir doch gleich: Regeln gibt’s nicht mehr und alles andere ist einfach in der Situation zu entscheiden. Sie kommen ja nicht neu auf die Welt jeden Tag, Sie haben ja einen Erfahrungsschatz. Sie haben Sätze gelesen, Bilder gesehen, Klänge gehört. Und auf Grund dessen können Sie sagen, ich denke, die Sache ist so und so. Auf Grund dessen können Sie sagen: Pass auf, die Box steht falsch – weil Sie das eben schon öfter gemacht haben!

G.: Mit Materialrespekt meine ich, dass man sich zum Beispiel überlegt, wo die Box steht. Wenn man sie unter einen Stuhl stellt, darf man sich nicht wundern, dass man die hohen Frequenzen nicht mehr so gut hört und den Text nicht mehr versteht.

S.: Sie können einem Studenten doch sofort sagen, wie eine Box stehen muss, dann macht er weniger leere Kilometer. Also gibt’s eine Gesetzmäßigkeit, die nicht besserwisserisch ist!

G.: Da bin ich vorsichtig. Ich würde in diesem Fall zunächst einmal fragen: Wollen Sie, dass man den Text nicht versteht? Ich frage: Soll man zu der Box hingehen und sich vielleicht bücken müssen? Oder soll ich den Text dort verstehen können, wo ich gerade stehe? Kürzlich hat ein Student ein Projekt mit Texten von Ernst Jünger realisiert, man konnte den Text nur an ganz bestimmten Stellen im Raum verstehen. Das war beabsichtigt. Ob es gut war, ist eine andere Frage.

S.: Beantworten Sie dann nach der Aufführung die Frage, ob es gut war oder nicht?

G.: Ja.

S.: Oder können Sie das nur für sich beantworten?

G.: Nein, nein. Wir haben an unserem Institut die Tradition der Kritikgespräche, zu denen alle Studierenden eingeladen sind, um ihre Meinungen und ihre Kritik einzubringen. Das ist ein sehr offenes Forum und auch eine große Chance, die man später im Leben so nicht mehr hat.

S.: Und woran orientiert sich die Kritik?

G.: An der künstlerischen Intention, am Prozess und an den Aufführungserfahrungen. Ich würde zum Beispiel sagen: Sie haben ja gesehen, dass die Zuschauer da nicht hingehen, wo die Box steht, das heißt, Sie müssen daraus eine Konsequenz ziehen. Entweder sorgen Sie dafür, dass man den Text überall versteht, sofern Sie der Text interessiert. Oder Sie müssen den Zuschauerbereich einschränken. Oder die Zuschauer anders motivieren. Natürlich gibt es verschiedene Optionen. In den Kritikgesprächen wird in der Regel genau begründet, warum eine Arbeit nicht funktioniert. Und für den Prozess der künstlerischen Ausbildung ist es wesentlich interessanter, wenn etwas nicht funktioniert, als wenn es funktioniert.

S.: Lassen Sie mich zusammenfassen: Gesetzmäßigkeiten sind nicht vorhanden und werden von uns abgelehnt. Wir hüten uns davor, Alternativen zu formulieren. Und trotzdem weiß am Schluss jeder, ob es funktioniert hat oder nicht. Da kann was nicht stimmen!

G.: Doch! Man kann es immer wieder nur aus der Aufführungserfahrung heraus beantworten. Es geht nicht einfacher. Man kann das nicht in Gesetzen formulieren. Man kann es nicht einmal für eine einzelne Aufführung verallgemeinern: Sie kann an einem Abend funktionieren und am nächsten nicht. Das ist nun einmal die Komplexität einer Live-Erfahrung.

*   Wolfgang Sandner (Hrsg.): Heiner Goebbels. Komposition als Inszenierung, Henschel Verlag 2005

 

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