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Sounding Lead

Eva Schlegel hat den Umschlag dieser Ausgabe gestaltet und sechs Doppelseiten: Blicke auf den Horizont und auf die Wolken, flüchtig und nicht zu wiederholen, von der Künstlerin festgehalten und auf Bleifolie gedruckt. Vom Material Blei ausgehend entwickelt Elisabeth Schlebrügge im folgenden Text eine Assoziationsgeflecht zum Werk Eva Schlegels.

Wenn die Besucher gegangen sind: ein Raum, sich selbst überlassen, hermetisch, abgesunken, untermeerisch dahintreibend, aus der Zeit gefallen (allenfalls ein Taucher – Bleigurt! Apnoe! – sich abstoßend vom Sandboden, schwebend, versucht, Türen zu finden, Luken zu öffnen).
Für die Wiener Secession hat Eva Schlegel die Wände des Hauptraums vollständig mit Bleibahnen beschichtet und mit großen runden Spiegeln Löcher in den Boden gerissen, vorübergehend jede Spur des White Cube zum Verschwinden gebracht und in dieser überdimensionierten Black Box die Prinzipien ihrer künstlerischen Arbeit deponiert; der Arbeit an der Balance vor allem, zwischen materialer Präsenz und anklingen­den, aufblitzenden Bedeutungsfeldern, die sich eindeutiger Dechiffrierbarkeit gerne entziehen.
Expeditionen ins Bildhafte wie in abstrakte Flächigkeit, Zeichen, Schatten.
Und eine geschärfte Aufmerksamkeit für die Oberfläche, matt oder seidenglänzend, rauh oder spiegelglatt, opak oder transparent, Pigmente, Lacke, Graphit schon vor der Opposition Blei und Spiegel. Fra­ge­stellungen, Thematisierungen, die sich durchziehen, ob es sich um Formate für die Wand handelt, Interventionen in den Raum, installierte Räume oder archi­tektonische Entwürfe.
Und dann gibt es Vorlieben, Liebesbeziehungen, die das rationale Kalkül einer Materialentscheidung längst hinter sich gelassen haben, zur Arbeit eines Künstlers gehören, in sie hineingewachsen sind wie die Handschrift.

Für Eva Schlegel gehört dazu das Blei, mit seiner Körperhaftigkeit und weichen Farbigkeit, in die sie schon in ihren frühen Arbeiten anonyme Fotonegative hat sinken lassen. Für den Secessionsraum hat sie das Trägermaterial zum Protagonisten gemacht.
Sie präsentiert es im Spektrum dessen, was man sehen
kann, und dessen, was man weiß; kein konzeptueller Minimalismus, der alle ikonographischen Bezüge leug­net, das Material von jeglicher Bedeutung frei­zu­halten versucht, ohne mythische Aufladung.
Mit den Spuren menschlicher Anwesenheit – den Abdrücken von Händen längs der Nähte der langen Bleibahnen, Zeugenschaft der Arbeit, das Anbringen, Montieren als unmittelbare Berührung der Haut mit dem Material – sind sie auch eingeschleust, die Implikationen der stofflichen Eigenschaften: die Schwere, die die Platten die Wände entlangfließen läßt, die Weichheit und Stumpfheit, verführerische Trägheit und gefährliche Giftigkeit. Das Wissen um die vollständige Absorption und die Undurchlässigkeit nach außen erzeugt Ambivalenz, (Strahlen-)Schutzraum und Gefängnis (Bleikammer! Bleisarg! Herzurne! Castrum doloris!). Und, weniger barock, Geschichten vom neuesten technischen Stand der römischen mala­vita (besonders teure, zum Schutz vor Diebstahl mit einem Peilsender ausgestattete Autos samt ihren Lenk­radsperren und Radblockierungen nachts in einen Lastwagen zu hieven, dessen mit Blei ausgekleidete Innenwände alle Strahlungen verschlucken, alle Ortungsversuche zunichte machen).

Blei, ein Metall auch mit schlechtem Ruf (Bleirohre, Spuren von Blei, im Wasser, im Wein), das in der Hie­rarchie der Metalle weit unten steht. Aber auch eines, das andockt an die Vergangenheit, festgeschrieben, in der tradierten Ordnung der Welt, über den Herrscher Saturn der Zusammenhang mit der Melan­cho­lie, der Zeit und dem Tod.
„Bley, lateinisch Plumbum, Saturnus, dahero es auch bey denen Alchymisten, medicis und Apotheckern mit diesem Zeichen des Saturni in denen Recepten und in ihren Büchern angedeutet wird. Griechisch molubdòs Molyb­dos; Französisch Plomb. Italiänisch Plombo, Spanisch Plo­mo. Ist ein schlechtes, weiches, schweres, unrein­es, und daher nicht sonderlich gläntzendes Metall, sehr kalt, und gar geschmeidig, daß man es mit dem Hammer strecken kann. Es führet viel unreines Saltzes, irdischen Schwefels und mercurialischer Materie bey sich, weshalb es dann auch so schwer, und nechst dem Golde das schwereste ist, das Nasse, so darinnen verwahret wird, nicht leicht verderben lässet, und keinen Klang von sich giebet“, vermerkt Johann Heinrich Zedlers „Großes Vollständiges Universal-Lexikon Aller Wissenschafften und Künste“ im Jahre 1733. „Saturnus wird das Bley des­sentwegen genennet, weil die Astrologi vorgeben, daß dieses Metall von den Planeten gleiches Namens seinen Einfluß bekomme.“
Von Saturn her, ein comestibler Kosmos der Derivate und Umwandlungen, Bleizucker, saccharum Saturni („wie oft er jeden milchzucker des schicksals mit dem giftigen bleizucker der erinnerung versetzte“, Jean Paul, zitiert nach dem Grimm’schen Wörterbuch); Bleibutter, butyrum Saturni; Bleimilch, lac Saturni (auflösung von blei in essich); Bleiöl (oleum Saturni); Bleisalz (sal Saturni). Die Farbwerte wechseln, zwischen Bezeichnungen für den stofflichen Gehalt und visuellen Valeurs, Chemie und Metaphorik; bleiweiß bleigelb bleiroth bleigrau bleiasche.
Wie das Material an der Sprache entlangschrammt; die Wörter, wenn sie auf dem Material auftreffen, verschluckt werden oder zurückgeworfen; Wortzauber, wenn dem Blei selbst in der Sprache der aktuellen (Natur-)Wissenschaft ein „doppelt magischer Kern“ zugeschrieben wird. Diesen Kern des Wortgebrauchs und das Triebwerk der Tautologie haben schon Jacob und Wilhelm Grimm in ihrem großen Wörterbuch der deutschen Sprache bezeichnet: „da das blei nach dem gold das schwerste metall und weit verbreiteter als dieses ist, so wird die vorstellung des schweren oft durch blei ausgedrückt: schwer wie blei, bleischwer." Und sie zitieren die Bibel: „sunken unter wie blei im mechtigen wasser“ (2. Mos., 15, 10).

senkblei richtblei bleistift bleistiftabsatz; pulver und blei; bleisoldat, bleischürze; bleigießen; „bleien“ („ein zauber bleite mich nieder“, zitieren die Brüder Grimm Goethe). Nautisches Gerät, Buchstabenmaterial; Blei­satz, Satzspiegel: im schattenlosen Bleiraum sind alle Buchstaben verschwunden und alle enthalten, alle Sätze und alle Bilder; die Aufforderung der Künstlerin an den Betrachter, Spuren herauszulösen und zu entziffern.
Kein Theaterdonner, kein Echo: ein stummes Metall; die Zeit angehalten. „Stummheit ist im Traume eine gebräuchliche Darstellung des Todes“, schreibt Freud im „Motiv der Kästchenwahl“, in dem ein bleiernes Kästchen als das „richtige“ sich herausstellt gegen­über dem goldenen und dem silbernen. Und in einem späten Reflex auf die alte Komplexionen-Lehre spricht Susan Sontag in ihrer Benjamin-Lektüre „Im Zeichen des Saturn“ von der dem Schützling dieses Planeten gelingenden „Umwandlung von Zeit in Raum“.
Die Hoffnung der Alchemisten, aus Blei Gold zu machen, hat sich in der Arbeit Eva Schlegels erfüllt; ihr gelingen die Transformationen, Schweres in Leichtes zu verwandeln, Stumpfes in farbigen Schimmer (auf dem Blei, die durch den Prozess des Walzens hervorgerufenen Schattierungen von Kobaltblau, sanf­tem Morgenrosa, Silberglanz; malerische Effekte, verselbständigte Malerei des Materials, kein Pinsel).

Bleistift Bleisatz Satzspiegel Spiegelschrift: In den Balanceakten zwischen dem Eigenleben des Materials, den assoziierten Bedeutungen, zwischen Absorption und Reflexion ist das Blei eine Liaison mit dem Spiegel eingegangen, vielmehr mit dem Glas, „le verre, cette admirable matière“, wie es in Diderot/d’Alem­berts Encyclopédie heißt. Alte Verbündete, vor dem Silber war es das Blei, das nach den polierten Metallflächen des Altertums die ersten Spiegel zu solchen gemacht hat (Die schönsten Spiegel aus Brindisi! Die Geheimnisse der Glasbläser von Murano!)

Im geschlossenen Raum der Secession haben die gro­ßen Spiegelkreise nicht nur den Boden geöffnet und den hell erleuchteten Deckenhimmel darin eintauchen lassen, in einem Zug zum Erdmittelpunkt; sie zitieren ein anderes mögliches, in sich geschlosse­­-nes Raumkonzept, das des Spiegelzimmers, des Spiegelsaals (Kerzenleuchter, Klavierspiel, jedes Schlöss­chen, das auf sich hält, beschrieben im Zedler’schen Univer­salexikon: „Spiegel-Gemach, Spiegel-Zimmer, Con­cla­via specularia, ist ein kleines enges Zimmer, wo­rinnen die Wände mit großen Spiegeln, die von der Erde bis an die Decke reichen, ausgetäfelt sind. Dergleichen Zimmer haben die Eigenschafft, daß sie alles, was hinein gebracht wird, vielfältig vermehren, und eine große Weite in einem engen Raum vorstellen, und sind dahero in denen Lust-Schlössern gro­ßer Herren eine anständige Zierrath.“). Vor allem aber führen sie zurück an ihren Entstehungszusammenhang. Die Bleiwände verflüssigen sich in den Spiegeln, dunkles Gewässer:
„MIROIR DES AN­CIENS (Hist. des invent.) voici sur ce sujet des recherches qu’on a inserées dans l’histoire de l’academie des Inscriptions, & qui méritent de trouver ici leur place.
La nature a fourni aux hommes le premiers miroirs.
Le crystal des eaux servit leur amour propre, & c’est sur cette idée qu’ils ont cherché les moyens de multiplier leur image.
Les premiers miroirs artificiels furent de métal.“1

Von der Natur zur Kunst und wieder zurück, und dazu, unablösbar, das Potenzial als Gegenüber für das (sich) betrachtende Subjekt, seine Konstituierung, Selbst-Vergewisserung, Erkennen und Verfehlen.
Der Spiegel – nach Leonardo „il maestro de’ pittori“, Lehrmeister aller Maler, der in sich die wahre Malerei enthält („Lo specchio di piana superficie contiene in sè la vera pittura in essa superficie“)2 – fungiert auch für die Nicht-Maler nicht nur als Medium, sich darin zu erkennen, sondern seinerseits als Bild, wie ihr Inneres erscheint: „Es ist mir oft wie einem Exulanten, wenn ich mich der Stunden erinnere, da Sie sich mir mitteilten, ohne über den trüben oder ungeschliffnen Spiegel zu zürnen, worin Sie Ihre Äußerung oft nimmer erkennen konnten“, schreibt der Dichter Hölderlin im September 1795 an Friedrich Schiller. „Ich glaube, daß dies das Eigentum der seltnen Menschen ist, daß sie geben können, ohne zu empfangen, daß sie sich auch ‚am Eise wärmen‘ können. Ich fühle nur zu oft, daß ich eben kein seltner Mensch bin. Ich friere und starre in dem Winter, der mich umgibt. So eisern mein Himmel ist, so steinern bin ich. Auf den Oktober wird ich wahrscheinlich eine Hofmeisterstelle in Frankfurt beziehen.“ Es ist die Zeit des Gedichts, in dem Himmel, Blei und Zeit eine bis in die Gegenwart währende Verknüpfung eingehen:
„Komm! Ins Offene, Freund! Zwar glänzt ein Weniges heute
Nur herunter und eng schließet der Himmel uns ein.
Weder die Berge sind noch aufgegangen des Waldes
Gipfel nach Wunsch und leer ruht vom Gesange die Luft.
Trüb ists heut, es schlummern die Gäng und die Gassen und fast will
Mir scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit.“

Einen anderen Wort-Zusammenhang hat Eva Schlegel
selbst hergestellt und zu ihrer Arbeit Primo Levi zitiert, die Erzählung „Blei“ aus der Textsammlung „Das periodische System“. Für eine Rauminstallation in Prag wird sie erstmals Schrift lesbar anbringen, mit Passagen aus diesem Text Levis (nach allen ihren Arbeiten, die Schrift unentzifferbar präsentierten). Aus allen Möglichkeiten der Lektüren und der Verknüpfung: eine Lesart des Materials in der Ordnung des periodischen Systems, gebrochen in radikal autobiographischer Erfahrung und der Reflexion des historischen Geschehens: Im Nachhinein, 1975, im Jahr der Aufgabe seines Berufs als Chemiker, verwendet der Auschwitzüberlebende und Schriftsteller Primo Levi stoffliche und metaphorische Eigenschaften der Elemente, um in kaleidoskopischen Splittern, jeweils unter der Chiffre eines Elements etwas vom traumatischen Verlauf der Geschichte und seinem subjektiven Geschick darin zu sammeln. Was die Texte umkreisen: die unwiederbringlich verlorene Vorstellung einer Kontinuität der Zeit, wie sie ohne den traumatischen Bruch, die Katastrophe hätte gedacht werden können.
Fragmente, Partikel aufgelesen für eine Rekonstruktion von etwas, eines Beginns, dessen zuversichtliche Fortsetzung nie hat stattfinden können, im Erzählen aus der Position des Überlebt-Habens, des Danach, für immer den nie wieder gutzumachenden Verlust festschreiben. Wie es niemals mehr wird erzählt werden können.

Für Quart hat Eva Schlegel eine Sequenz ihrer atmos­phärischen Fundstücke des Zufalls, ephemere Wolken- und Horizontkonstellationen, wie sie aufscheinen und nie wiederholt werden in der genau gleichen Erscheinungsform, wie sie nie willentlich zu generieren sind und wiederholbar gemacht werden können, in das Blei, den Stoff der Aufhebung der Zeit, eingegossen; dazu den Schiffstopos, an der Grenze zur Sichtbarkeit (Sehnsucht! Ferne! Abschied! Überfahrt!). Sie variieren die Themen, mit denen Eva Schlegel seit jeher befasst ist, die Materialität der Erscheinungen zum einen und ihren impliziten assoziativen Gehalt zum anderen, Raumtiefe und plane Oberflächen; il mare è come un specchio, the sea is a glass (mirror). Verfahren der Auslotung („sounding lead“).
„Bleywurff, Bley-Loth, Bley-Schnur, Sonde, Bolis. Ist ein Stück Bley in Gestalt eines Kegels an ein langes Seil gebunden, welches man in das Meer hinunter läßt, so wohl die Tieffe, als auch die Eigenschafft des Grundes zu erforschen. Die Schiffer heißen es Lothen. Man beschmieret nemlich das unterdste Theil des Bleywurffs mit Unschlitt, wodurch geschiehet, daß etwas von Sande oder was sich sonst auf dem Grunde des Meeres befindet, daran anhänget, und mit herauf bringet. Wenn er gantz sauber bleibet, so ist es eine Anzeige, daß der Grund Kieselsteinigt und felsicht ist. Ein solcher Bleywurff wieget insgemein 18 Pfund“.

In die Tiefe und in den Himmel: auch für das Wort „Bleigewölk“ findet das Grimm’sche Wörterbuch eine Referenz in Jean Pauls „Hesperus“:
„blosz den himmel umbrausete ein auf die erde gekrümmtes bleigewölk“.

Zum Bildbeitrag

1   „SPIEGEL IN DER ANTIKE (Geschichte der Erfindungen) hier folgen zu diesem Gegenstand Forschungen, die in die Geschichte der Akademie der Inschriften eingegangen sind und die es verdienen, hier Platz zu finden.
Die Natur hat den Menschen die ersten Spiegel geliefert.
Der Kristall der Wasseroberfläche diente ihrer Selbstliebe, und auf den Spuren dieser Idee haben sie nach Mitteln gesucht, ihr Bild zu vervielfachen.
Die ersten künstlichen Spiegel waren aus Metall.“
2    „Der Spiegel mit planer Oberfläche enthält in dieser seiner Oberfläche die wahre Malerei.“

 

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