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Der Geigenmacher

Jacobus Stainer, einer der bedeutendsten Geigenbauer der Musikgeschichte, starb 1683 in Absam bei Hall in Tirol. Der Schauspieler, Regisseur und Autor Franz Winter hat unlängst den Wirkungsort Stainers auf­­ge­sucht und auf Grund von biografischen Tatsachen aus dem Leben des Meisters die folgende Geschichte geschrieben:

Am Tag seines apostolischen Namenspatrons im Juli des Jahres 1669 wurde der vom Brixener Glaubenskonsistorium unter dem Vorsitz des Fürstbischofs Sigmund Alfons Graf Thun wegen lutherischer Ketzerei in Acht und Bann getane Jacobus Stainer, Geigenmacher zu Absam, vor den Toren des Schlosses Ambras abgepasst, in Haft genommen, nach Innsbruck überführt und in einem Verlies des sogenannten Kräuterturmes gefangen gesetzt.
Dieser Akt beschloss ein mehr als ein Jahr währendes Schauspiel, dessen Höhepunkte am 12. März die öffentliche Verbrennung der ketzerischen Schriften, insbesondere der lutherischen Bibeln Stainers und der seiner Freunde, des Haller Schneiders Jacobus Meringer und des Absamer Sagmeisters Hanns Anhell auf dem Stadtplatz von Hall waren, am 10. April die erste Inhaftierung Meringers und Stainers bis zum 4. Mai, sowie die am 14. April feierlich in der Haller Pfarrkirche vollzogene Exkommunikation, wonach kein Christenmensch mehr Gemeinschaft pflegen durfte mit dem ketzerischen Geigenbauer und seinem Freund, dem Schneider, sondern vielmehr, bei Androhung der Exkommunikation, diese von jeder Mann zu verlassen und gänzlich zu meiden seien, ein Verdikt, an das sich aber vor allen etliche hohe und höchste allerchristlichste Herren des Klerus, der Klöster und des Adels bis hinauf ins Kaiserhaus zu Wien nicht halten mochten, weil sie bei keiner Commedia, bei keinem Fest, bei keiner liturgischen Zeremonie mehr auf den göttlichen Klang der Instrumente des Absamer Meisters verzichten wollten.
So erschien denn schon am dritten Tag von Stainers Haft Graf Johann Franz von Khuen-Auer, der sich als Agent des Fürstbischofs Graf Karl von Liechtenstein-Castelcorno um die möglichst rasche Abwicklung der Bestellung eines großen Streichwerks aus zwei Violinen, vier Bratschen, einem Quartviolon und einem Oktavviolon für die Hofmusik der Bischofsresidenz von Kremsier zu kümmern hatte, in der Zelle des Geigenmachers, um sich nach dem Stand des bedeutsamen Auftrags zu erkundigen, nicht ohne seiner Sorge über den abermals unterbrochenen Fortgang der von allerhöchster Stelle so sehr geschätzten Arbeit des Meisters Ausdruck zu verleihen.
„Sprecht ihr wirklich Recht, ihr Mächtigen?
Richtet ihr die Menschen gerecht?
Nein, ihr schaltet nach Willkür,
euer Herz ist voll Bosheit;
eure Hände bahnen dem Unrecht den Weg.
Psalm Davids! Aus dem Kopf können sie keine Bücher brennen, Graf von Khuen!“
Jacob Stainer wandte sich um, sodass sein kantiger Schädel vor dem von Eisenstangen unterteilten Geviert gegen die hell erleuchtete Nordkette der die Stadt einschließenden Berge stand, das Gesicht aber kaum erkennbar war.
„Es gibt auch andere, Meister! Und mein allergnädigster Herr gehört zu diesen. Ich habe in seinem Namen mit der Innsbrucker Gerichtsbarkeit Einvernehmen darüber erzielen können, Euch, bis zur Veränderung Eurer Lage, welche unzweifelhaft erfolgen wird, Eure Arbeit zurückzugeben, um Euch ein besseres Gemüt, uns aber den Genuss Eurer Kunst zu erhalten“, wagte Khuen nach einer Pause vorsichtig anzukündigen.
„Mich stoßt ihr aus eurer Kirchen, aber meine Geigen wollt ihr drinnen halten, damit sie eurem Gott ihr Loblied singen!“ Stainer lachte und sah wieder nach der Nordkette, über die jetzt Gewitterwolken erste Schatten warfen.
„O Gott, zerbrich ihnen die Zähne im Munde!
Zerschlage, o Herr, ihr Gebiss!
Sie sollen vergehen wie verrinnendes Wasser,
wie Gras, das verwelkt auf dem Weg,
wie die Schnecke, die sich auflöst im eigenen Schleim;
wie die Fehlgeburt sollen sie die Sonne nicht schauen.“
Er hatte die Verse leise und mit rauer Stimme fast geknurrt, während er mit seinen starken, langfingerigen Händen die Eisenstangen fasste, um sich in eine wippende Bewegung zu schieben, die er beibehielt, einen lang gezogenen wimmernden Ton ausstoßend, von Atemzug zu Atemzug aufs Neue, unverändert.
Khuen schlug beunruhigt zweimal gegen die Zellentüre, die sich sofort einen Spalt breit öffnete, durch den er lautlos verschwand, worauf die Eisentüre wieder in ihr Schloss rasselte. Stainer schnellte gegen die Türe, hieb auf sie ein und schrie: „Die schneeweißen Hölzer! Die schneeweißen! Vom Ende des Rechens! Den vogelaugichten Boden, den aufgezargten! Stöck und Balken! Alles! Leim und Lack und Talg, Dochte, Feuer! Werkzeug, Saiten, Bogen! Alles! Alles! Mein Werkzeug!“ Seine Schläge wurden schwächer, die Fäuste blieben an der Türe, seine breite Stirn falzte über das geschlagene Eisen. Khuen klopfte vom Gang aus dreimal gegen die Tür, zweimal kurz, einmal lang, dann lief er aus dem Kräuterturm, bestieg seinen Wagen und befahl dem Kutscher, so schnell als irgend möglich Absam zu erreichen.

Noch in der folgenden Nacht war Johann Franz von Khuen-Auer zurück, mit allen gewünschten Gegenständen, die ihm Stainers Frau mit großer Sorgfalt zusammenpackte, während er ungeduldig auf das Ende des schweren Gewitters wartete, das sich am frühen Nachmittag in Innsbruck angekündigt hatte. Er begehrte gegen Morgen Einlass, nötigte die Wache, ihm beim Tragen der Taschen, Bündel und Pakete über die steilen Stufen hinauf behilflich zu sein, ließ sich die Zelle fast ohne Geräusch aufsperren, deponierte alles Mitgebrachte darin und verschwand wieder, ohne dass Stainer aus seinem tiefen Schlaf aufwachte, eine Folge der zwei Eimer Rotwein aus Eppan, die er zusammen mit Jacob Meringer in Gesellschaft und mit Billigung der Wachen am Vorabend gezecht hatte.
Tagelang berührte Jacobus Stainer die Gegenstände in seiner Zelle nicht, sie blieben dort, wo sie von Khuen in jener Nacht hingestellt worden waren. Der Gefangene überstieg sie wie Hindernisse; oder er betrachtete sie von seinem Lager aus wie Gepäckstücke, die für eine große Reise bereit standen. Eine Reise, die ihm jetzt versagt war. Für wie lang? Dennoch zweifelte er nicht, dass er in absehbarer Zeit sein Gefängnis werde verlassen können; die Innsbrucker Regierung würde doch keine ketzerische Geigenmacherei in einem rechtgläubigen Kerker einrichten wollen. Aber bedeutete nicht, das Gefängnis verlassen dürfen, als Ketzer alles verlassen müssen? Innsbruck, Hall, Absam, das Haus, die Mitte all seiner Verbindungen, zum Hof, nach Salzburg, München, Nürenberg, Kremsier, zu all
den Klöstern, Marienberg, Georgenberg und Rottenbuch, allen Residenzen? Selbst nach Italien gingen seine
Instrumente, in Florenz, Venedig sangen sie mit jenen von Amati um die Wette! Amati! Nicolo Amati! Der große Meister! Ob er noch lebt? Er müsste jetzt an die fünfundsiebzig Jahre zählen.

Stainers Blick ging über einen zerschlissenen Leinenrucksack, der mit Werkzeug gefüllt sein musste, deutlich ließen sich die Formen zweier Hobel in der diffusen nordseitigen Mittagshelle dieses schwülen Augusttags ausmachen, die des Schlichthobels für Endarbeiten an der Glätte und die der Rauhbank mit ihrer besonders langen Sohle für gerade zu ziehende Flächen. Warum hatte Margareta sie eingepackt, er hatte nach seinem Geigenwerkzeug verlangt! Außerdem nahm er in keinem der Gepäckstücke etwas wahr,­ was auf einen begonnenen Gambenboden schließen ließ. Aber der Rucksack! War das noch derselbe, den er als Dreizehnjähriger dem Vater stahl, um, mit rasendem Herzen und angehaltenem Atem, seine wenigen Besitztümer, eine saulederne Kappe mit Nackenlappen, eine hindenlederne halblange Hose von seinem Großvater, zwei leinene Hemden, ein gewalktes Wams und ein geschmiedetes Schnitzmesser, hineinzustopfen, entschlossen, Absam zu verlassen, für zehn Jahre, wie sich herausstellen sollte, im Gefolge des Ennio Percasti aus Brescia, den er mit fünf Gulden aus seiner hundert Gulden schweren Erbschaft nach einem Onkel vom Salzamt in Thaur bestochen hatte. Er war gerade, seit einem Monat, von dem Tischler Hanns Gräfinger als Lerner angenommen worden, als Percasti die Werkstätte betrat und den Meister nach gut habspurgischen Bergfichtenständen frug; ihm als Holzleimer müssten solche Bäume doch bekannt und für seine Arbeit so wertvoll sein, dass er sie dem Brandfraß für die Salzpfannen zu entreißen suchte, wo er konnte, gegen ein gutes Geld, verstehe sich, das er, Ennio Percasti, Holzbeschaffer aus Brescia, be­reit sei, ihm in barer Münze zu überzahlen, wenn er ihm die Stände zeige. Ob der Signor die engjährigen Haselfichten mit dem harten Blatt meine, die auf der Felsengrenze wüchsen und schwer und nur bei Schnee zu fördern seien? Percasti bejahte, zog einen Lederbeutel aus dem Gürtel, öffnete ihn und zog ihn über den Zurichtbalken unter dem kleinen Fenster der Werkstätte, sodass die runden Silberstücke im Frühlicht einen Glanzweg auf der leimbetropften Ahornfläche machten. Dann wandte er sich an ihn, den Buben, und sprach ihn an. Dass er ihn kennte von dem Damenstift zu Hall, allwo er ihn gesehen und seine Stimme vernommen habe bei der großen Vesper­musik zur Himmelfahrt der Gottesmutter am gestrigen Feiertage. Ob er denn wisse, welche Worte er gesungen und welches Instrument denn mit seiner schönen Stimme concertieret habe?

Jacob Stainer erinnerte sich genau jener Aufführung der Marienvesper von Claudio Monteverdi im Damenstift von Hall, dessen Chor er seit seinem neunten Lebensjahr angehörte. Eingebrannt hatte sich ihm diese, wie ihm noch heute vorkam, überirdische, unerhört neue Musik, bei der er sogar zwei Soli singen durfte, seine letzten, wie zum Abschied von seiner Knabenstimme, mit deren Bruch er schon zu kämpfen hatte.
Deposuit potentes de sede, er wusste damals nicht, was die Worte bedeuteten, nach denen er zum ersten Mal das hörte, was wie Lichtbänder vom Himmel zu gleiten, und wie Lichtbänder zum Himmel zu wehen schien; singend die Töne, leuchtend der Klang, der dem entströmte, was sie „Geigen“ nannten. Dann sang er et exaltavit humiles im Duett mit dem Freund Hanns Anhell, dem späteren Sagmeister, dessen lutherische Schriften auch verbrannt worden waren, vor fünf Monaten, auf dem Haller Marktplatz.
Herrscher hat er vom Thron gestürzt, aber die Niedrigen hat er erhoben. Stainer lachte bitter auf. Damals musste er Percasti die Antwort über die Bedeutung des Gesungenen schuldig bleiben, aber dass zwei Geigen gespielt haben, das wusste er. Und das Holz für genau diese Instrumente suche er, meinte Percasti. In Brescia, seiner Heimatstadt, und in der Stadt Cremona gäbe es Werkstätten, die wie Tischlereien seien, nur würden dort keine Kisten und Truhen und Sessel und Tische gefügt und geleimt, sondern Gamben und Violen in allen Größen, und eben jene Geigen, die zusammen mit ihm musizieret hätten. Es sei ein unglaublich Begehr, gerade nach diesen neu erfundenen Violinen, und er reise im Auftrag des Enkelsohnes ihres Erfinders Maestro Andrea Amati, der Nicolo hieße, und sich vor Nachfragerei nicht retten könne und deshalber nach guten Hölzern zu seinen Geigen forschen lasse, so wie er auch nach Lernern Ausschau halten müsse, weil seine zwei Hände allein nicht so viele machen könnten.

Stainer hatte noch den schnarrenden Atem des hochgewachsenen, schmalen Italieners im Ohr, der, jenseits der Nordkette, in seinen schwarzen Kleidern wie eine flügellahme Dohle hinter Gräfinger zum Joch des Lafatscher keuchte, wo hoch über dem Tal der Gleirsch jene Fichten standen, die er zu suchen schien. Dort streckte er die Hand nach der schweren Axt aus, die Jacob hinaufgeschleppt hatte, stellte sich neben eine einzeln stehende, alte Fichte, holte aus und schlug mit dem Axtrücken gegen den Stamm, den einen Lidschlag später ein hoher, fast sirrender Ton durchzitterte. So ging es fort; manche Bäume sangen, die mehreren nicht. Von den Singenden zeichnete er vier und verlangte sie zu kaufen. Er werde sie im nächsten Frühjahr, nach der Trift, an der Haller Lände holen und über den Brenner schaffen lassen; für ein Holz dieser Güte lohne sich jede Plackerei und Mühe.

Der Geigenmacher stand auf von seinem Lager, bückte sich nach einer der Kisten und entnahm ihr einen Gegenstand, der in seiner Leinenumwicklung einem großen, flachen Ei glich. Er zog das Leinen ab und hielt zwei knochenweiße ovale Scheiben in den Händen, die er gegen das vergitterte Fenster hob, um die zarten Fäden genauer sehen zu können, die das Fichtenholz in unzähligen, immer gleichen Abständen durchzogen. Er musste lächeln und küsste das Holz. Dann begann er, die anderen hingestellten Dinge auszupacken und machte den aufgestellten Bettstattrahmen zu seiner Werkbank, auf der er die zum Geigenbau nötigen Sachen ordnete. Bodenholz, Zargenholz, Innenform und Haseldecken lehnte er vorsichtig in den Bettrahmen, das Biegeeisen legte er oben auf, den Schmelztiegel stellte er daneben. Dann ließ er sich auf die strohgefüllte Matratze nieder, griff nach einem dunkelgrün gebrannten Tonkrug, durchschnitt mit dem rechten Daumennagel die Wachsschicht, die einen kleinen Zinnteller auf der Öffnung gehalten hatte und trank in großen Schlucken von dem Eppaner Wein, den ihm Margareta mitgeschickt hatte, die Frau, die, schon vor der ihm aufgezwungenen Hochzeit, mit seiner ersten Tochter, Ursula, niedergekommen war und die er nach nur vier Monaten Ehe für fast zwei Jahre verließ. Er war dem argwöhnischen Druck des Haller Salzbergmeisters Georg Holzhammer gewichen, der ihm seine Tochter nur zu gerne verweigert hätte, wäre sie nicht durch ihn in die Schande gekommen, durch ihn, den Sohn und Enkel von bloßen Salzbergknappen, der sich nach zehn Jahren Abwesenheit und zweifelhaften Lehr- und Gesellenjahren in Italien, der Stadt Cremona, beim Meister Amati, wie behauptet wurde, vierundzwanzigjährig schon Meister der Geigenmacherei nannte, was man ihm zähneknirschend glauben musste, hatte er doch für eine einzige Viola bastarda sechsundzwanzig Gulden aus der Hofkasse des Fürsterzbischofs von Salzburg erhalten.

Es war eine Flucht, die ihn nach Venedig trieb, in die Stadt des Claudio Monteverdi. Einmal, als Lehrling, hatte er seinen Meister an diesen Ort der Wunder, deren Zaubertrank seine Seele für immer vergiften sollte, begleiten dürfen. Nicolo Amati suchte seinen Landsmann, der Cremoneser war wie er selbst, auf, um den Klang seiner Geigen zu hören, unter den Kuppeln, von den Chören San Marcos, und in den Sälen der Paläste, in denen große Dramen in der Musik des Göttlichen Claudio, wie er genannt wurde, erklangen. Und „Il Divino“ erzeigte sich gnädig, ja dankbar, und verwies Amati an die Werften des Arsenale, wo er nach dem feinjährigen Holz der Türken fragen solle, dessen Jahresringe in der immer wiederkehrenden Form des Buchstaben V eingebuchtet wären. Es sei für den Schiffs- und Ruderbau gänzlich ungeeignet, weil es splittere wie Glas, ein Danaergeschenk der Türkenhunde eben, es habe aber einen wunderbaren Klang, den die Wimmerungen aufspannten und weiteten wie die Brücken der Serenissima.

Jetzt, auf seiner Flucht, da er wieder nach Venedig über­setzte, musste er erfahren, dass der göttliche Monteverdi vor drei Jahren gestorben war. Und er betrank sich mit dem Gift Venedigs, versank im Schoß der großen Kurtisane, spielte und verlor, sich selbst und was immer er bei sich und auf seinem Leib trug, und gewann doch das Türkenholz der klingenden Galeeren. Es war ihm aber auch vergönnt, noch einmal des Claudio Favola in Musica L’Orfeo zu hören, in der die Macht des Todes vom menschlichen Gesang mit Hilfe des Geigenklangs gebrochen wurde. So sollten seine Geigen fortan klingen, dass sie den Tod besiegen konnten. Den Tod besiegen …

Stainer verfiel auf seiner Matratze wie eine zu groß geratene Puppe, aus der die Spielhand gezogen war, er spürte nicht die Wanzenbisse und nicht den Wein, der über seine Schenkel rann. So saß er eine Nacht und einen Tag und eine Nacht.
„Er ist ganz sinnlos worden“, sagte die Wache dem Grafen Khuen, der sich nach ihm erkundigte und dar­aufhin die Zelle nicht zu betreten wagte.
Mit fünfzig Jahren, einer Frau, die nicht mehr wohl ist, und sieben Töchtern auswandern in ein lutherisches Land? Nach Thüringen? Thüringen hatte keine Bergwälder mit singenden Bäumen! Wie sollte er Geigen machen in einem Land, in dem Gott kein Holz dafür hat wachsen lassen? Er fror, trotz des heißen Spätsommertages draußen. Er fror wie im tiefsten Winter, wenn er bei klirrender Kälte an der vereisten Riese saß und so lange den ohren­betäubenden Lärm der zu Tal schießenden, nackten Baumstämme ertrug, bis die „Cantori“ an die Riesenwandung schlugen, bis der hohe Ton der Hasel­fichten in die Eisluft stieß. Dann sprang er auf und rannte zum Triftplatz und zeichnete den Geigenbaum und zahlte jeden Preis dafür.
Jetzt kroch Jacob Stainer zu den schimmernden Deckenhölzern, die da vor ihm im Rahmen seines aufgestellten Bettes lehnten. Er griff nach dem kleinen Schlichthobel über ihm und begann, einem der Flügel seinen Schwung zu geben. Weiße Hobelschatten häuf­ten sich um ihn wie Schnee, während die Geigendecke sich über einem unhörbaren Ton spannte, dem Ton, der den Tod erschrecken würde.
Der Geige aber schnitzte er statt einer Schnecke ein Löwenhaupt, das Wappentier der Königin der Meere.

*


Jacob Stainer, der noch während seiner Haft in Innsbruck von Kaiser Leopold I. zum Kaiserlichen Diener ernannt wurde und kraft dieses Edikts rehabilitiert war, erlangte am 6. September 1669 seine Freiheit wieder. Am 12. September gab er sich kniend in der Sakristei der Pfarrkirche zu Hall drei symbolische Geißelschläge und erneuerte das Katholische Glaubensbekenntnis, „um aus der Sache zu kommen“.
Er lebte arbeitend bis zu seinem Tod in seinem Haus in Absam, wo er, entmündigt, im November 1683 mit 64 Jahren seiner Geisteskrankheit erlag, acht Wochen nach der Befreiung Wiens von der türkischen Belagerung.

*


Dem Klang seiner Geige ist am Reinsten in den Aufnahmen der Violinkonzerte Johann Sebastian Bachs und der Vier Jahreszeiten Antonio Vivaldis, gespielt von Alice Harnoncourt, nachzuhören.

 

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