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Glockenmoid mit Pagenkopf

Die Komponistin Maria Hofer starb 1977 in Kitzbühel. In der Zwischenkriegszeit arbeitete sie für die legendäre Universal-Edition, lebte im Haus des Verleger-Ehepaares Hertzka und war mit der Elite der Kunstwelt auf Du und Du. Thomas Nußbaumer setzt Fragezeichen hinter die Lebensgeschichte einer Wiederentdeckten.

I.

„St. Helena ist eine Insel im nördlichen Atlantik. Auf diese Insel wurde einst mit der ‚Großen Flut‘ neben vielen unwesentlichen Alt- und Neoperiöken eine Frau mit dem späteren Beinamen Magna Mater Organum Helenensis verschlagen; aber die Helenianer haben sie weder in ihrer menschlichen, noch in ihrer geistigen Bedeutung erkannt. Vielmehr blieben sie konsequent und hartnäckig in der musikalischen Finsternis des Glatt-und-Verkehrt lautstarker Blas- und verkitschter Folkloremusik …“ [Hugo Bonatti: St. Helena (Die Periöken). Eine Chronik. In Memoriam M. H. Dublin – New York – Vienna: Edition MO­SAIC 1998, S. 366]

In wesentlich drastischeren Worten als im eben zitierten „Resümée“ seines Romans St. Helena (Die Periöken) beschreibt Hugo Bonatti, der in Kitzbühel lebende Schriftsteller, Schüler, Freund und Nachlassverwalter der Komponistin Maria Hofer, in einem Interview die Endphase einer offenbar gescheiterten Künstlerexistenz: „Und 1977 ist sie eben dann – gestorben an Alterskrebs, ziemlich gelitten noch, und das war die Zeit, wo sie mir zweimal gesagt hat, ‚Jetzt habe ich wieder viel vernichtet!‘ und ich habe sie beschworen, Maria – , alles Dreck‘ hat sie gesagt, alles Dreck. Sie wollte von diesen komplizierten Sachen […] nichts mehr wissen. Und da sind sehr sehr wertvolle Sachen offensichtlich vernichtet worden. Es ist wirklich ein Kapitel zum Heulen! Zum Heulen, aber ihre Enttäuschungen, ihre Frustration, das war einfach so groß“.
Maria Hofer, in Bonattis künstlerischer Überhöhung eine Angehörige der „Periöken“ – also jener den alten Spartanern untergeordnete, zweitklassige Bevölkerungsgruppe ohne sozialen Anschluss und politische Rechte –, wurde mit der „Großen Flut“ der vor den Nationalsozialisten Flüchtenden und Untertauchenden im August 1939 nach Kitzbühel – Bonattis „St. Helena“ – geschwemmt. Verfolgt man ihren Lebenslauf, muss man feststellen, dass sie in Kitzbühel gestrandet ist, in jenem provinziellen Kitzbühel vor Toni Sailer, dem sie nie mehr wieder entkam – oder gar nicht entkommen wollte? –, wo sie ihre Talente weitgehend nicht entfalten konnte und wo man sie auch nicht wirklich verstand. Die Kitzbüheler verliehen ihr keineswegs den Beinamen „Magna Mater Organum Helenensis“, wie Bonattis lyrisches Ich, ein ebenfalls in der Provinz völlig unverstandener Seelen­verwandter Maria Hofers (im Roman: „Maria Höfers“), behauptet, sondern verpassten ihr den Übernamen „Glockenmoid“ – anspielend auf ihre Kompositionen für Glockenspiel und ihre in der Stadt weitum hörbaren Improvisationen auf diesem skurrilen Instrumentarium.
Die Verfinsterung ihres Gemütszustandes, die die 83-jährige und schwerkranke Frau dazu trieb, wesentliche Teile ihres kompositorischen Nachlasses – hauptsächlich Werke ihrer bedeutenden Schaffensphase der dreißiger und vierziger Jahre – zu vernichten und ihre über weite Strecken wenig sagende, simple Gebrauchsmusik der späten Jahrzehnte zu ihrer eigentlichen Kunst zu erklären, ist eines der Rätsel in ihrer Lebensgeschichte.
Was hinterlässt sie uns? Zuvorderst großartige Musik, die im Vorjahr unter der Leitung des aus Kitzbühel stammenden Dirigenten Bernhard Sieberer auf CD eingespielt wurde (Maria Hofer. Totentanz. RCR Nr. 0543): eine elegische Ballada für Violoncello mit Klavierbegleitung (Erstfassung für Cello und Orgel), eine wuchtige, architektonisch meisterhafte Toccata für Orgel (publ. 1937), einen packenden Totentanz nach Motiven von Albin Egger-Lienz für großes Orchester (UA 1947), eine von exzessiver Motorik geprägte Toccata für Klavier mit dem Titel Die Maschine (publ. 1947), Bühnenmusik und anderes mehr – alles Musik auf der stilistischen Höhe ihrer Zeit, der Avantgarde des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts verpflichtet, in Verwandtschaft zu Schönberg, Berg, Reger, Strawinsky und den französischen Impressionisten, aber dennoch sehr eigengeprägt. – Dem gegenüber steht ein Torso von Hinterlassenschaft in Kitzbühel, geschmälert um etliche als „komplizierter Dreck“ abqualifizierte Werke – darunter angeblich zwei um 1940 geschriebene Akte einer Andreas Hofer-Oper, ein Violinkonzert, ein Klavierkonzert, ein Quintett und ein Quartett –, dafür hunderte Notenblätter mit einfachsten Bearbeitungen von alten und neuen geistlichen Liedern, Volksliedern und Instrumentalstücken des 16. Jahrhunderts und selbst komponierte Messen, Orgelstückchen und Lieder im Volkston. Als „Autoaggression“ deutet die Historikerin Corinna Oesch, Hofers Biografin (Die Komponistin Maria Hofer. Auto/Biografie und Fotografie, Diplomarbeit, Universität Wien, 2005) die Vernichtung möglicherweise glanzvoller Werke der Wiener Zeit, als Autoaggression würde ich allerdings auch Hofers künstlerische Selbstkasteiung und ausschließliche Hinwendung zu kirchlicher Gebrauchsmusik und Trivialitäten wie Vier Variationen über das Thema ‚O hast du noch ein Mütterlein‘ (ein einst beliebtes rührseliges Volkslied) für Trompete von 1950 bezeichnen – obwohl ich andererseits verstehe, dass der Niederösterreicherin bzw. Wienerin, die ja unbedingt eine Tirolerin werden wollte, nichts anderes übrig blieb, als sich den damaligen Kitzbüheler Verhältnissen anzupassen.
Dennoch fesselt uns das ungewöhnliche Leben und Werk dieser Frau, weil sich darin die tragische Geschichte Österreichs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert spiegelt: der Niedergang eines kulturoffenen Vielvölkerimperiums und sein Abstieg zur provinziellen Alpenrepublik, mündend in der Katastrophe des Nationalsozialismus. So verlief auch das Leben Maria Hofers: zunächst aufstrebend als Künstlerin in den inneren Zirkeln des Wiener Musiklebens, dann zerbrechend und schikaniert im Nationalsozialismus und schließlich aufgerieben in einem Nachkriegs-Provinzkaff.

II.

„Hier haben wir es mit einer großen, ernsten Künstlerin zu tun, mit einer, die nicht dem rauschenden Erfolg zustrebt, einer, die in stiller Stetigkeit Passacaglien und Tokkaten dichtet und ausgerechnet in einer Kirche konzertiert, wo dem begeisterten Publico bloß stiller Beifall ziemt. In ihren kleineren Orgelstücken zeichnet sie Tonbilder von der Art verklärter Beuroner-Kunst, herbe Schönheit umfängt unsere verspielte Seele, archaistische Klanggebilde entrücken uns heutigen Stimmungen. Wo die Geige oder die menschliche Stimme der Orgel sich gesellt, sind auch sie, abseits von den Wegen billiger Aufgeputztheit, selbstloser Diener eines höheren Kunstzweckes.“ [Konzert­rezension, Musikleben, Mai 1932, Heft 5, S. 15]

Maria Hofer wurde am 6. Juli 1894 in Amstetten als Tochter des Michael Hofer, später k. k. Oberrechnungsrat in Wien, und seiner Frau Albertine, geb. Lindemann, beide aus Niederösterreich bzw. Wien stammend, geboren. In späteren Jahren, als sie gerne eine Tirolerin gewesen wäre, lancierte Hofer das Gerücht, sie sei „versippt mit dem alten Tiroler Bauerngeschlecht der Hofer“ und ein Kind „urtirolischer“ Eltern.
Bald übersiedelte die Familie, der auch noch Marias um sechs Jahre älterer Bruder Stefan angehörte, nach Wien. Mit acht Jahren erhielt Hofer neben Klavier- auch Orgelunterricht und leistete schon zwei Jahre später gelegentlich Organistendienst. Entweder am Wiener Konservatorium oder privat erhielt sie Unterricht von Ernst Ludwig und dem aus Deutschland stammenden Komponisten Hermann Graedener. Sie inskribierte sich an der k. k. Akademie der Tonkunst in Wien, absolvierte 1913 die Lehrbefähigungsprüfung für Klavier und verdingte sich bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs als private Klavierlehrerin in Wien und Budapest.
1916 begann sie ihre Karriere als Konzertpianistin und Organistin, und zwar mit einem „Mozart-Abend“ am renommierten Wiener Konzerthaus. Nachgewiesene 14 Auftritte absolvierte sie zwischen 1916 und 1919 am Konzerthaus. Im Januar 1917 spielte sie erst­­mals heute nicht mehr bekannte eigene Werke im Rahmen eines Gesang- und Klavierabends. Am 14. April 1919 begleitete sie Karl Kraus, der aus Shakes­peares King Lear las, mit Werken von Bach und Reger, 1922 / 23 unternahm sie eine Benefizkonzert­tournee nach Skandinavien zugunsten notleidender Kinder in Wien, und 1926 gab sie Konzerte an der Schubertorgel in der Liechtentaler Kirche, die ihr u. a. folgende schmeichelhafte Kritik einbrachten: „Bewundernswert ist die Technik der Organistin; ein tadelloses Legato mit haarscharfen Tongrenzen, volle Selbständigkeit der Stimmen, größte Präzision des Akkordspiels und des Rhythmus“. Wohl 1926 war auch das schicksalhafte Jahr, in dem sie die um 21 Jahre ältere Yella Hertzka (1873 – 1948), Leiterin einer Gartenbauschule, Frauenrechtlerin, Präsidentin des „Neuen Wiener Frauenklubs“, führende Vertreterin der österreichischen Sektion der „Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit“ (IFFF) und Ehefrau von Emil Hertzka, dem Direktor der 1901 gegründeten Universal-Edition (UE), kennen lernte. Hertzka „war eine sehr zupackende Frau“, schreibt der Komponist Ernst Krenek (1900 – 1991) in seiner Autobiographie Im Atem der Zeit, „mit gewissen männlichen Eigenschaften, geschäftstüchtig, obgleich etwas konfus, betont feministisch eingestellt und für alle fortschrittlich erscheinenden Ideen offen.“ Das Markenzeichen der Universal-Edition, die sich als selbstbewusst österreichische Konkurrenz zum deutschen Musikverlagswesen verstand, war das Verlegen zeitgenössischer Musik. Schönberg, Berg, Webern, Krenek, Milhaud, Bartók … – sie alle publizierten ihre unverstandene, später als „entartet“ diffamierte Musik bei der UE und pflegten auch teils intensive Kontakte zum Verlagsdirektor und zu seiner charismatischen Frau. In der Kaasgrabengasse 19 in Mödling besaßen die Hertzkas ihr Anwesen, und zwar inmitten einer vom Architekten Josef Hoffmann als Wohn- und Begegnungsraum konzipierten „Künstlerkolonie“, in dem neben den Hertzkas Künstler, hohe Beamte und Gelehrte lebten. In dem der Gartenbauschule Yella Hertzkas angeschlossenen Park fanden Gartenfeste statt, zu denen die führenden Persönlichkeiten des Musiklebens geladen waren. Hier lebte förmlich noch das großartige Fin de Siècle, hier besaß Wien noch etwas vom Glanz einer untergegangenen Epoche – und hier spürte man dennoch den „Atem der Zeit“.
In dieses Ambiente wuchs Maria Hofer nun hinein. Nicht nur, dass sie bei der Universal-Edition ihre ers­te Anstellung als Lektorin erhielt, sie durfte sogar in die Hertzka-Villa einziehen und als eine Art Gesellschafterin Yella Hertzkas deren mondänes Leben teilen. „Bei den Hertzkas“, berichtet Krenek weiter, „wohnte eine große, ziemlich attraktive Frau namens Maria Hofer, die gleichfalls mit männlichen Zügen ausgestattet war. […] Diese Maria engagierte sich für katholische Angelegenheiten, spielte Orgel (man hatte im Haus ein Instrument für sie gebaut) und komponierte Musik, von der ich nichts kenne.“
In den Jahren 1926 – 1938 stand Hofer am Höhepunkt ihres Lebens. Einige Fotos aus ihrem lückenhaften Nachlass vermitteln Eindrücke dieser bewegten, glücklichen Zeit: Maria Hofer, eine 1,83 m große, dunkelhaarige Frau in Abendgardarobe vor einem ihrer Konzertauftritte, ein andermal mit modischer Pagenkopf-Frisur, dann wieder ernsten Blicks an der laut Krenek für sie angeschafften Hausorgel der Hertzkas und dann mit modischer Haube am Steuer eines ausgeliehenen Cabriolets Marke „Horch 830 BL“ (Hofer besaß seit den zwanziger Jahren den Führerschein). Sie war nicht nur Yella Hertzkas Chauffeuse, sondern auch ihre Reitpartnerin. Für mich sinnbildhaft ist jenes Foto, auf dem die beiden Frauen hoch zu Ross über ein Hindernis springen, in einer synchronen himmelwärts stürmenden dynamischen Bewegung, die kleine Hertzka mit aufrechtem Oberkörper und den Sprung vorbildlich hoch ansetzend, die große Maria Hofer etwas vornüber gebeugt und bemüht, das Hindernis nicht zu touchieren.
Hofer war laut Krenek eine Frau, die „gleichfalls“ – also wie Hertzka – „mit männlichen Zügen ausgestattet“ war, und er fügt dieser Beobachtung vielsagend den nicht zu Ende formulierten Satz hinzu: „Die Schlußfolgerung lag auf der Hand“ – nämlich jene, dass Hofer Hertzkas Geliebte war. Zwar lässt sich dies nicht beweisen, doch fällt auf, dass die beiden  – besonders nach Emil Hertzkas Tod im Jahr 1932 – meist als Paar auftraten, z. B. gegenüber Friederike Zweig-Winternitz und Stefan Zweig, und Hertzka die Freundin auch in Briefen und Postkarten, z. B. an Helene und Alban Berg, durch das verbindende „Wir“ mit einschloss. Jedenfalls erfuhr die Beziehung zwischen den beiden, die zumindest als „Freundinnenschaft“ (Oesch) zu bezeichnen ist, noch dadurch Festigung, dass Hofer für die UE, deren Aufsichtsrat Yella Hertzka ab 1932 angehörte, arbeitete, in der UE publizierte und als konzertierende und komponierende Künstlerin wohl von den Kontakten der Freundin profitierte.
Hofers Karriere als Komponistin ist auch im Kontext der damals sich entwickelnden Komponistinnenszene in Wien zu sehen: Immer mehr Frauen aus dem gebildeten Bürgertum versuchten, meist in diesem Bemühen wenig ernst genommen, sich auf dem bislang primär den Männern vorbehaltenen Feld des Musikschreibens zu profilieren. Bekannt ist, dass Arnold Schönberg eine „Marktlücke“ nutzte, indem er 1904 an der „Schwarzwaldschule“ und später an seinem „Seminar für Komposition“ (Vorläufer des berühm­ten „Vereins für musikalische Privataufführungen“) hauptsächlich Frauen in Musiktheorie und Komposition unterrichtete. Auch Maria Hofer behauptete später, von Schönberg (bzw. laut einer anderen Version ihres Curriculum Vitae von Alban Berg) unterrichtet worden zu sein.
Folgt man den Wiener Rezensionen der dreißiger Jahre, so ragte Hofer unter den zeitgenössischen Komponistinnen, etwa des „Clubs der Komponistinnen“ oder des „Neuen Frauenklubs“, durchaus hervor. „Wenn Maria Hofer nur diese Passacaglia [in c-Moll] geschrieben hätte, ihr Name dürfte in der Orgelliteratur nie mehr vergessen werden“, schwärmte ein Musikkritiker 1932 im Anschluss an ein Hofer-Konzert in der Stadtpfarrkirche „St. Othmar unter den Weißgerbern“ im 3. Wiener Gemeindebezirk. Die Passacaglia zählt aber leider zu jenen Werken, die Hofer später wahrscheinlich vernichtete.
Das Streben nach „edler Einfalt und stiller Größe“, einem „klassischen“ Ideal, war jedoch, ohne dass Hofer dies so deutlich ausgesprochen hätte, auch in dieser Phase der Brillanz klar zu erkennen. Hofer wollte, wie man ihren Äußerungen vor 1938 entnehmen kann, ernst genommen werden und als Komponistin kein „Circusobjekt“ darstellen. Wohl auch aus diesem Grund bediente sie sich bevorzugt der „königlichen“ Orgel und stellte sich selbstbewusst dem Publikum.

III.

„Kitzbühel war eines der Nazizentren Österreichs. Es heißt[,] daß nur ein halbes Dutzend bei der sogenannten Volksabstimmung 1938 mit ‚Nein‘ stimmten und die kannte man natürlich. Zu diesen gehörte der Rechtsanwalt Dr. Zimmeter. Zu diesen gehörte die Familie Sailer. Zu diesen gehörte auch meine Mutter. Daß Maria Hofer zu ihr zog, besserte den Ruf der beiden im Sinne des Naziregimes keineswegs. Sie wurden mit all den Bosheiten und Provokationen verfolgt, deren Leute fähig sind[,] die sich politisch abgesichert wähnen.“ [Kurt Welwert, „Zwei vergessene Widerstandskämpferinnen“, unpubl.]

„Die Machtübernahme der NS unterbrach meine Laufbahn. Ich wurde als bekannte ‚Pazifistin‘ in Wien verfolgt. Als Komponistin der ‚Friedenshymne‘ und als ‚Judenfreundin‘ – der Verlag U. E. wurde als ‚Judenverlag‘ auf den Index gestellt – wurde auch ich ‚abgeschrieben‘.“ [Maria Hofer, „Curriculum Vitae“, unpubl.]

Yella Hertzka ahnte wohl schon 1937 die Katastrophe, die sie als Jüdin treffen würde, und begann sich darauf vorzubereiten. Zunächst löste sie die Gartenbauschule am Kaasgraben auf, und bald nach dem „Anschluss“ am 13. März 1938 schenkte sie Hofer ihr Gartenhaus, um es vor der Arisierung zu schützen und die Freundin zugleich mit einer finanziellen Grundlage auszustatten (abzufertigen?). Angeblich auf Vermittlung von Hofer heiratete sie einen tschechischen Cousin namens Taussig, um sich mittels der tschechischen Staatsbürgerschaft dem Zugriff der Nazis entziehen und nach London emigrieren zu können, wo die Universal-Edition vorsorglich eine Zweigstelle gegründet hatte.
Maria Hofer ging zunächst mit nach London und hielt sich dort zwischen dem 17. Dezember 1938 (Abmeldung aus Wien) und dem 5. August 1939 (Anmeldung in Kitzbühel) auf. Was in diesen Monaten zwischen den beiden vorging, ist nicht bekannt. Man kann sich vorstellen, dass Hofer wohl gerne an der Seite der Freundin geblieben wäre, doch diese konnte (oder wollte?) ihr nicht mehr helfen. Angeblich wurde Hofer 1939 aufgrund ihrer reichsdeutschen Staatsbürgerschaft des Landes verwiesen.
Doch offenbar hatte auch sie schon Vorkehrungen getroffen, denn das Abtauchen nach Kitzbühel war gut eingefädelt. Warum aber gerade Kitzbühel, das „Nazizentrum“? Der Grund lag in einer anderen „Freundinnenschaft“, die auf das Jahr 1936 zurückging. Kitzbühel nahm zu jener Zeit als Tourismusort Aufschwung und lockte Prominenz und Reiche – so auch die im Luxus lebende Maria Hofer – an. Sie, die sich laut Krenek „für katholische Angelegenheiten [engagierte]“ und auch ihm dereinst „ein spanisches Kreuz“ aus dem 17. Jahrhundert geschenkt hatte, be­geisterte sich für Artefakte des Volksglaubens, insbesondere des alpenländischen. Die Schwärmerei für das Alpine führte die in Kirchberg urlaubende Großstädterin ins benachbarte Kitzbühel und dort in den Antiquitätenladen der Elsa Welwart (1892 – 1962). Welwart (bis zu ihrer Namensänderung: „Welwert“) stammte aus Silberbach im heutigen Tschechien, lebte zunächst in Wien und ab 1924 mit ihrem jüdischen Mann Benjamin und ihrem Sohn Kurt in Kitzbühel. Seit der tödlichen Erkrankung ihres Mannes leitete sie sein Antiquitätengeschäft. Aus dem Verkaufsgespräch entwickelte sich eine Freundschaft, die dem damals sechzehnjährigen Sohn Kurt später das Leben rettete: Aufgrund von Hofers Kontakten zur „Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit“, in der Yella Hertzka, wie erwähnt, führend mitwirkte und für die Hofer eine Friedenshymne komponiert hatte, gelang es 1938, den jungen Mann, der ja als „Halbjude“ galt, außer Landes zu schaffen. Auch zu dieser Aktion wurde Hofer laut den erhaltenen Straf­akten später von der Gestapo einvernommen.
Aus Dankbarkeit und Hilfsbereitschaft lud die alleinstehende Elsa Welwart sie ein, in ihrer „Villa Billiter“ in Kitzbühel einzuziehen. Hofer ließ sich einen Flügel kommen und wollte zunächst wohl nur die politische Entwicklung abwarten. Wenngleich sie – im Gegensatz zu ihrer späteren Darstellung – nicht eine „Verfolgte“ im eigentlichen Sinn war, tat sie doch gut daran, Wien zu meiden. Wahrscheinlich war sie damals am Boden zerstört, denn sie hatte mit einem Schlag alle ihre Freundinnen und Freunde in Wien verloren, da bis auf eine Familie alle Bewohner der Künstlerkolonie am Kaasgraben aufgrund ihrer jüdischen Zugehörigkeit geflohen waren.
Doch es kam noch schlimmer. Am 26. Juni 1941 zeigte eine gewisse Margarethe Lamplmaier, Welwarts Untermieterin, die zwei Frauen wegen Lebensmittelhamsterei, Abhören von Feindsendern und Führerbe­leidigung bei der Gestapo an. Die beiden wurden ver­haftet und in ihren Wohnräumen fand man „erhebliche Mengen bezugsbeschränkter Lebensmittel“. In den illegalen Lebensmittelhandel waren ca. fünfzig Personen aus Kitzbühel und Umgebung involviert. Die Funktion Hofers und Welwarts bestand darin, Verbindungen zu den Großstädten her­zustellen. Gegen Geld und Gastrecht belieferten die beiden ihren Bekanntenkreis in Wien, München, Berlin und Dresden. Unter den Kunden fanden sich Juden genauso wie Personen aus dem Umfeld der NS-Prominenz.
Hofer und Welwart konnten von Glück reden, dass die Anklagen wegen Feindsenderabhörens und Führerbeleidigung – zwei Vergehen, die sie unter Umständen ins Konzentrationslager oder an den Galgen gebracht hätten – nicht erhoben wurden. Doch wegen des Verstoßes gegen die „Verbrauchsregelungsstraf-Verordnung“ fassten sie je acht Monate Haft sowie eine Geldstrafe von 800,– Reichsmark aus. Es erfolgte ihre Überstellung in die Haftanstalt Innsbruck. Im November 1941 wurde ihnen eine einmonatige Haftunterbrechung gewährt, um die von Welwart gepachtete und Hofer mitbewohnte Wohnung zu räumen. Nach Kitzbühel zurückgekehrt stellten sie fest, dass Wertgegenstände abhanden gekommen waren. Hofer behauptete nach dem Krieg wiederholt: „In meiner Abwesenheit aus Kitzbühel ‚verschwanden‘ alle meine Manuskripte. Ebenso ‚verschwanden‘ wert­volle Briefe von Werfel, Zweig, Schönberg, Mahler, kurz, alles was für heute einen unersetzlichen Verlust bedeutet.“ Dem von den Rechtsanwälten beim Reichs­justizministerium eingebrachten Gnadengesuchen wegen des schlechten Gesundheitszustandes der beiden Delinquentinnen wurde am 8. April 1942 statt gegeben, doch zu diesem Zeitpunkt war die Haftstrafe bereits abgesessen.
Nach dem Krieg allerdings konstruierten Hofer und Welwart eine geschönte Fassung der Geschichte der Ursachen und Umstände ihrer Haft. Den Grund der Verurteilung – Lebensmittelhamsterei – verschwiegen sie, statt dessen übermittelten sie dem nach dem Krieg aus dem Exil zurückgekehrten Sohn Kurt Welwert die Legende von der Verfolgung aus politischen Motiven und Widerstand. Nicht das Gnadengesuch ihrer Anwälte hätte ihre Strafminderung bewirkt, sondern Hermann Göring selbst, angeblich unter dem Einfluss seiner Schwester Paula Hueber, die mit Welwart und Hofer befreundet gewesen wäre. Sohn Kurt Welwert hielt diese Legende, an die er glaubte, in seinem Manuskript „Zwei vergessene Widerstandskämpferin­nen“ fest.
Die Realität sah anders aus. Hofer mochte aus all den Kalamitäten den Schluss gezogen haben, dass ihr das passive Zuwarten in Kitzbühel nichts brachte und dass sie nur überleben konnte, wenn sie sich als Künstlerin positionierte – und sei es selbst im nationalsozialistischen Reich. Am 28. Februar trat sie wieder im Wiener Konzerthaus auf und spielte eine Klavierfassung ihres Totentanzes, die sechs Klavierstücke aus ihrem Tiroler Tagebuch op. 11, zusammen mit einer Gesangspartnerin die sechs Orgellieder op. 17 sowie die Paraphrase für Orgel op. 27 über „Ich hatt’ einen Kameraden“ und weitere Orgelstücke. Es folg­ten Orgelkonzerte in Salzburg, wo sie dank ihrem einstigen Lehrer Josef Messner im kirchlichen Rahmen auftreten durfte, ferner spielte der Reichssender München nicht näher bezeichnete Kompositionen Hofers. Merkwürdig ist nur, dass fast alle Stücke, die sie in der NS-Zeit spielte, verschollen sind, vermutlich von Hofer vernichtet wurden, weshalb wir nicht in der Lage sind zu beurteilen, ob auch sie – wie viele Komponisten jener Zeit – unter großem Druck bemüht war, systemkonform zu komponieren, sprich: tonal und in Orientierung an „deutsche“ Formen des 17. bis 19. Jahrhunderts oder am Volkslied. Die Stücktitel ihres Tiroler Tagebuchs erwecken ganz den Eindruck der Anpassung: „Aufmarsch der Bauern mit der Sturmglocke“, „Wiegenlied am Spinnrad“, „Zwei Ländler“, „Bauernbegräbnis“, „Maschine“. Wer denkt hier nicht an ähnlich betitelte Produktionen Cesar Bresgens, des damals höchst erfolgreichen Hitlerjugend-Komponisten? Und was noch auffällt: In dieser Phase – und nur damals – versah Maria Hofer künstlerisch selbstbewusst ihre Werke mit Opuszahlen und enthob sie damit der Beiläufigkeit.

IV.

„Das hat ihr ja gefallen, wenn die Leute ‚Glockenhoferin‘ gesagt haben, oder ‚die Glockenmoid‘, das war ihr Markenzeichen da. […] Nur, wenn die Leute Glockenhoferin gesagt haben, haben sie im Hinterkopf etwas anderes gehabt, weil da gibt es so eine Erzählung, die Räuber vom Glockenhof. […] Das war bissig! […] Nur hat sie das natürlich nicht gewusst.“ [Gottfried Planer im Interview mit Corinna Oesch]

Der Krieg endete und Hofer nahm ihren Schwung mit über die Wende. Noch 1945 trat sie dem „Bund der Opfer nationalsozialistischer Unterdrückung in Tirol“ bei, organisierte in Kitzbühel das Auftragskonzert des Österreichischen Amts für Kultur und Wissenschaft „Pro Austriae Mortuis“ und komponierte – leider verschollene oder vernichtete? – Kerkerlieder für den genannten Opferbund. Und nur ein Jahr später wurde sie für ihr motorisch-energetisches Werk Toccata für Klavier (Die Maschine) mit einem Preis der Innsbrucker Musikfestwochen ausgezeichnet.
Und Yella Hertzka war wieder zurückgekehrt, suchte sogleich die Freundin in Tirol auf und startete ihren letztlich von Erfolglosigkeit geprägten Kampf um die Rückgabe ihrer Verlagsrechte und ihres Besitzes in Wien.
Doch zu dieser Zeit begann sich Hofers Lebenskurve unmerklich zu neigen. 1946 wurde sie in Innsbruck beim Franziskanerdurchgang von einem Fahrzeug der französischen Armee angefahren und zog sich eine schwere Beinverletzung zu, die sie für den Rest ihres Lebens behinderte. Hertzka, die nun zwischen London, Wien und Kitzbühel pendelte und wochen- und monatelang bei Hofer und Welwart wohnte, öffnete ihrer Freundin noch einmal neue Perspektiven. 1947 erfolgte die Aufführung der Normandie-Lieder in Salzburg, 1948 im Wiener Konzerthaus die Uraufführung von Hofers bestem Werk, dem Totentanz für großes Orchester durch das Tonkünstlerorchester unter Robert Wagner, im selben Jahr die Uraufführung der Kantate Cantabilia spiritualia. Hertzka, die zur öffentlichen Verwalterin der UE bestimmt worden war, beschäftigte Hofer, fast wie in alten Zeiten, als Lektorin, unterstützte sie finanziell und setzte sich dafür ein, dass in der Universal-Edition die Toccata für Klavier (Die Maschine), der Totentanz und die Zweitauflage von Weihnacht (nach einem Text von Richard Seyß-Inquart, dem Bruder des Nazipolitikers Arthur Seyß-Inquart, dessen Name aber nun gestrichen wurde), erscheinen konnten. Vielleicht dachte Hofer daran, nach der Klärung von Hertzkas Restitutionsfragen nach Wien zurückzukehren. Dort besaß sie noch immer Hertzkas ehemaliges Gartenhaus, in dem diese nun manchmal wohnte, wenn sie im zerstörten Wien um ihre Sache kämpfte.
Es gab noch einmal Momente der intensiven Kontakte mit der mittlerweile recht gealterten Hertzka und gemeinsame Fahrten nach Salzburg – und dann traf Hofer ein neuer Schicksalsschlag, der sie endgültig in die Sackgasse Kitzbühel verbannte: Yella Hertzkas plötzlicher Tod im November 1948 in Wien. „Ich lebe hier wie in Trance und kann das Geschehene immer noch nicht fassen!“, klagte Hofer. „Alles hier erinnert mich an die Tote – ja, ich fand noch Cigarettenreste, die sie noch von ihrem letzten Aufenthalt hier im Sep.[tember] zurückließ. Es ist namenlos quälend!“
1950 verkaufte sie ihr Gartenhaus in Wien, dessen Mieteinkünfte sie im Krieg über die Runden gebracht haben, und versuchte fortan, sich in der provinziellen Enge Kitzbühels zu etablieren. Da ein Auftrag für das Tiroler Landestheater in Innsbruck – die Bühnenmusik zu Alma Holgersens Stück Wir könnten gerettet werden – zu keinen weiteren Engagements in der Lan­deshauptstadt führte, begann Hofer, in ihrer nun endgültigen Heimatstadt neben dem schlecht bezahlten Organistendienst verschiedene Projekte zu organisieren. Ankauf eines 18-teiligen Glockenspiels für die Kitzbüheler Liebfrauenkirche als „klingendes Kriegerdenkmal“. Für die Heimkehrer und bei Beerdigungen spielte sie nun das Lied vom Kameraden, ferner schrieb sie Stücke für Glockenspiel, insbesondere ihre bekannt gewordenen „Tonmonogramme“, i. e. Musikstücke auf den vertonbaren Buchstaben eines Namen, und übte sich auch im Improvisieren. „Die ist hinauf, im Advent, mindestens zweimal, dreimal in der Woche um fünf Uhr abends, stockdunkel, und den Turm, […] das ist ein Abenteuer, dort hinaufzugehen“, erzählt der Kitzbüheler Gottfried Planer in einem Interview. „Dann hat sie gespielt, so ungefähr eine Stunde, dann ist sie natürlich blau vor lauter Kälte heruntergekommen“. Ungeachtet dessen, dass man ihre originellen Klangminiaturen für Glockenspiel in Kitzbühel weder verstand noch besonders schätzte, freute sich Hofer über den Übernamen „Glockenmoid“: „Ich freue mich über diese volkslogische Anerkennung.“ Die ebenso „volkslogische“ Assoziation „Räuber vom Glockenhof“ war ihr offenbar unbekannt.
Ein zweites Projekt, das allerdings nur anfänglich erfolgversprechend verlief, war die Begründung der „historischen Konzerte“ im Jahr 1951 im Hof der Kitzbüheler Bezirkshauptmannschaft. Gottfried Planer, Mitglied der Stadtmusikkapelle, erzählt im Interview mit Oesch: „Sie ist damit daher gekommen, alte Musik zu machen, und da hat sie sich ein paar Mitglieder der Stadtmusik gefangen […] was haben wir eine Ahnung gehabt, wie ein Krummhorn oder wie ein Gemshorn ausschaut oder – Posaune hat es allweil schon gegeben, aber die waren ganz anders gebaut […] und die Klarinette sollte einen Dudelsack vortäuschen […] und dann hat sie so ein Portativ gehabt.“
Hofer bearbeitete nun alte Stücke für Bläser und alte Instrumente wie Drehleier und Dudelsack und veranstaltete mit den Laienmusikern der Kapelle Sommerkonzerte. „Wenn sie schönes Wetter gesehen hat am Sonnberg“, erzählt Planer, „dann ist sie plötzlich in der Stadt gewesen und hat gesagt, ‚heute Abend ist historisches Konzert‘“. Doch die Bauern unter den Musikern waren „erschöpft von der Feldarbeit“, „die waren natürlich abends hundemüde“, und so kam das Projekt, nach zwei, drei Jahren zum Erliegen. Hofer scheiterte geradezu klassisch an den begrenzten Möglichkeiten und am mangelnden Verständnis. Freilich ließ sie eigene Kompositionen, geschrieben für ihre eifrigen, aber oft hundemüden Blasmusikanten, aufführen, doch sie kamen nicht gut an, denn sie waren – wie Planer so schön sagt – „aus der Weis“, also nicht eingängig, melodiös, und harmonisch zu anspruchsvoll. Daher steckte Hofer mit ihren Ansprüchen sukzessive zurück. Sepp Gasteiger, der langjährige Kapellmeister, erinnert sich: „Sie hat viel komponiert, mehr so barockmäßig, und die Sachen haben wir aufgeführt.“
Und schließlich unternahm Hofer auch Versuche in Richtung touristischer Musik und komponierte Heimatlieder wie das Hahnenkamm Skilied, „Wenn in Kitzbühel die Saison beginnt“ und die Musik zum Film Melodie auf Ski (1965 / 66). Dazu berichtet Corinna Oesch: „Eine Affäre um die Komposition dieser Werbefilmmusik kann als Sinnbild für Maria Hofers Idealismus und Scheitern an der rauen Kitzbüheler Realität verstanden werden: Maria Hofer trat von ihren Urheberrechten zurück und überließ diese der Skischule Kitzbühel, die den Film produziert hatte. Als sich die AKM einschaltete und Maria Hofer dar­auf hinwies, dass sie vertraglich gebunden sei und ihre Rechte gar nicht an einen Dritten weitergeben könne, wurde sie von der Skischule dazu gebracht, ihr Werk zu verleugnen und auszusagen, sie sei nur ‚beratend zur Verfügung‘ gestanden. Da hiermit von der AKM keine weiteren Aufführungen ihrer Werke mehr registriert wurden, galt Maria Hofer ab 1968 nicht länger als tantiemenbezugsberechtigte Komponistin.“
1962 verstarb Elsa Welwart, und Hofer vereinsamte und verarmte zusehends, handelte mit einfachen Mess­kompositionen und ihren Tonmonogrammen, die sie oft mehrfach verkaufte, alten Möbeln und Instrumenten. Zudem wuchs ihre Verbitterung. „Zeitweise hielt sie sich wochenlang in Obladis im Oberinntal, ich möchte fast sagen, verborgen“, erzählt Gottfried Planer. „Dann war sie wieder in Hopfgarten und kam nur kurz nach Kitzbühel. Sie war auf ihre alten Tage regelrecht heimatlos geworden.“

V.

„Ich gebe zu, dass ich bereits glaubte, diese verschiedenen Stücke könnten nicht von ein und derselben Person geschrieben worden sein, zumal auch die von mir als Meisterwerke betrachteten Stücke mit Ausnahme der Ballada für Violoncello und Klavier alle nicht in der Handschrift Maria Hofers erhalten sind. Klavier- und Orgel-Toccata sind bei der Universal-Edition gedruckt, der Totentanz ist in einer fremden Handschrift erhalten, Eintragungen in einer zweiten Handschrift dürften von Maria Hofer persönlich sein.“ [Bernhard Sieberer in: Booklet zur CD Maria Hofer. Totentanz. RCR Nr. 0543, S. 29f.]

Der Dirigent Bernhard Sieberer, wohl der beste Kenner des Werks von Maria Hofer, legte mir eine Liste der „Ungereimtheiten“ im Œuvre Maria Hofers vor. Die Musikwissenschafterin Milena Meller, die vor kurzem den in Kitzbühel erhaltenen Nachlass Hofers katalogisiert hat, spricht ebenso von den vielen Rätseln, die das Werk Hofers aufgibt, nicht zuletzt deshalb, weil aus den bekannten Gründen vieles fehlt. Etwas fassungslos ist Sieberer angesichts der großen Qualitätsunterschiede im Werk. Unter den vielen Belanglosigkeiten ragt besonders der Totentanz, laut Hofer 1942 im Anschluss an ihre Haftzeit komponiert, hervor, doch in der Tat ist er nur in einer Kopistenhandschrift der Universal-Edition erhalten. Die angebliche Urfassung für Klavier ist verschollen. Von den beiden Tokkaten existiert nur der Notendruck. Die UE ist derzeit nicht in der Lage zu erklären, wie die bei ihr erschienenen Partituren zustande kamen. Drängt sich der ungeheuerliche Verdacht auf, dass der Totentanz gar nicht von Hofer stammt? Denn wie war es möglich, ein derart ausgeklügeltes Werk, das durch die gekonnte Behandlung der Themen, das „versteckte“ Zitieren der gregorianischen „Dies-Irae-Sequenz“ in unterschiedlichen rhythmisch-metrischen Konstellationen, die Kontrapunktik und vor allem die beeindruckende Instrumentierung besticht, ohne Vorarbeiten zu komponieren? Nie vorher und nachher hat Hofer ähnliches zustande gebracht – oder wären die vernichteten Kammermusikwerke und Konzerte für Soloinstrumente und Orchester der Schlüssel zum Verständnis der Genese des Totentanzes gewesen? Man muss dem Zweifel an der Authentizität des Totentanzes ja auch entgegen halten, dass Hofers Korrektureintragungen in die fremde Handschrift nicht unerheblich, sondern, sofern es die Instrumentierung betrifft, essentiell sind. Und ferner gibt es in der Musikgeschichte genügend Beispiele für Komponisten, die nur wenige Male, manche nur ein einziges Mal, in der Lage waren, ihr kompositorisches Potential zu entfalten.
Doch abgesehen von den qualitativen Unterschieden zwischen den frühen und den späten Werken verblüffen stilistische Unterschiede auch innerhalb der Gruppe der früheren Werke. Der Totentanz unterscheidet sich hinsichtlich seiner Ausarbeitung sehr von der Orgeltoccata, die keine Toccata, sondern eine Fantasie mit Fuge darstellt (merkwürdig, dass Hofer sie mit „Toccata“ betitelte), und die berührende Ballada für Cello und Klavier weist stilistisch keine Ähnlichkeiten mit der Klaviertoccata Die Maschine auf, von der wir nicht wissen, ob Hofer sie überhaupt spielen konnte. Vom System her unterschiedliche Tempo-, Charakter- und Spielanweisungen in den einzelnen Stücken geben weitere Rätsel auf. Andererseits ist es für Komponisten und Komponistinnen jener Phase nicht ungewöhnlich, in verschiedenen Stilen zu schreiben – man ziehe als (freilich besonders extremes) Bei­spiel dafür Ernst Kreneks Œuvre heran –, und auch Maria Hofer schrieb in unterschiedlichen Stilen, wenn auch auf unterschiedlichem Niveau.
Die Zweifel an der Authentizität mancher Werke Hofers rühren teils daher, dass sie, wahrscheinlich aus Frustration wegen mangelnder Anerkennung über einen längeren Zeitraum hindurch, wie Hugo Bonatti annimmt, zur Übertreibung und zum Flunkern neigte. Ein Ausdruck ihres Geltungsbedürfnisses ist der von ihr angefertigte Stempel mit der Fantasie-Amtsbezeichnung „Kulturreferentin des Bezirkes Kitzbühel“, und manche ihrer Flunkereien sind legendär. Erst spät erhielt sie zu ihrer großen Genugtuung den Titel „Professor h. c.“.
Auf der Suche nach den Bindegliedern ihres unterschiedlichen Werks – ich kann mich hier in keiner Weise über ihre Sakralwerk, ihre vielen Messen, ihre unterschiedlichen Lieder äußern, weil sie noch im Archiv schlummern – darf eines nicht vergessen werden: Maria Hofer war in erster Linie „eine Improvisatrice“, wie Bonatti sagt, „wenn die mittendrin im Im­provisieren war, die Augen habm gebrannt!“ Vieles, was sie „komponierte“, erfolgte also nur für den Augenblick. Ein Beispiel dafür ist ihr Quasi-„Tonmonogramm“ für Glockenspiel über „Wolfgang Amadeus Mozart“, ihr großes Ideal: Es enthält keine einzige Note, sondern nur eine für die Nachwelt nicht brauchbare Verbalbeschreibung: „Diejenigen Buchstaben dieses Namens, die im Tonalphabet aufscheinen, also die Töne: f, g, a, g, a, d, e, a, werden verschiedentlich kompositorisch verarbeitet.“ Tonbandaufnahmen derartiger Improvisationen existieren und werden derzeit von Milena Meller digitalisiert. Die zur Lösung einer Reihe offener Fragen erforderliche detektivische Recherche wäre eine echte musikwissenschaftliche Herausforderung.

 

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