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Wozu Geisteswissenschaften?

Studienrichtungen und Institute werden aufgelöst, Förderungsmittel gestrichen und massive Forderungen nach mehr ökonomischer Effizienz erhoben: Es verstärkt sich insgesamt der Eindruck, dass Wissenschaften, darunter insbesondere die Geisteswissenschaften, zur Ware verkommen und beinahe nur mehr unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Ertragsleistung gesehen werden. Doch wie soll sich die Wertschöpfung der Geisteswissenschaften in finanziellen Erträgen messen und beurteilen lassen? Helmut Reinalter über Kultur als Sinnsystem.

Nicht selten wird der Standpunkt vertreten, auf den Luxus von wissenschaftlichen Disziplinen, die als „Orchideenfächer“ bezeichnet werden, könne man verzichten, weil sie keinen materiellen Gewinn und nur einen geringen Nutzen für die Gesellschaft bringen. Immer häufiger wird heute geklagt, dass die Geis­teswissenschaften in der Gesellschaft nicht die entsprechende Beachtung finden, die sie eigentlich aufgrund ihrer Leistungen verdienen würden. Zweifelsohne haben sie ein Akzeptanzproblem und Schwierigkeiten in ihrer Präsentation nach außen. Sie leiden unter bestim­mten Beeinträchtigungen, die z. T. von überholten Methoden, mancherlei Orientierungsfehlern bis hin zum Problem ihrer überspezialisierten Fehlinstitutionalisierung reichen. Geisteswissenschaf­ten bewegen sich grundsätzlich im Spannungsfeld zwischen Wissenschaftsanspruch und außerwissenschaftlicher Interessen, denn sie wollen auch der Humanität, der Bildung, der Lebenspraxis und der Eman­zipation in der Welt dienen.

Wie keine anderen Disziplinen sind die Geisteswissenschaften heute herausgefordert, ihre gesellschaftliche Bedeutung zu begründen. Dabei können sie als „Ideen­laboratorium“ neue Denksysteme und -modelle und den schon längst fälligen interkulturellen Vergleich in Forschung und Lehre entwickeln. Wie bedeutsam zeitgenössische Denkmodelle auch für lebensweltliche Anliegen sind, ist heute weitgehend unumstritten. Die Systeme des Denkens bilden gleichsam den Boden der Diskussion, den die Geisteswissenschaften fach- und fakultätsübergreifend zu führen haben. Die Geisteswissenschaften könnten als Kristallisationspunkt einer neuen Selbstverständnisses der Wissenschaften über ihre Rolle in der modernen Welt dienen. Ihre aktuelle Bedeutung zur Orientierung in komplexen Gesellschaften, ihre Aufklärungs- und Bildungsfunktion sowie ihre ethischen Grundlagen zu verantwortungsvollem Handeln in der Gesellschaft sind heute nach wie vor ungebrochen.

In diesem Zusammenhang von einer „Krise der Geisteswissenschaften“ zu sprechen, ist in gewisser Weise berechtigt, es bringt aber die Diskussion über sie im Prinzip nicht weiter, wenn nur lamentiert wird und sich Geisteswissenschaftler in die Resignation begeben. Angesagt sind eine gründliche Analyse der schwierigen Situation und die gleichzeitige Entwicklung von Ideen und Konzepten, wie man aus der angeblichen Krise wieder herauskommen kann. Genaugenommen stecken die Geisteswissenschaften eigentlich in einer doppelten Krise: einerseits werden sie durch hochschulpolitische Maßnahmen und einem utilitaristischen Ökonomismus bedroht, andererseits ist diese Krise auch in den eigenen Reihen feststellbar. Beide Szenarien hängen eng zusammen.

Bedeutung der Geisteswissenschaften

Es zählt heute zu den wichtigen Aufgaben der Geisteswissenschaften, eine Theorie der Kultur zu entwickeln, die in Bündelung der verschiedenen methodischen Ansätze das „Grundsätzliche“ klärt. Vorarbeiten dazu kommen aus verschiedenen Disziplinen, es fehlt aber nach wie vor eine differenzierte und interdisziplinär angelegte Synthese. Verschulung und eine Marginalisierung der Geisteswissenschaften sind Tendenzen, die diese wichtige Aufgabenstellung behindern und daher zu beseitigen wären. Da die Wissenschaften insgesamt verstärkt zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragen sollen, wie von der Öffentlichkeit gefordert wird, kommt hier den Geis­teswissenschaften ein besonderer Stellenwert zu, der häufig übersehen wird. Grundsätzlich sind die Geisteswissenschaften grenzüberschreitend, disziplinenübergreifend (Jürgen Mittelstraß), integrativ und dia­­logisch ausgerichtet. Sie sind eigentlich Reflexionswissenschaften, und ihre Bedeutung liegt vor allem in der Theoriebildung über historisch-kulturelle Wirklichkeiten, in der realitätsprägenden Kraft und in ihrer aufklärerisch-ideologiekritischen Funktion. Die Geisteswissenschaften sind in ihrem Programm einer aufgeklärten, reflexiven Moderne verpflichtet, auch gegen Argumente, die heute die Aufklärung und Moderne als angeblich gescheitertes Projekt grundsätzlich in Frage stellen. Zweifelsohne ist das Projekt der Aufklärung und Moderne unvollendet, trotzdem bleibt seine Bedeutung für die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft aufrecht.1 In der Aufklärung liegt der Ursprung der Moderne, deren Anfänge aber bis in die frühe Neuzeit zurückreichen.
Zwischen ihr und der Moderne gibt es einen engen Zusammenhang, zumal das Projekt der Aufklärung im Rahmen der Modernisierung gesehen werden muss. Die im 18. Jahrhundert geschaffenen Grundlagen der modernen Wissenschaft und Ökonomie, die im 19. Jahrhundert weiterentwickelt wurden, stellen heute offenbar irreversible Prozesse der Mechanisierung, Industrialisierung und Urbanisierung dar. Aufklärung und Moderne sind allerdings nicht unbedingt deckungsgleich. Die Aufklärung schätzt den Charakter der neuen Zeit z. T. falsch ein und kon­zipiert diese nach dem Modell der alten Welt als einen geschlossenen Kosmos mit Anfang und Ende, Einheit und Ganzheit, Sinn und Ziel. Das zwiespältige Verhältnis unserer Gegenwart zur historischen Aufklärung erklärt sich auch aus dem Spannungsverhältnis zwischen Modernisierung und Aufklärungsprojekt. Das Projekt der Aufklärung lässt sich zwar innerhalb der Modernisierung immer wieder beginnen, ob es aber abgeschlossen werden kann, ist fraglich. Eher ist die Aufklärung ein bis heute unvollendetes und aufgrund des spezifischen Charakters der Moderne vielleicht auch ein unvollendbares Projekt. In dieser Paradoxie liegt wahrscheinlich seine anhaltende Aktualität, mit der Erwartungen und Enttäuschungen verbunden sind. Aus ihr resultieren auch die verschiedenen Bemühungen, eine neue Aufklärung als Denkmodell gegen den Fundamentalismus zu entwickeln.

In diesem kritischen Verständnis von Aufklärung, das heute als „reflexive Aufklärung“ (Helmut Reinalter) verstanden wird, geht es um Aufklärungs- und Vernunftkritik und um neue Ansätze zu einer differenzierteren Betrachtungsweise der Aufklärung im Spannungsverhältnis zwischen Moderne und Postmoderne. Was im Hinblick auf den Fundamentalismus für die Geisteswissenschaften dringend erforderlich erscheint, ist die Konzipierung einer „reflexiven Aufklärung“, die die unverzichtbaren Grundlagen der historischen Aufklärung kritisch weiterentwickelt.

Geisteswissenschaften als Kulturwissenschaften

Ein neuer Problemkomplex ist heute durch die Diskussion über Kulturwissenschaften entstanden. Es geht hier im Wesentlichen um die Frage, inwieweit sich die Geisteswissenschaften als Kulturwissenschaf­ten verstehen können. Dazu zählt auch die schwierige Frage nach dem Verhältnis der Geisteswissenschaften zu den Naturwissenschaften. Zwar hat der Begriff „Kulturwissenschaften“ heute Konjunktur, aber das traditionelle Konzept der Geisteswissenschaften (ein Kampfbegriff aus dem 19. Jahrhundert) ist in Zeiten des raschen kulturellen Wandels und tief greifender globaler Veränderungen nicht mehr ganz überzeugend. Heute haben sich zwei Ansätze in den Kulturwissenschaften entwickelt: ein praktisch orientierter (berufliche Schlüsselqualifikationen) und ein methodologisch-theoretischer, der von einem umfassenderen Verständnis von Kultur ausgeht.
Schon seit einiger Zeit erfährt das Phänomen Kultur an den Universitäten einen erstaunlichen Aufschwung. In verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen ist eine Rück- bzw. Neubesinnung zu beobachten. Die Gründe für diese Renaissance sind verschieden. Meist sind es theoretische, wissenschaftsinterne Ursachen, aber auch lebensweltliche Bezüge und praktisch-be­rufs­­orientierte Interessen.
Auch mit der Globalisierung der Wirtschaft entwickelt sich parallel dazu ein verstärktes Interesse an Kultur, weil diese sich zunehmend mit kulturellen Unterschieden und vermehrt mit interkulturellen Kommunikationsschwierigkeiten konfrontiert sieht. Das starke Interesse an Kultur ist nicht nur auf den Bereich der Wirtschaft beschränkt. Ob diese Entwick­lung allerdings das Entstehen von Kulturtheorien beeinflussen kann, ist ungewiss. Die „kulturwissenschaftliche Wende“ vollzieht sich nicht nur durch administrative Vorgaben und ökonomische Zwänge, sondern reagiert auch auf einen inneren Innovationsschub der Wissenschaften. In diesem Zusammenhang sollte man sich allerdings von den Kulturwissenschaften die verloren gegangene Einheit nicht erhoffen, zumal die disziplinären Einheiten durch Anstöße von außen aufgebrochen wurden. Die dadurch gewachsene Internationalität ist nichts anderes als eine nachholende Normalisierung, die in den Naturwissenschaften schon längere Zeit als Standard gilt. Strukturell gibt es die Einheit durch den unausweichlichen Diskurscharakter der Kulturwissenschaften nicht mehr.

Kulturen als Sinnsysteme

Kulturen werden heute immer stärker als Sinnsysteme gesehen, die für Identitätsideologien einer Gesellschaft als Wert erscheinen. Der Kultur kommt als sinngebendes Symbolsystem einer Gesellschaft eine bedeutende Stellung im Bemühen um das Verständnis lebensweltlicher Erfahrungen und ihrer Konfliktproblematik zu. Innergesellschaftlich könnte man die Kulturwissenschaften, wenn sie im Grundsatz über bestimmte Zielsetzungen einig sind, als „Vermittlungsinstanz“ zwischen Universität, Lebens- und Arbeitswelt sowie Politik verstehen. Es geht dabei nicht um eine Ansammlung von Kursbüchern oder Fahrplänen, welche die Richtung bestimmen, sondern darum, mit Hilfe des breiten Erfahrungsschatzes der Kulturwissenschaften und den daraus gewonnenen Einsichten in aktuelle Problemsituationen und Er­fahrungen verlässliche Orientierungskonzepte und ethisch vertretbare Handlungsempfehlungen zu entwickeln. Man kann von den Kulturwissenschaften allerdings nicht verlangen, verlorene durch neue Sinn­systeme zu ersetzen.

Der Begriff „Kultur“ ist trotz vielfältiger Bemühun­gen nicht eindeutig zu definieren, weil darunter eine Vielfalt unterschiedlicher Forschungsrichtungen in den Geisteswissenschaften subsumiert und häufig auch als ein Sammelbegriff für einen offenen und interdisziplinären Diskussionszusammenhang verwendet wird.
Mit dem Leitbegriff der „Kultur“ wird heute in verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen nach neuen Möglichkeiten und Wegen der Erkenntnis gesucht. In diesem Zusammenhang müssen mehrere Richtungen unterschieden werden, wie z. B. die deutschen Kulturwissenschaften im traditionellen Sinn des 20. Jahrhunderts, die „Cultural Studies“ britischer und amerikanischer Prägung und die aus der Schule der Annales, der Phänomenologie oder dem Poststrukturalismus hervorgegangenen französischen Strömungen (auf die im Folgenden nicht weiter eingegangen wird).

Cultural Studies

Die Entstehungsgeschichte der „Cultural Studies“ ist durch die Arbeiten ihrer Gründer Richard Hoggart, Raymond Williams und Edward P. Thompson bekannt. Von Anfang an vertraten sie als Gruppe auf der Basis eines praktisch-intervenierenden Denkens einen sozialen und politischen Reformanspruch und entwickelten einen sozial nach unten erweiterten Kulturbegriff. In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts öffneten sich die „Cultural Studies“ unter Stuart Hall gegenüber strukturalistischen, poststrukturalistischen und marxistischen Einflüssen und begannen, sich neu auszurichten und zu formieren. Bemerkenswert war an diesem Prozess ihre thematische, methodische und interdisziplinäre Vielfalt. Im Zuge dieser Entwicklung haben sich bei ihnen im Laufe der letzten Jahrzehnte einige Themen- und Interessenschwerpunkte herausgebildet, wie z. B. Phänomene der Massenkultur und Kulturindustrie, Konsum- und Freizeitverhalten unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen, Medien und medial vermittelte Kommunikationsformen, alltägliche Lebens- und Handlungszusammenhänge, in denen sehr unterschiedlich symbolisch vermittelte Bedeutungen entstanden sind, Rassismus, Geschlecht, Ethnizität und Nationalismus als Instrumente der Identitätspolitik sozialer Gruppen, die Folgen der Globalisierung, Massenmigration und Postkolonialismus, Ambivalenzen der Modernisierung und Aufklärung, offene und z. T. versteckte Formen kultureller Hegemonie sowie Marginalisierung von Minderheiten und unterprivilegierten Gruppen, um hier nur die wichtigsten Problemfelder zu erwähnen.

Lorence Grossberg hat im Zusammenhang mit den „Cultural Studies“ besonders auf das Moment der Praxis als zentrale Kategorie der transdisziplinären Disziplin hingewiesen und betont: „Ich glaube, dass es möglich ist, ‚Cultural Studies‘ als eine bestimmte Art von intellektueller Praxis zu beschreiben, als eine bestimmte Art der Verkörperung des Glaubens, dass das, was wir machen, wirklich Bedeutung haben kann. ‚Cultural Studies‘ politisieren die Theorie und theo­retisieren die Politik.“ 2

Bei allen Themen stehen „ein dezentrierter Blick auf die Gesellschaft“, die Vielfalt, Pluralität, Andersheit und Differenz im Zentrum des Interesses. Politik wird zwar nicht marginalisiert oder gar ganz ausgeklammert, tritt aber gegenüber Strukturen und Realitäten einer Mikro-Politik in den Hintergrund. Mit dieser Auswahl an Schwerpunkten war ein politischer Aufklärungsanspruch eng verbunden, der die wichtige Brückenfunktion zwischen Theorie und Praxis einnahm. Dieser ganze Prozess floss auch in Strukturelemente der Kulturwissenschaften ein und prägte diese in entscheidender Weise.

Im Gegensatz dazu entwickelte sich der Diskurs der Kulturwissenschaften im deutschsprachigen Raum anders, da sich diese ansatzweise von der Tradition der Geisteswissenschaften langsam zu lösen begannen. Von entscheidender Bedeutung war hier die Auseinandersetzung mit „den geschichtsphilosophischen und den sozial- oder bildungselitären Implikationen des Geistbegriffs als Integrationsinstrument eines heterogenen Spektrums von Disziplinen, die sich als Kulturwissenschaften nun neu zu definieren und zu positionieren versuchen.“ 3

Kulturwissenschaften in der Diskussion

Die Diskussion in Deutschland über die Kulturwissenschaften reicht bis in das frühe 20. Jahrhundert zurück. Max Weber hat damals auf der Grundlage eines neukantianisch geprägten Kulturbegriffs die Kulturwissenschaften als Reaktion auf die Herausforderungen der Lebenspraxis gesehen und sie dementsprechend ausgerichtet. Ihm ging es vor allem um den Anschluss der Wissenschaften an die Probleme der Modernisierung und Gegenwart. Mit den Kulturwissenschaften scheint man, wie die aktuelle Diskussion zeigt, leichter ein neues inhaltliches und interdiziplinäres Profil, das verstärkt gefordert wird, zu gewinnen, als mit den traditionellen Geisteswissenschaften. Trotz der Differenzen zwischen „Cultural Studies“ und Kulturwissenschaften gibt es, wie der aktuelle Diskurs zeigt, auch Gemeinsamkeiten, wechselseitige Beeinflussungen und Rezeptionen. Dazu gehören die Interdisziplinarität, die zu den gemeinsamen Elementen der verschiedenen kulturwissenschaftlichen Richtungen zählt, der praktische Orientierungsanspruch und die Erweiterung des Kulturbegriffs. Die kulturwissenschaftlichen Strömungen der Gegenwart verdeutlichen ein diffuses Feld von internationalen Entwicklungen und Milieus, Forschungsstrategien und Methodenkonzepte. Genau hier droht der Begriff „Kultur“ zu einem Allgemeinplatz zu degenerieren, der keine analytische Trennschärfe aufweist. Hinter dem Begriff „Kulturwissenschaften“ steht eigentlich keine neue Disziplin im Sinne einer Einheitswissenschaft, sondern ein Oberbegriff, der die traditionellen geisteswissenschaftlichen Disziplinen umfasst und sie zunehmend stärker interdisziplinär vernetzt. Allerdings erhebt sich in diesem Zusammenhang die Frage, was dann unter Kultur zu verstehen ist und worin der theoriestrategische oder disziplinpolitische Vorteil dieser neuen Kategorie gegenüber dem Begriff des Geistes besteht. „Wenn der Begriff der Kultur nicht zu einer Leerformel werden soll, muss er als ein theoretisch-integrativer Kern eines neuen Forschungsparadigmas entfaltet werden.“ 4

Allgemein kann auf der Grundlage der vorläufigen Diskussionsergebnisse festgestellt werden, dass Kulturwissenschaften als eine multiperspektivische Einführung in einen interdisziplinären Diskurszusammenhang Möglichkeiten und Probleme einer kulturwissenschaftlichen Erneuerung der Geisteswissenschaften durch produktive Grenzüberschreitungen, Internationalität, Perspektivenvielfalt und Pluralisierung der kulturwissenschaftlichen Themenfelder verstanden werden können. Sie sind keine Einzelwissenschaft, „sondern eine Metaebene der Reflexion und eine Form der beweglichen Verschaltung, vielleicht auch eine Steuerungsebene für die Modernisierung der Geisteswissenschaften.“5

Die Kulturwissenschaften befinden sich heute in einer ambivalenten Situation. Einerseits gewinnen sie zunehmendes Gewicht für die Prozesse der kulturellen Deutung und Orientierung gegenwärtiger Gesellschaften und dies nicht zuletzt im Kontext der interkulturellen Verständigung in einer globalisierten Welt. Auf der anderen Seite ist ihr fachliches, theoretisches und methodisches Selbstverständnis trotz intensiver Bemühungen keineswegs hinreichend erklärt. Darüber hinaus gibt es keine Übereinstimmung in der Frage, ob die Kulturwissenschaften im Sinne einer einheitlichen Disziplin institutionalisiert, oder ob sie in der Pluralität teils traditioneller und neuer Fachwissenschaften betrieben werden sollen. Es existiert heute ein großes Unbehagen am aktuellen Stand des kulturwissenschaftlichen Diskurses, insbesondere an zu eng geführten Themenstellungen, die Kulturwissenschaften entweder auf Probleme kultureller Identitäten festlegen und sie vorwiegend auf „Gender Studies“ und „Race Studies“ konzeptualisieren, oder andererseits durch weitgehende Entkoppelung von kultur- und gesellschaftsanalytischen Fragestellun­gen, die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen – wie Wirtschaft, Arbeitswelt und technischer Wandel – weitgehend ausklammern. Das Feld der Kulturwissenschaften hat sich seit den 1980er Jahren schnell und weitreichend entwickelt. Zunächst nur als eine „Avantgardeströmung“ am Rande der traditionellen geisteswissenschaftlichen Disziplinen angesiedelt, ist sie in der Zwischenzeit beinahe zu einem „mainstream“ geisteswissenschaftlicher Forschung und Lehre geworden. Das zunehmende Interesse an den Kulturwissenschaften ist zweifelsohne auch das Ergebnis des „cultural turn“, der „kulturellen Wende“ der letzten Jahrzehnte und dies insbesondere in den Geistes- und Sozialwissenschaften.

Manifest Geisteswissenschaften

Carl Friedrich Gethmann, Jürgen Mittelstraß, Dieter Langewiesche, Dieter Simon und Günter Stock haben 2005 ein Manifest „Geisteswissenschaften“ 6 verfasst, wo sie darauf hinweisen, dass „die Geisteswissenschaften ihre derzeitigen eigenen Orientierungsprobleme überwinden, mit denen sie sich häufig selbst als Teil jener Probleme moderner Kulturen erweisen, zu deren Bewältigung sie eigentlich da sind.“7
Die Geisteswissenschaften der Zukunft sind, nach Ansicht der Autoren des Manifests, auf transdisziplinäre Wissensformen ausgerichtet, weil sie nicht auf einen festen Bestandteil etablierter Fächer beschränkt werden können. Vor allem müssen die Geisteswissenschaften das Gespräch mit der Gesellschaft suchen und den Dialog führen. Ausdrücklich wird gefordert, dass die Geisteswissenschaften eine Rückkehr zum Forschungsbegriff Immanuel Kants vornehmen soll­ten. Die unter dem Begriff „Kulturwissenschaften“ ein­geschlagene Richtung bezeichnen die Verfasser als einen Holzweg, weil es notwendig wäre, zum idealistischen Modell der Geisteswissenschaften zurückzufinden. Da der Gegensatz zwischen diesen beiden Modellen nicht deutlich genug erkannt werde, „bleibt es bei Mischformen, die einen wesentlichen Teil der gegenwärtigen systematischen und institutionellen Schwächen der Geisteswissenschaften ausmachen.“ Die Autoren lehnen auch die Zwei-Kulturen-Konzeption (Natur- und Geisteswissenschaften) und die von Hermann Lübbe und Odo Marquard vertretene Kom­pen­­sationstheorie prinzipiell ab. Geisteswissenschaf­ten werden nicht als Orientierungswissenschaften ge­sehen, obwohl sie es mit der kulturellen Form der Welt zu tun haben – eine Aufgabe, die nur durch transdisziplinäre Forschung und Lehre geleistet werden kann. Dieses Manifest hat bei seiner Präsentation in Berlin keine besondere Resonanz gefunden, weil ihr sperriger Stil und der Bezug auf Kant und Hegel kritisiert wurden. In diesem Zusammenhang wurde darauf hingewiesen, dass die lebenswissenschaftliche Wende für die Geisteswissenschaften neue Forschungsgebiete erschließen könne.

1 Vgl. dazu Helmut Reinalter, Aufklärung und Geisteswissenschaften, in: Die Geisteswissenschaften im Spannungsfeld zwischen Moderne und Postmoderne, hg. von Helmut Reinalter und Roland Benedikter, Wien 1998, S. 145 ff.; Helmut Reinalter, Ist die Aufklärung noch ein tragfähiges Prinzip? Mit einem Beitrag von Michel Foucault, Wien 2002; Helmut Reinalter, Reflexive Aufklärung, in: Conturen 1 (2006), S. 64 ff.
2   Friedrich Jaeger, Die Geschichtswissenschaft im Zeichen der kulturwissenschaftlichen Wende, in: Phänomen Kultur, hg. von Klaus E. Müller, Bielefeld 2003, S. 213.
3   Ebd., S. 213.
4   Ebd., S. 216.  
5   Ansgar Nünning – Vera Nünning (Hg.), Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven, Stuttgart – Weimar 2003, S. 5.
6 Vgl. dazu Geisteswissenschaften. Das „Manifest Geisteswissen­schaften“, in: Information Philosophie 1 (2006), S. 47 f.; Manifest Geisteswissenschaften, in: Der Tagesspiegel 29. 11. 2005, Frankfurter Allgemeine 4. Januar 2005.
7   Geisteswissenschaften, in: Information Philosophie 1 (2006), S. 47.

 

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