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Nur keine Ideen

Über den Bildhauer Walter Pichler, 71.
Von Christian Seiler

Der Mann mit dem grauen Anzug durchquert den lichtdurchfluteten Raum. Draußen formieren sich Schneewolken über der Berliner Museumsinsel und fressen das Licht des frühen Nachmittags. In die Außenwand des Raumes sind vom Fußboden bis zur Decke hohe Fenster eingeschnitten. So bleibt der Raum auch, während es draußen dramatisch dunkler wird, hell.
Die Laune des Mannes im grauen Anzug ist blendend. Er befindet sich in guter Gesellschaft. Links neben dem Eingang sitzt auf einem eigens dafür errichteten Podest der aus Holz, Ton und Farbe angefertigte „Rumpf“ und betrachtet die „zusammengesetzte Figur“, die schräg vor ihm montiert ist. Die „zu­­sammengesetzte Figur“ steht auf langen Beinen und zu großen Füßen. Sie trägt auf ihren Schultern einen Glaskubus, in dem ein rot angestrichener Kopf steckt. Kahler Kopf, lange Nase, keine Augen, abstehende Ohren, ein spitzes, entschlossenes Kinn. Der Mann mit dem Anzug lässt sich von einem eleganten Paar begrüßen, schiebt seine Hände in die Hosentaschen und hört dem, was die Herrschaften so erzählen, mit ironischer Nachsicht zu. Die Figur trägt seinen Kopf. Der Mann mit dem grauen Anzug ist der Bildhauer Walter Pichler.

In den Ausstellungsräumen „Am Kupfergraben“ findet sich an diesem Wochenende tout Berlin ein. Der Architekt David Chipperfield hat für den Kunstsammler Heiner Bastian ein privates Galeriehaus errichtet, massive Außenmauern aus Abbruchziegeln, überzogen von ockerfarbenem Schlämmputz, raumhohe, von rotbraunem Holz gerahmte Fenster, eine von ihrem Auftritt überzeugte Fassade im Angesicht der gegenüberliegenden Museumsinsel mit all den klassizistischen Schinkel-Bauten.
In Berlin wird über Architektur mindestens so gern gestritten wie in Wien übers Theater. Von den oberen Stockwerken des Hauses „Am Kupfergraben“ sieht man hinüber auf die Abrissruinen des ehemaligen „Palasts der Republik“, der von den DDR-Kulturstürmern an die Stelle des gesprengten Stadtschlosses gestellt wurde und nun wiederum durch etwas ersetzt werden soll, was mindestens eine Fassade dieses Schlosses wiederherstellt.
Unsinn? Vielleicht, wenn auch, warum nicht: das Publikum des neu eröffneten Chipperfield-Hauses beteiligt sich bestimmt mit größter Freude an der Diskussion. Viele der Premierengäste zaubern ihre Digitalkameras aus den Winterjacken und halten Details der messerscharf über den Putz gesetzten Stiegenaufgänge fest, bevor sie in die Ausstellungsräume drängen.
Die unteren beiden Etagen des neuen Hauses hat die Galerie „Contemporary Fine Arts“ übernommen. Die von Bruno Brunnet, Nicole Hackert und Philipp Haverkamp geleitete „CFA“ ist im Konzert der deutschen Kunstszene eine Primgeigerin. Zu den von ihr vertretenen Künstlern zählen Jonathan Meese, Albert Oehlen, Chris Ofili, Juergen Teller, Georg Baselitz, Raymond Pettibon, und die Vermutung ist berechtigt, dass die Galeristen dieses Hauses wissen, an welchen Schrauben des Kunstbetriebs sie drehen müssen, um ihr wichtigstes Instrument, die öffentliche Anerkennung, zu stimmen. Die Galerie hat ihre bisherige Aus­stel­lungsfläche, die in den Sophie-Gips-Höfen in Char­­lottenburg untergebracht waren, im neuen Haus ver­doppelt. Ihre erste Ausstellung heißt: „Es ist doch der Kopf“. Sie ist Walter Pichler gewidmet.

Im Titel „Es ist doch der Kopf“ steckt die verborgene Annahme, es könnte irgendwann nicht der Kopf gewesen sein, aber das würde das Werk Walter Pichlers verkennen. Pichlers Skulpturen und Zeichnungen sind prototypisch verkopft, dem Künstler steht die Verachtung gegenüber aller archaisch, aus dem Bauch heraus in die Welt geklopften Bildhauerei ins Gesicht geschrieben.
Doch bezeichnet der Titel nicht etwa die intellektuellen Sphären hinter den ausgestellten Skulpturen und Zeichnungen. Viel einfacher – es geht um die Köpfe, die Pichler zeichnet und formt, um das runde, plastische Leitmotiv seiner Arbeiten, Thema in den sechziger Jahren, Thema jetzt, Thema immer.
„Kopf, 1972“, „Kopf, 1975“, „Schädeldecken, 1976“, „Gerüst für die Schädeldecken, 1978“, „Haus für den Rumpf und die Schädeldecken, 1979 – 1981“, „Doppelkopf, 1985“, „Doppelkopf, 1987“, „Loch im Kopf, 1989“, „Loch im Kopf, 1995“, „Nasenbohrer, 2004“, und die Reihe ist natürlich längst nicht vollständig.
„Es ist doch der Kopf“: Pichler wehrt sich zwar ein bisschen kapriziös gegen „solche griffigen Sätze“. Nicht umsonst ist er Autor des Unnötige-Kreativi­täts-Blocker-Slogans „Nur keine Ideen“. Gleichwohl freun­dete er sich mit der ein bisschen lakonischen, ein bisschen poetischen Verschlagwortung an. Ihm ist eben auch „nichts Bezeichnenderes eingefallen, und je länger ich unter diesem Titel gearbeitet habe, desto schlüssiger ist er mir erschienen.“
Im Vorwort zum Katalog schwingt sich Pichler zu einer spröden Erklärung für das Thema der Ausstellung auf: „Die Einladung (…) erreichte mich, während ich an der Skulptur ,Schädeldecke (wie ein Gebäude)‘ arbeitete. (…) Also, ausgehend von dieser Skulptur und die Erinnerung strapazierend, bin ich draufgekommen, dass ich während meiner langen Arbeitszeit immer wieder ,Köpfe‘ gemacht habe. (…) Als ich daran ging, die zu den plastischen Arbeiten passenden Zeichnungen auszusuchen, war ich selber überrascht, was ich in den vielen Jahren zum Thema Kopf zusammengezeichnet habe. Frühe architektonische Entwürfe, traumhafte Aufzeichnungen, fast ironische Blätter, Pläne, die Raumsituationen skizzieren oder festlegen, habe ich gefunden, nur weil ich nach einem bestimmten Gesichtspunkt ausgesucht habe.“
Und unversehens leitet Pichler den entscheidenden Schlenker ein:
„Wenn man so wie ich sein Leben fast immer zeichnend begleitet, verselbständigt sich die Zeichnung, wird einmal Notation von Zuständen und dann wieder genaue Analyse, trägt zur Verwirrung und dann wieder zur Klärung bei.“
Pause: „Ich könnte kaum denken, ohne zu zeichnen.“

Als Walter Pichler Ende der fünfziger Jahre begann, mit Formen und Materialien zu experimentieren, hatte er sich noch nicht entschieden, ob er Bildhauer oder Architekt sein wollte. Hinter ihm lag ein absolviertes Grafikstudium an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien und ein Lehrjahr für Skulptur in Paris. 1963 brach er für zwei Jahre nach New York auf, sah der Popkultur beim Erwachen zu und überprüfte die Wahrnehmungen, die er etwa bei seiner Beschäftigung mit dem Wiener Stadtbaumeister Otto Wagner angestellt hatte, im transatlantischen Zusammenhang.
Die anbrechenden sechziger Jahre verlangten freilich nach Zukunft, nach Visionen, nach Formen, die den Aufbruch ausdrücken konnten. Pichler zeichnete Städte und sakrale Bauten, dachte sich Räume unter der Erde oder in der Luft aus, stellte „archetypische Untersuchungen“ an. Gemeinsam mit Hans Hollein präsentierte er in der Wiener „Galerie nächst St. Stephan“ utopische Architekturmodelle und postulierte eine radikale, elitäre Definition für das, was er unter „Architektur“ verstand: „Sie wird geboren aus den stärksten Gedanken. Für die Menschen wird sie Zwang sein, sie werden darin ersticken oder sie werden leben – leben, wie ich es meine. Architektur ist nicht die Hülle für die primitiven Instinkte der Massen. Architektur ist Verkörperung der Macht und Sehnsüchte weniger Menschen. (…) Sie erdrückt die, die sie nicht ertragen. Architektur ist das Recht derer, die nicht an das Recht glauben, sondern es machen. Sie ist eine Waffe.“
Pichler bemächtigte sich dieser Waffe. Er schwang sie visionär und nicht ohne hellsichtigen Zynismus. Als er 1965 für die Pariser Biennale mit Hans Hollein und Ernst Graf eine „Minimalumwelt“ entwarf, glich diese einer Telefonzelle mit ein paar Bonus-Lebensfunktionen. Pichler konstruierte in Folge ein Arsenal von Artefakten für den scheinbaren Gebrauch in der modernen Welt: den „Bioadapter“; den an die Ausrüstung der NASA erinnernden „Tonhelm“; den legendären „TV-Helm“, den Pichler hämisch als „tragbares Wohnzimmer“ etikettierte. Seine „Intensiv-Box“ skizzierte einen kugelförmigen Raum, in dem Menschen völlig isoliert von einander leben und nur via Leitungen von außen mit allem versorgt werden, was sie brauchen.
Wenn künstlerische Weitsichtigkeit jemals ein plausibles Beispiel braucht: Bittesehr.
Gemeinsam mit Raimund Abraham und Hans Hollein stellte Walter Pichler im Museum of Modern Art in New York seine „Visionary Architecture“ aus. Mit Oswald Oberhuber, Bruno Gironcoli, Hans Hollein und Roland Goeschl präsentierte er in der „Galerie nächst St. Stephan“ „Super-Design“. Seine „Prototypen“ wurden bei der „Documenta 4“ in Kassel aus­gestellt. Die Objekte entziehen sich noch heute der exakten Zuordnung, sie sind weder Skulptur noch Gebäude noch Design, eher, wie es die Direktorin der Generali-Foundation, Sabine Breitwieser, definiert, „architektonische Environments“.

Während in unmittelbarer lokaler und intellektu­eller Nähe die „Wiener Gruppe“ entstand und der Akti­o­nismus sich aufmunitionierte, nahm Walter Pichler Kurs nach Innen, interessierte sich immer nach­drück­licher für die eigenen Entwürfe, steigerte die Genauig­keit, mit der er seine gedanklichen Räume vermaß.
An den anderen Tischen im selben Kaffeehaus wurden mit heraushängenden Hemden Umstürze oder wenigstens Anschläge gegen die geltende Ordnung geplant. Pichler ließ sich Maßanzüge anfertigen und wandte sich eigenen Objekten zu, die zusehends hermetischer wurden.
„Pichler, die Bronzezeit ist vorbei“, spotteten die Aktionisten, die sich gerade die ersten Strafanzeigen ein­fingen, aber Pichler sah sich längst auf der Spur übergeordneter Zeitlosigkeit. Die Motivkette, die sein Werk bis ins Alter bestimmen sollte, war geknüpft. Figuren und Räume. Räume und Figuren. Zuweilen hermetisch und strikt formal, manchmal ergreifend emotional und fast figurativ. „Hinter die Aura setzt er Ironie, vor die Banalität ein Rätsel“, formulierte der Kunsthistoriker und Zwanzgerhaus-Direktor Werner Hofmann. Kunst als Quelle politischer Zeitkommentare interessierte Pichler nicht, nicht mehr.
1972 kaufte er im burgenländischen St. Martin/Raab
einen Bauernhof und zog sich aus der Stadt, aus dem Kunstbetrieb zurück. Er entzog sich der Dynamik der Szene, der er, wenn auch nur mehr am Rande, angehörte. Welche Pointe, dass ausgerechnet Günter Brus, zu dieser Zeit einer der radikalsten Aktionisten, Pich­ler fast 30 Jahre später in einem langen Gedicht die Ehre erwies, von dessen Eigensinn, Beständigkeit und Unbeirrbarkeit schwärmt:

„Der Meister aus Sankt Martin federt
und tuscht im Vesuv.
Architekten, Designer und Maler,
sie haben einen anderen Beruf.

Pannonisches Licht fällt durch die Laube
auf die einfache Jause.
Diese eroberte Ruhe stellt klar:
hier ist Vermeer van Telfs zuhause.

Seine Zeichnungen, banal betrachtet,
sind vorwiegend suizidär.
Aber ist die Kunst als Sommerfrische
nicht das eigentliche Malheur?

Pichler spricht: ,Ich mache Skulpturen,
um zu leben.‘
Diese antworten: ,Wir werden, darum
gibt es ihn eben.‘“

Walter Pichlers Gesicht ist scharf geschnitten. Die kurz geschorenen Haare betonen den charakteristisch geformten Schädel. Auskragende Ohren. Kanti­ges Kinn. Der Mund, eine waagrechte Linie. Die Mund­winkel können mit geringstem Aufwand eine Stimmung zwischen grimmiger Strenge und ironi­sch­em Amüsement modulieren.
Die Gestalt des Bildhauers ist aufrecht, gerade und elegant. Der aus einem groben, grauen Wollstoff geschnittene Maßanzug fällt in unangestrengter Perfektion über die Schultern, es ist bereits eine Kunst, sich so ein Stück anmessen zu lassen. Die schwarzen, schmucklosen Oxford-Halbschuhe sind aus festem, auf Wasserglanz poliertem Leder. Die Stulpen der Anzughose sitzen keinen halben Zentimeter zu tief.
Walter Pichler schenkt sich ein Glas Mineralwasser ein, fischt nach seinen Zigaretten. Wenn er zu sprechen beginnt, tritt der merkwürdig verwaschene Dia­lekt in Konkurrenz zur Strenge seiner Erscheinung. 35 Jahre im südlichen Burgenland haben das Knirschen einer zu beiden Seiten des Brenners gelernten Kindheitsprache abgerundet und musikalisiert. Die Bescheidenheit, mit der er über sich spricht, ist freilich selbstbewusst und erprobt.
Er sagt ohne Anlauf schwergewichtige Sätze wie: „Es reicht, wenn man etwas existent macht.“

Damit meint Pichler den vor Jahrzehnten getroffenen Entschluss, seine Objekte nicht zu verkaufen. „Soll ich sie in eine Bank stellen lassen? Oder ins Magazin eines Museums?“
Er schüttelt lächelnd den Kopf. Pichler will sich nicht vorstellen, dass seine Arbeiten schlecht präsentiert werden. Er hat sich zeit seines Lebens über Künstler gewundert, die keinen Einfluss darauf nehmen, wo und in welchem Zusammenhang ihre Skulpturen zu sehen sind.
„Ich habe immer Modelle gebaut und habe mir immer einen Raum dazu vorgestellt. Es gibt sehr gute Bildhauer, die keine Ahnung haben, wie sie was aufstellen. Es gibt gute Skulpturen, die einfach schlecht stehen, und das hat mich immer gestört. Ich habe mir gedacht, ich muss mich immer auch noch um die Umgebung kümmern. Und nachdem das niemand für mich gemacht hat, oder nichts in Aussicht war, wo mir das irgendwie zufrieden stellend vorgekommen wäre, habe ich mir gedacht, ich mache mir das selbst.“
In St. Martin suchte er für seine Arbeiten Plätze, baute ihnen Häuser. Vom Zeichenplatz im quadratischen Arbeitszimmer aus sieht man auf „Das Haus mit Rumpf“, das „Türmchen“ und die „Kapelle“. Durch den Flur vor der Wohnküche geht man in den Hof, über den man die Werkstatt erreicht, die im ehemaligen Stallgebäude eingerichtet ist.
Der Architekturkritiker und Schriftsteller Friedrich Achleitner beschreibt die so entstandene (und noch immer entstehende) „Kunstanlage in der Natur“ mit großer Präzision und Innigkeit: „Diese Räume, vor allem die im Nordosteck liegende Tischlerei mit gro­ßer Fensterwand, verraten größere bauliche Eingriffe, wie etwa eine Art Vitrinenwand zwischen Werkstatt und Tischlerei. Im westlichen Teil der Werkstatt stehen ,Der Große und der Kleine Wagen‘, abfahrtsbereit auf den Schienen zur Brücke in das ,Haus für den Großen und den Kleinen Wagen‘. Wenn man von Skulpturen und Modellen absieht, die sich in der Werkstatt irgendwie Plätze gesichert haben und auf eine weitere Bearbeitung warten, fällt an der langen Nordwand eine durch ein Fenster ins Rauminnere geführte Wasserrinne auf, eine transformierte Wehranlage oder ein plastischer Kommentar zum Fließen des Wassers; eine ritualisierte Zwiesprache mit einem gewöhnlich ungebetenen und feindselig eindringen­den Element, dem hier mit Frieden und Würde Durch­lass gewährt wird.“
Der Architekturkritiker bewertet das bauliche Muster, das er vorfindet, neugierig und respektvoll. Ihm fallen darin die gleichen Spurenelemente von Philosophie und Mystik, von kunstreligiöser Balance auf, die auch in Pichlers Objekten, seinen Plänen und Zeichnungen immer wieder auftauchen:
„Spätestens in der Tischlerei, mit dem Kultobjekt einer Kreissäge, die von einer Wächterin in die Aura der Unberührbarkeit versetzt wird, entdeckt man die Zweipoligkeit oder Doppelbödigkeit dieser Arbeitswelt, die permanent zwischen Konzeption und Rezeption, Machen und Reflexion, Dinglichkeit und Kontemplation changiert. Die Werkstatt ist ebenso Werkstatt wie der Gedanke, die Erscheinung oder gar die Ausstellung einer Werkstatt. Die Wächterin der Kreissäge verlässt nicht den Raum, wenn die Maschine arbeitet, sie hat einen Ruheplatz, gezeichnet und wohlüberlegt, es wird ihr die Reverenz erwiesen – Tätig­keit und Ruhe sind alternierende Erscheinungsweisen ein und derselben Sache.“

Pichler arbeitet täglich. Er schaltet gewohnheitsmäßig das Radio ein, hört „den Einser“, den Kultursender Österreich 1. Er will nämlich keine Verantwortung dafür übernehmen, dass ihm ein Musikstück nicht gefallen könnte, das er selbst in den Apparat geschoben hat. Lieber schimpft er mit seinem Radio über die Programmierung. Bach ist sein Liebling, wer sonst.
Er sei, sagt er auf burgenländisch, „ein richtiger Hackler“, und er verkneift sich den Seitenhieb nicht, dass die meisten Künstler, so wie er das sehe, eher zu wenig bei der Sache sind.
„Die meisten glauben, dass sie zu viel können. Ich glaube das nicht. Ich will“, sagt Pichler und kommt einmal mehr auf die Überschaubarkeit seiner Motive zurück, „konzentriert und präzis machen, was ich kann.“
Räume und Figuren, Figuren und Räume. In seiner Werkstatt stehen oft zehn, zwölf Skulpturen in unterschiedlichen Aggregatzuständen herum. Es hat etwas leise Esoterisches, wenn er davon erzählt, dass für jede Arbeit ihre Zeit kommen müsse. Dabei ist das Zeitmotiv in Pichlers Arbeit vielleicht ein ganz pragmatisches, handwerkliches. „Die Zeit ist für mich ein wichtigerer Werkstoff als die Bronze“, sagt Pichler, und auch das könnte als Koketterie missverstanden werden, wäre das Handwerkliche in seinen diversen Ausprägungen nicht biographisch so tief verankert. Pichlers Großvater war Schmied im Südtiroler Eggental, wo Walter 1936 zur Welt kam. Sein Vater war Schuhmacher in Telfs, wohin die Familie übersiedeln musste, als Pichler vier war. Der Knabe lernte früh, was es heißt, das richtige Material richtig zu behandeln. Mit dieser Fähigkeit verschaffte sich Pichler, als er 1972 in St. Martin ankam, Respekt bei den ansässigen Bauern und Handwerkern. Auf dem Zeichentisch in seinem Arbeitszimmer arbeitete früher ein Schuster.

„Wir haben 13 Jahre daran gearbeitet, Walter zu dieser Ausstellung zu bewegen“, flötet Nicole Hackert von der Galerie „Contemporary Fine Art“, während sie ihr strahlendes Premierenlächeln nach links und rechts verteilt. „Welche Freude, dass es hier im neuen Haus gelungen ist.“
Walter Pichler sitzt in einem Nebenraum der Ausstellungsetage, die Mundwinkel singalisieren: Amüsement. Das neue Haus, ja. Er möge Architektur, die sich selbst nicht so in den Vordergrund stelle.
Pichler hat die Ausstellung selbst gehängt und aufgestellt. Die Ordnung der Kunstwerke ist streng und graphisch. Die Verwandtschaft zur Ordnung, mit der Pichler Jahrzehnte lang Bücher für den Residenz-Verlag gestaltete, ist deutlich zu erkennen. Nur keine Ideen.
Geschwind noch eine Zigarette. Kein Zweifel, dass Pichler sich wohl fühlt, dass es ihm Spaß macht, für einen Augenblick aus der ländlichen Abgeschiedenheit ins Zentrum der Aufmerksamkeit seiner Branche zu wechseln. Selten genug, dass er sich dieser Aufmerk­samkeit aussetzt, viele Jahre lang hat er gar nicht aus­gestellt, hat höchstens Zeichnungen ver­kauft und von denen auch nur so wenige wie nötig.
Er selbst hält sich, was aktuelle Kunst betrifft, zwar durchaus am Laufenden, „es gehört“, sagt er, „zu meinem Beruf. Aber ich ziehe alte, anonyme Kunst vor, zum Beispiel die präkolumbianische. Da kenn’ ich mich ganz gut aus.“
Mundwinkelmodulation.
„Bis zur Renaissance gefällt’s mir eigentlich gut.“
Gefällt ihm auch, dass die Pointe sitzt.
Später am Premierenabend wird er seiner blendenden Laune mit dem Galeristen Bruno Brunnet auf einem Tisch der „Paris Bar“ Ausdruck verleihen, tanzend, singend. Die Künstlerkolonie, die sich mit den Jahren rund um Pichler im Südburgenland angesiedelt hat, wird nahezu vollzählig anwesend sein.
Pichler spricht über die Objekte, die mit ihm auf die Reise gingen:
Die „Schädeldecke (wie ein Gebäude)“, Studie dreier Schädelmotive, eines aus Ton, eines aus Bronze, das dritte in Form eines zu öffnenden Gebäudemodells, alle drei Teile befestigt auf einem groben und gleichzeitig wohlproportionierten, rot gestrichenen Holztisch, dessen sechs Füße durch mehrere Längsverstrebungen stabilisiert werden. Der „kleine Rumpf“, ein geschmeidiger Torso aus Ton mit einem ornamenta­len Schädel aus Bronze, die Schenkel abgeschnitten, so dass man ins Innere dieses Körpers, eine Holz- und Lehmkonstruktion in konzentrischen Kreisen, sehen kann. Die Schädeldecke aus Bronze und Ton, die samt einem rechteckigen Spiegel auf eine Holzscheibe montiert ist, mittels Holzkugeln mit einer zweiten Scheibe verbunden, die wiederum auf drei Holzpfählen ruht.
Kopfarbeitskunst.
„Ich mute ihnen einen Moment der Fremdheit zu“, sagt Pichler in Richtung seiner Objekte, und er fügt väterlich hinzu, dass sie sich halt auch außerhalb ihrer angestammten Plätze bewähren sollen. Aber was heißt schon bewähren: „Zustimmung oder Ablehnung sind mir völlig egal“, sagt Pichler. „Ich habe meine Beweisstücke schon abgeliefert.“

Plötzlich diese Übersicht: Es sitzt ein Mann mit seinen Kunstwerken auf dem Land und lässt sie nicht aus den Augen. Er studiert, denkt, bringt seine Gedanken als Zeichnungen zu Papier – „ein einfacher Vorgang, dieser Kurzschluss von der Schädeldecke in die Fingerspitzen. Denkst du.“ Der Verkauf der Zeichnun­gen, die stets Momentaufnahmen seiner Annäherung an das nächste Stadium des nächsten Objekts sind, an dem er gerade arbeitet, bringen dem Mann so viel ein, dass er seine Arbeit ungestört fortsetzen kann.
Unangefochten sagt Walter Pichler: „Was sollte ich eintauschen gegen mein Leben?“

 

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