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Auf die Nerven

„Das kenn’ ich schon, das hat’s ja schon gegeben!“ – Philipp Mosetter polemisiert gegen einen weit verbreiteten Stehsatz der Kunstbetrachtung.

Ich hatte gestern Abend einen vernichtenden Streit zu bestehen. Nur Handgreiflichkeiten sind ausgeblieben. Jedenfalls, viel hat nicht gefehlt und es wäre dazu gekommen. Zuerst ein grauenvoller Theater­abend, dann eine Auseinandersetzung, die eine alte, tiefe Freundschaft in seinen Fundamenten erschütterte. Es war eine lange, zunehmend trunkene und entsprechend niederschmetternde Nacht. Heute Morgen schwere Kopfschmerzen. Die Bruchstelle hatte sich schon früh am Abend abgezeichnet, bereits während des ersten Aktes. Mir ging die ebenso hilflose wie verkrampfte Suche nach dem Nochniedagewesenen, dem Unverbrauchten, dem ultimativ Neuen auf die Nerven, mit der mich ein gut 45 Jahre alter, aber immer noch als jung und wild geltender Regisseur über drei Stunden belästigte. Schon im ersten Akt war die Katastrophe vollkommen. Alles war so unendlich langweilig vorhersehbar. Nach jedem Satz wusste man genau: Aha, jetzt kommt wieder eine Idee. Ständig wurde mit diesem ostentativ mutig Neuen dem Zuschauer vor der Nase herumgefuchtelt. Ich fand es fürchterlich und musste mich später dafür in die Ecke der Traditionalisten stellen lassen. Heute Morgen bin ich um einen Freund ärmer, dafür aber mit, wie gesagt, Kopfschmerzen. Um halb 10 Uhr bin ich dann von einem Anruf aus der Redaktion dieser Zeitschrift geweckt worden. So kommen die Dinge zusammen. Noch immer verärgert, dass es mir gestern nicht gelungen ist, das Etikett des Konservativen abzuschütteln, bloß weil ich dem Neuen nicht die alleinige Lufthoheit über das, was Gültigkeit haben soll, zugestehen wollte. Ich freute mich über den Anruf – und über das Ansinnen, ich möchte doch bitte einen kleinen Aufsatz, eine Polemik sogar, verfassen. Das Thema lautete: „Das kenn’ ich schon, das hat’s ja schon gegeben …“. Da ist es wieder: Das Neue. Liegt dem Satz doch implizit die Forderung nach dem Neuen zu Grunde. Die Sache schien mir schnell abgehakt, denn ich fühlte mich durch den vergangenen Abend gut trainiert. Wäre mit der Bitte um einen Artikel nicht die Forderung nach einer bestimmten Anzahl von Anschlägen (genauer gesagt 11.200!) verbunden gewesen, hätte ich mit rund 100 Anschlägen diesen Satz in seine Schranken verwiesen. Was dann aber mit den restlichen gewünschten 11.100 Anschlägen tun?

Kopfschmerzen. Immer wenn ich solche Katerkopfschmerzen habe, habe ich das dringende Bedürfnis aufzuräumen. Und in diesem Satz – „Das kenn’ ich schon, das hat’s ja schon gegeben ...“ – muss unbedingt aufgeräumt werden. Dieser Satz ist nachgerade vollgerümpelt mit muffigem Meinungsmüll und billigen Überzeugungen, die sofort zusammenbrechen, wenn man sich drauf setzen will.

Also aufräumen. Zunächst: Der Satz „Das kenn’ ich schon, das hat’s ja schon gegeben …“ formuliert ers­tens, wie erwähnt, die Sehnsucht nach dem Neuen. Dem Neuen wird hier regelrecht heilbringende Wirkung abverlangt. Wo mich die aktuelle Kunst zuweilen hilflos (womöglich ebenso hilflos wie sie ist) zurücklässt, möge wenigstens das Nochnichtgesehene mir Orientierung dafür sein, dass es sich hier um Kunst und nicht etwa um Scharlatanerie handelt. Zweitens ist der Satz Abwertung und Ablehnung. Das Bekannte, schon Gesehene, wird deshalb abgelehnt, weil es bereits bekannt ist. Das entlarvt drittens die Erwartung an die Kunst, einen Effekt, und zwar einen dezidiert überraschenden, zu erzielen. (Genau das habe ich dem oben erwähnten, hoffnungsvollen Regisseur ja zum Vorwurf machen wollen, dass er mit dem Neuen nur spekuliert: Als wäre irgendwas schon deshalb bedeutend, nur weil es neu ist.) Das Neue ist aber kein Wert an sich. Neu ist leicht mal was. Meist genügt es vollkommen, den Kontext zu verändern, schon ist der älteste Käse wieder neu. Und dann ist auch wieder gar nichts neu, alles schon mal da gewesen. Neu ist keine Kategorie. Vielleicht bei einem Pudel oder einem Papagei, dann kann man Freunde einladen und sagen, schaut her, er kann was Neues. Kunststückchen.

Hier wird Effekt mit Bedeutung verwechselt. Der Satz hat keinen Inhalt. Wenn aber der Inhalt fehlt, dann lohnt es sich vielleicht, auf den Tonfall zu achten. „Das kenn’ ich schon, das hat’s ja schon gegeben …“ Achten Sie auf den Unterton. Da kennt sich offensichtlich einer aus. Weniger noch, da kennt einer gerade mal das, was er soeben vor der Nase hat. Der Satz hat zwar keinerlei Inhalt, aber er demonstriert Kennerschaft. Die will mitgeteilt sein. Kennerschaft ist ja ein weit verbreitetes Phänomen. Jeder kennt sich irgendwo aus, manche mit Wein, andere mit mediterranem Kochen oder mit Bob Dylan, die Formel 1 ist derzeit vielleicht ein bisschen aus der Mode gekommen, aber alle kennen sich irgendwo aus. Alles Kenner. Die schlimmsten sind die Kunstkenner.

Das Entscheidende bei der Kennerschaft ist die Dis­tanz des Kenners zum Gegenstand seiner Kenntnis. Mein Lieblingskenner ist der Herr Horst unten in der Kneipe am Eck. Er hat nie Fußball gespielt, er war Prokurist bei einer Öl-Firma, aber er kennt noch Spielzüge von Fußball-Clubs, die es heute gar nicht mehr gibt. Und eben diese Distanz zum Gegenstand seiner Kenntnis zeichnet den wahren Kenner aus. Der Kenner ist nämlich kein Profi, er ist nur Kenner. Som­melier oder Weinbauer, das sind die Profis, der Weinkenner hingegen ist Politiker oder Unternehmensberater oder Werber. Kennerschaft ist heute ein ganz wichtiges Modeaccessoire. Kennerschaft ist Ausweis der Individualität und der Zugehörigkeit.
Wer sich mit seiner eigenen Kennerschaft zusammen tut, kommt halt über die Kennerschaft nicht hinaus. Im Kostümchen oder in genagelten Schuhen, geschmückt mit den neuesten Meinungen und Rankings, schlendert die Kennerschaft über den Kunstmarkt und kennt alles schon. Hier, auf der Suche nach dem ständig Neuen, begegnet sie dem Problem, alles schon zu kennen. Beleidigt hockt sich die Kennerschaft dann in die Lounge des Kunstmarktes und beweist sich durch Kenntnisse. Und so langweilt sich das Neue mit dem immer Neuen.
Das Problem der Kennerschaft ist, dass sie sich auskennt. Sie kennt immer alles schon. Das verstellt den Blick. Die Kennerschaft ist ungeschickterweise auf Kenntnisse angewiesen, was sie naturgemäß ins Hintertreffen und in ständige Beweisnot bringt. Denn immer wird es einen noch kenntnisreicheren Kenner geben. Daher: Kenner wissen, Künstler aber sehen. Der Satz hätte mir gestern einfallen müssen. Vielleicht wäre dann noch was zu retten gewesen.

Und genau dieser Unterton, in dem ansonsten nichts sagenden Satz, lässt aufhorchen. In diesem Unterton formuliert sich ein Markt und meldet Rechte an. „Das kenn’ ich schon, das hat’s ja schon gegeben …“ ist das Gegröle auf den Tribünen, das gelangweilt nach immer noch mehr weißen Elefanten verlangt. So klingt eben der Markt, egal ob es der Aktienmarkt oder der Kunstmarkt ist. Der Marktplatz ist ordinär und profan.
Und hier zeigt sich das ganze Dilemma mit dem Neuen. Der Wunsch, oder besser die Forderung nach dem Neuen kommt ja nicht aus der Kunst, sondern vom Markt. Der Markt will das Neue. Die Kunst ist aber eben gerade nicht der Produzent eines Produktes namens Idee oder Das Neue. Die Kunst ist überhaupt kein Produzent. Von gar nichts. Die Kunst ist eine Auseinandersetzung. Eine fortlaufende Auseinandersetzung mit der Zeit, geführt von den verschiedensten Personen in einem immerwährenden Prozess. Die Kunstwerke sind entsprechend Einträge in ein Archiv der Zeit. Keine Produkte. Das muss den Markt irritieren.

Die Kopfschmerzen sind heute ausgesprochen hartnäckig. Und wieder habe ich dieses eigenartige Gefühl, wie gestern Abend, mich auf der spaßabgewandten Seite der Diskussion wiederzufinden. Mit meiner versuchten Entlarvung und Entzauberung des Neuen habe ich mir wieder dieses sauertöpfische Parfüm, das so penetrant nach Höherem riecht, aufgetragen. Als wäre ich auf dem Gehsteig in den alten Satz vom Wahren, Schönen, Guten getreten. Aber manchmal muss man sich selbst aushalten. Auch die Kunst muss sich selbst aushalten.

Zurück zum Marktplatz des Neuen: Die Konkurrenz schläft nicht. Trotz Kopfschmerzen wage ich einen Blick in die Zeitung: Klimakatastrophe (eines der ältesten aktuellen Themen unserer Zeit), Knut, das Berliner Eisbärbaby (Eisbären gibt es seit Millionen von Jahren), Gefängnis für ehemalige Glanzlichter wie GAK (oder war es Sturm?)-Präsident Kartnig und den Herzpatienten Elsner (an die wird man sich bei Erscheinen dieser Ausgabe nur noch dunkel erinnern können). Das ist der Marktplatz, auf dem das Neue sich bewähren muss. Hier hat das Neue seinen Wert an sich, auch ohne Inhalt. Wer sich auf den Marktplatz begibt, muss sich auch die hier herrschenden Spielregeln gefallen lassen. Ohnehin ein Ort mit strengen Regeln, alle haben gute Laune, jonglieren mit ihren Hoffnungen, spekulieren auf das Glück; ein Ort munteren Treibens. Hier wird alles gehandelt, lauter Neuigkeiten. Seit zweihundert Jahren hat die Kunst versucht, sich der Verwirtschaftlichung zu entziehen. Mit der Forderung nach dem Neuen zwingt sich die Kunst wieder unter die Dominanz der Marktgesetze. Interessant wäre allerdings ihre Antwort auf die Frage der eigenen Verwirtschaftlichung.

Nein, ich habe keine Forderungen an die Kunst zu stellen, schon weil ich sie selbst nicht erfüllen könnte, ich will der Kunst nur beim Sehen zusehen. Der Kunst sind keine Forderungen zu stellen, sie ist wie ihre Zeit. Und was der Zeit ohnehin fehlt, das lässt sich nicht von der Kunst erfüllen oder ersetzen. Ich habe von der Kunst nichts zu wollen. Warum sollte sie politisch sein, wenn das nicht einmal mehr der Politik gelingt? Warum sollte sie Spaß machen, wenn das Spaß ist, was man uns (und durchaus auch wir uns) als Spaß vorsetzen? Und warum sollte sie neu sein, wenn keiner darin Neues sieht, sondern in seiner Kennerschaft, alles schon mal gesehen zu haben, verharrt? Und letztlich, warum sollte Kunst unwirtschaft­lich sein, wo doch alles wirtschaftlich ist? Die Frage ist müßig, ob Subventionen oder Spekulanten schlechte Kunst produzieren, denn – ich habe es oben glaube ich schon einmal erwähnt – Kunst ist kein Produkt, kann also auch nicht produziert werden. Das Geld jedenfalls macht die Kunst nicht schlecht, sowenig wie kein Geld die Kunst gut macht. Denn Kunst und Markt sind zwei so unterschiedliche Wirklichkeiten, dass eine Paarung nur schwer vorstellbar ist. Und doch beobachten wir gerade derzeit das genaue Gegenteil. Brunftzeit! In ihrer aus allen Poren tropfenden Potenz fällt die eine Wirklichkeit über die andere, gierig schmachtende her; Kunst-Boom ist die Schlagzeile dazu. Aber: „Halt! Das kenn’ ich schon, das hat’s ja schon gegeben.“
Und in manch seltenen Momenten begegnet einem dann doch ein Kunstwerk, das ein Fenster öffnet, den Blick frei gibt in die Welt hinaus. Ein solches Kunstwerk möchte ich dann gerne ein Stück Weges begleiten und gleich ihm ein Flaneur durch die Zeit sein. Wo ist mein Aspirin. Jetzt bin ich doch ziemlich genau bei 11.200 Anschlägen angelangt, sonst hätte ich Ihnen gerne noch das Stück und den hoffnungsvollen Regisseur verraten, die gestern Abend eine langjährige, tiefe Freundschaft vernichteten.

 

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