zurück zur Startseite

An der Oberfläche kratzen

Wie man die Gene einer Hausmaus lahmlegt. Warum man sich mit 70 Jahren freudig mit der Zukunft beschäftigt. Wie man eine Kindheit in Südtirol vergisst. – Johanna Bodenstab besuchte den Nobelpreisträger Mario Capecchi in seinem Labor in Utah.

Auf dem Weg zu Capecchis Büro im George und Dolores Eccles Institut für Humangenetik an der University of Utah in Salt Lake City kommt man an einem riesigen Plakat vorbei, das in vielen Farben und den unterschiedlichsten Handschriften mit Glückwünschen für den Nobelpreisträger übersät ist. Während ich in einer Interviewpause einige der Ovationen zu entziffern versuche, muss ich daran denken, dass mit so einem großen Stück Papier die Schulzeit für Capecchi begonnen hatte: Als er mit neun Jahren zum ersten Mal in den USA eine Schule besuchte, freilich noch ohne Lesen und Schreiben zu können und mit kaum einem Wort Englisch, ließ ihn seine Lehrerin den Unterrichtsstoff auf plakatgroße Papierbögen zeichnen. Bis heute erinnert sich Capecchi an seine Windmühlen und Schlittschuhläufer: Seine Klasse nahm damals gerade die Niederlande durch.

Er war 1946 mit seiner Mutter von Italien in die Vereinigten Staaten gekommen. Seine frühe Kindheit war von den politischen Verhältnissen und dem Zweiten Weltkrieg überschattet worden. Nach dreieinhalb behüteten Jahren am Ritten oberhalb von Bozen war seine Mutter 1941 als politischer Häftling interniert worden. Der Junge blieb in der Obhut einer Bauernfamilie. Ein Jahr später kam er von dort weg. Lange konnte sich Capecchi nur an eine Odyssee als Straßenkind erinnern. Manchmal sei er für kurze Zeit mit dem Vater zusammen gewesen, dann wieder habe er im Waisenhaus gelebt. Als seine Mutter den inzwischen neunjährigen Sohn 1946 ausfindig machen konnte, lag er halbverhungert und typhuskrank in einem Spital, vermutlich in Reggio Emilia.

Im 16. Jahrhundert wäre Mario Capecchi sicherlich ein großer Seefahrer gewesen, der mit seinen Entdeckungen das Weltbild seiner Zeitgenossen auf den Kopf stellt. Zwar findet sich der unbekannte Kontinent, den Capecchi bereist, weit innen: sein Gebiet ist die DNA, d. h. die genetische Information, die ein Mensch in jeder Zelle seines Körpers trägt. Aber die heutigen Entdeckungen auf dem Gebiet der Humangenetik sind nicht weniger erschütternd für unser Selbstverständnis als Menschen als es vor 500 Jahren die Erkenntnis gewesen sein muss, dass die Erde keine Scheibe ist.

Denn die DNA ist kein menschliches Privileg, sondern verbindet uns mit allen anderen Lebewesen auf der Erde. Sie ist in jedem Organismus präsent und beruht in allen Fällen auf den nämlichen vier chemischen Grundbausteinen, den Basen Adenin, Guanin, Thymin und Cytosin. Der Kontinent der DNA schließt als stillschweigende Übereinkunft der Evolution alle organischen Lebensformen ein. Wegen dieser gemeinsamen Basis kann die Forschung übergreifend arbeiten und Prinzipien, die sie z. B. in der Fruchtfliege entdeckt, auf die genetische Struktur anderer Organismen übertragen. Der tiefen Verbundenheit aller mit allem steht die unermessliche Variationsbreite des vorhandenen genetischen Materials mit seiner faszinierenden Artenvielfalt gegenüber.

Die Gestalt der DNA, um die Capecchis Denken kreist, erinnert zunächst an eine doppelt verzwirbelte Telefonschnur. Wenn man diese Doppelhelix entwindet, ähnelt sie einer Strickleiter, gebildet aus Molekülen, die alle genetischen Informationen eines Organismus enthalten. Diese Strickleiter besteht aus zwei Strängen, in denen sich die vier immer gleichen Grundbausteine in der unendlichen Variationsbreite ihrer Kombinationsmöglichkeiten paarweise zur genetischen Sequenz aufgereiht haben.

Beim Menschen besteht diese Sequenz aus 3 Millionen Basen-Paaren, deren Kombination inzwischen genau bestimmt ist: 2001 hat das Human Genome Project seine Arbeit an der Sequenzialisierung des menschlichen Genoms nach 10 Jahren Forschung abgeschlossen. Wenn man dieses Genom niederschriebe, erklärt mir Mario Capecchi, dann würde es mit 3000 Zeichen pro Seite und 1000 Seiten pro Band 1000 Bände füllen. In jeder Zelle des menschlichen Körpers liegt also eine Bibliothek bereit. Diese Metapher enthüllt durch ihre Schwere und Sperrigkeit, wie gewaltig der Vorrat an Informationen ist, der komprimiert in der Doppelhelix der DNA auf seine Entfaltung wartet.

Natürlich vermitteln die 1000 metaphorischen Folianten der genetischen Bibliothek auch einen deutlichen Begriff von der Komplexität der Forschungen, die Mario Capecchi betreibt: Die Sequenzialisierung, die in den Büchern festgehalten ist, bildet einen Code, den bisher niemand vollkommen entschlüsselt hat. Denn er hat mehrere Bedeutungsebenen: Er gibt nicht nur Aufschluss über die Entwicklung der Gattung. Er dient auch als Anleitung, damit der einzelne Mensch zur Verkörperung der genetischen Information wird, die aus Ei- und Samenzelle zusammengeschlossen ist, damit er werden kann. Außerdem enthält der Code Anweisungen, die das physiologische Tagesgeschäft betreffen, solange ein Mensch lebt. Dabei räumt Capecchi ein: „Wir wissen noch nicht einmal, wie wir den Teil bestimmen sollen, von dem die ganze Steuerung tatsächlich ausgeht.“

Schnell verliert sich die Ordnung der Bibliothek an die Dynamik des vitalen Prozesses. Es herrscht eine ungeheure Betriebsamkeit in jeder Zelle unseres Körpers, die sich Capecchi als Wissenschaftler zwar nicht völlig erklären kann, die er aber seit Jahrzehnten mit großem Erfolg beforscht. Dass er trotz der Komplexität des Forschungsgegenstandes seinen Kurs als Wissenschaftler gehalten hat, hängt mit einer Entdeckung zusammen, die er in den 80er Jahren machte und für die er im Dezember 2007 mit dem Nobelpreis für Physiologie/Medizin ausgezeichnet wurde. Vor gut 20 Jahren war es ihm gelungen, mit dem sogenannten „Gene Targeting Of Mammalian Stemcells“ eine gezielte Methode der Genmanipulation in Säugetierzellen zu entwickeln, die für das gesamte Feld der Humangenetik richtungsweisend wurde und die inzwischen zur Arbeit im Labor gehört wie ein Kompass zum Navigieren.

Es fällt ihm nicht leicht, über seine Kindheit zu sprechen, obwohl seine Geschichte die Runde macht, seit er den Nobelpreis gewonnen hat. Capecchi selbst hat sie 1996 in Zusammenhang mit der Verleihung des Kyoto-Preises zum ersten Mal veröffentlicht. In seinem Essay „Werdegang eines Wissenschaftlers“ reflektiert er über mögliche Zusammenhänge zwischen seiner Kindheitserfahrung und seinem späteren Erfolg als Wissenschaftler. Dabei fragt er sich u.a., ob seine hohe Konzentrationsfähigkeit, die es ihm heute erlaubt, seine äußere Umgebung völlig zu vergessen, während er in Gedanken einer Problemstellung nachgeht, sich aus seiner Gedankenverlorenheit erklären könnte, die er als Kind in langen Phasen großer Sorge erlebte. Er kommt zu dem Schluss: „Was ich aus meiner eigenen Erfahrung gelernt habe, ist, dass die genetischen und die Umweltfaktoren, die zu solchen Begabungen wie Kreativität beitragen, gegenwärtig zu komplex sind, als dass wir sie bestimmen können.“

Die eigene Geschichte führt Capecchi an die Grenzen des wissenschaftlich Messbaren. Sie eignet sich nicht als exemplarische Erfolgsgeschichte und entzieht sich der Objektivierung. Die Entwicklung, die ein Mensch im Laufe seines Lebens nimmt, lässt sich weder prognostizieren noch kalkulieren. So kann dieser Lebensbogen von der Gosse zum Olymp der Wissenschaften einen nur Wunder nehmen. Als ich ihn frage, wie er mit seiner Geschichte lebt, stellt sich heraus, dass der kleine Junge aus Südtirol bis heute durch Mario Capecchis Leben irrlichtert. Seine Zeit in Europa bleibt untergründig gegenwärtig: „Ich glaube, was man nicht ablegen kann, sind die Bilder, das was man gesehen hat. Die Bilder bleiben. Wenn die sich einstellen, dann geht man einfach darüber hinweg. Und wenn man an der Geschichte rührt, dann rührt man auch an den Bildern und darin liegt ein Risiko.“

Es hat lange gedauert, bis das Interview mit dem Nobelpreisträger endlich zustandekommen konnte, denn er ist ein vielbeschäftigter Mensch: Die Reise nach Stockholm zur Preisverleihung, der Jahreswechsel und Gespräche mit Kandidaten für einen der begehrten Forschungsplätze in seinem Labor schoben meinen Termin mit Mario Capecchi immer wieder hinaus. Auf seinem Schreibtisch liegt die zu erledigende Korrespondenz in beeindruckenden Stapeln und er begrüßt mich mit der Feststellung, dass er noch einen Forschungsantrag zu formulieren habe, der in 10 Tagen fällig sei. Er könnte die meiste Zeit auf Reisen verbringen, besonders seit dem Nobelpreis erhält er Einladungen aus allen Teilen der Welt. Aber das Zentrum seiner Arbeit bleibt weiterhin sein Labor im Institut für Humangenetik an der University of Utah.
Als er 1973 von Harvard nach Utah kam, bestand sein Labor aus zwei Labortechnikern und ihm selbst – heute ist es mit 19 Doktoranden und Fellows, unterstützt von 21 Technikern, das größte Labor des Instituts. An den Donnerstagen kommen die Forscher zusammen, um über den Gang ihrer Projekte zu berichten und sich auszutauschen. Capecchi selbst hat kaum noch Zeit zum eigentlichen Experimentieren. Heute hält er die Forschung als Berater auf Kurs. Er lenkt den Strom der Gedanken, koordiniert die divergierenden Forschungsschwerpunkte seines Labors, wahrt den Überblick und beschafft die nötigen Mittel, um die Forschung zu fördern. Im Alter von 70 Jahren beginnt er sich vorzustellen, dass die genetische Forschung irgendwann ohne ihn stattfinden wird. Als er jünger war, habe er sich nie gefragt, ob seine Zeit reichen würde, Antworten auf seine Forschungsfragen zu finden.

Capecchi trifft diese Feststellung über seine eigene Sterblichkeit geradezu mit Interesse. Veränderungen regen sein Denken an. Es gehört zur Stärke seines Intellekts, dass er die Umstellung liebt. Da sich die genetische Forschung mit rasender Geschwindigkeit weiterentwickelt, verlange sie vom Wissenschaftler geistige Flexibilität und die Bereitschaft, sich über vertraute Bezüge hinauszudenken. Im Laufe seiner Karriere hat Capecchi seine Perspektive als Forscher auch immer wieder absichtlich gewechselt. Er liebt es, seine Gehirnzellen aufzurütteln und sich als relativer „Newcomer“ in unbekannte Gebiete vorzutasten – von der Bakteriologie in die Stammzellenforschung, aber auch in die Entwicklungs- und die Neurobiologie. Es sei erfrischend, sich neue Zusammenhänge zu erschließen; das verhindere Festgefahrenheit, findet er, und erlaube dem Denken, die Richtung zu wechseln. Vielleicht erklärt diese Abenteuerlust, ja, diese Bereitschaft, sich selbst immer wieder aus dem Vertrauten zu reißen und neu zu erfinden, wie es Capecchi gelingen konnte, etwas zu entdecken, das es vor ihm in dieser Form noch nicht gegeben hatte: eine Neuigkeit, die dann ihrerseits Veränderungen bewirkte und fortfährt, Neues zu erschließen.

Capecchi gelang es zuerst, verändernd in das Genom eines Säugetieres einzugreifen – und zwar in das einer Hausmaus. Für die genetische Forschung war das ein bedeutender Schritt vorwärts. Das „Gene Targeting“ stellt eine methodologische Zuspitzung dar, weil es der Zufälligkeit von im Labor herbeigeführten Genmanipulationen ein Ende bereitet. Mit Hilfe dieser Methode können Wissenschaftler in ihren Experimenten jedes beliebige Gen gezielt k.o. schlagen oder aktivieren. Dabei kommen die erzielten genetischen Veränderungen schließlich in jeder Zelle des manipulierten Organismus vor und werden auch im Erbgut weitergegeben. So gewinnt die Laborforschung gegenüber der Natur an Autonomie; denn nun kann sie z.B. an einer ganzen Großfamilie von k.o.-Mäusen eingehend studieren, was sie zuvor nur im Einzelfall beobachten konnte.

Natürlich stürzt kein Forscher die kleinen Nager leichtfertig ins Elend einer Mutation. Auch erlebt die Maus keine Veränderung mit, sondern lebt eine Manipulation aus, die sie in ihrem Erbgut mitbekommen hat. Denn das „Gene Targeting“ erfolgt in vitro, durch Einspritzung in Stammzellen. Diese Zellen sind für die Forschung der genetische Rohstoff par excellence: Sie sind totipotent und undifferenziert zugleich, d.h. sie sind noch vollkommen unentwickelt, aber zu allem fähig. Die Treffsicherheit der Methode – dass also das eingespritzte genetische Material sich an der beabsichtigten Stelle ins Mäuse-Genom integriert – liegt derzeit bei 1 zu 1000. Nur diese 1000. Stammzelle in ihrer schönsten Ordnung darf ihren genetischen Werdegang tatsächlich antreten und das Potenzial ihrer Entwicklungsfähigkeit ausleben. Sie wird in eine Blastozyste eingespritzt, d.h. in ein Keimbläschen, das nach der Befruchtung einer Eizelle auf dem Weg ist, sich zum Embryo zu entwickeln. Erst jetzt lässt die Forschung die Petrischalen hinter sich, denn die behandelten Blastozysten werden nun Mäusen eingepflanzt, die wie Mietmütter Schwangerschaften austragen, mit denen sie genetisch nichts zu tun haben. Die erste Generation von Mäusen, die auf diesem Weg nach 3 Wochen Tragzeit in die Welt gesetzt werden, ist ein Zwischenprodukt: Ihre DNA weist lediglich einen durch die gezielte Manipulation veränderten Strang auf. Erst wenn man Brüderchen und Schwesterchen zur Inzucht paart, wird das manipulierte Gen dominant vererbt. So entsteht die zweite Generation, bei der die beabsichtigte Manipulation in beiden Strängen der DNA vorkommen kann.
Und fertig ist die mutierte k.o.-Maus.

Zugegeben: All das klingt eher kompliziert als abenteuerlich. Aber die Höhenflüge der genetischen Forschung erklären sich nicht allein aus der Risikobereitschaft eines Forschers, der es wagt, seiner wissenschaftlichen Intuition zu folgen. Sie basieren ebenso auf methodologischer Präzision und genau durchdachten Experimenten. Ohne seine Liebe zum Detail müsste ein Forscher in der geheimnisvollen Sequenz des genetischen Codes in die Irre gehen. Mario Capecchi ist weder ein Fantast noch ein Pedant. In seinem Geist bilden Imagination und Pragmatismus eine fruchtbare Synthese. Deshalb wurde seine Vision des Möglichen durch seine nüchterne Einschätzung des Machbaren auch nicht verdunkelt. Umgekehrt bereitete sein methodisches Vorgehen den Boden für den großen Sprung der Genetik in ihre Zukunft.

Natürlich arbeitete Capecchi vor über 20 Jahren nicht daran, der Laborforschung einen komplexen Prozess zur systematischen Erzeugung genetisch manipulierter Versuchstiere zu erschließen. Sein Ausgangspunkt war die Idee, Gene gezielt zu manipulieren, was in der Realität damals noch als unmöglich galt. Letztlich wollte Capecchi nicht nur eigene genetische Textstellen in die Bibliothek des Genoms einschmuggeln, sondern er wollte die genetische Sequenz umschreiben. Das zentrale Problem, das sich ihm dabei stellte, war, wie er die Gast-DNA dazu bringen sollte, das in sie eingeschleuste genetische Textfragment an der von ihm beabsichtigten Stelle zu platzieren. Niemand konnte damals abschätzen, ob er sich in einen Science Fiction hineinfantasiert hatte. Doch anstatt seine Vision aufzugeben, begann er ihre Möglichkeiten gezielt zu erforschen. Einen Weg, genetisches Material mit mikroskopisch feinen Kanülen in Zellkerne einzuspritzen, hatte er bereits in den späten 70er Jahren gefunden. Dann begann er zu verstehen, wie sich die DNA die molekularen Neuzugänge aneignet, und fand Wege, sich dieses Prinzip bei seinen Manipulationen zunutze zu machen. 1984 hörte er von Mäuse-Stammzellen, die der Brite Martin Evans entwickelt hatte, und wandte das bisher Gefundene auf diese Säugetier-Zellen an. Im Laufe von Jahren arbeitete sich Capecchi beharrlich auf die Verwirklichung seiner Ursprungsidee zu.

Durch den Nobelpreis ist Bewegung in Capecchis Vergangenheit gekommen: Nach seiner Nominierung griff die Presse seine Geschichte auf. Die Hintergrundrecherche einiger Journalisten hat seine früheren Darstellungen in manchen Punkten relativiert, dabei aber vor allem die hermetische Perspektive seiner Kindheitserinnerungen kenntlich gemacht. Tatsächlich hatte der Wissenschaftler in seinem bisherigen Leben kaum Gelegenheit gehabt, sich mit anderen über seine Erinnerungen auszutauschen: Die Mutter wollte bis zu ihrem Tod nicht mehr von der Vergangenheit sprechen. Zum Vater gab es keinen Kontakt: Er hatte sämtliche Ansprüche an den Sohn aufgegeben, damit dieser mit der Mutter Europa verlassen konnte. Im Sprachverlust des Deutschen und des Italienischen fiel die Welt zwischen Ritten und Reggio aus allen Bezügen.
So kommt es, dass sich Capecchis Erinnerungen nicht unbedingt mit historischen Fakten decken, die sich anhand von Dokumenten etablieren lassen. Es fehlt zum Beispiel jeder Anhaltspunkt dafür, dass seine Mutter tatsächlich im KZ Dachau gefangen gehalten wurde, obwohl er immer davon ausgegangen war. Ungeklärt bleibt auch, in welchem Krankenhaus die Mutter ihren Sohn nach dem Krieg aufgefunden hat. Aber die spektakulärste Diskrepanz hat mit Mario Capecchis Weggang aus Südtirol im Alter von viereinhalb Jahren zu tun: Obwohl dem Melderegister der Gemeinde Ritten zu entnehmen ist, dass das Kind im Juli 1942 von seinem Vater dort abgemeldet wurde und dann in Reggio Emilia von den Behörden als beim Vater lebend eingetragen wurde, sind Mario Capecchi nur sporadische Begegnungen mit seinem Vater erinnerlich. Es war ihm auch vollkommen neu, dass ihn sein Vater bei der Bauernfamilie, mit der er seit der Verhaftung seiner Mutter lebte, offenbar abgeholt hatte.

Der Nobelpreisträger hat keine Erklärung für sein Vergessen. Im Gespräch stellt er einen möglichen Zusammenhang zu Spannungen her, die zwischen seinen Eltern bestanden: Die Mutter hatte sich gegen eine Eheschließung entschieden und wollte ihren Sohn lieber alleine großziehen. Während Capecchi mit Bewunderung über diese Entschlusskraft spricht, weil alleinerziehende Mütter in den 30er Jahren noch ein soziales Stigma trugen, äußert er sich über seinen Vater als einen aufbrausenden und brutalen Menschen. Ob er zornig war, weil er sich zurückgesetzt fühlte, oder ob ihm die Mutter einen Korb gab, weil ihr seine Aggression unerträglich war, bleibt ungeklärt.

Das Schweigen, das über Capecchis Vergangenheit lag, wurde auch von zahlreichen europäischen Briefschreibern gebrochen, die sich zu erinnern begannen, sobald sie in ihrer Zeitung über den Nobelpreisträger und seine Vergangenheit lasen. In diesen Briefen bekommt Capecchi vielleicht zum ersten Mal aus seiner frühen Kindheit erzählt: Ein Herr aus Bozen schreibt ihm von dem Kind aus Ritten, das Mitglied in einer Bande von Straßenkindern war, die der Briefschreiber anführte. Ein katholischer Priester erinnert sich an das Kind im Waisenhaus und an allem, was dieser Priester schildert, kann Capecchi ablesen, dass er das erinnerte Kind ist. – Zuletzt wird aus seiner Kindheit doch mehr als ein dunkler Traum. Sie hat ihren Zusammenhang mit der andernorts verwahrten Erinnerung. Die Zeiten haben sich geändert: Heute fließt das Gespräch zwischen den Kontinenten. Von solchen Veränderungen ist Capecchi selbst wohl am meisten fasziniert.

Der Nobelpreis steht an der Spitze einer langen Liste internationaler Auszeichnungen, die Mario Capecchi im Laufe seiner Karriere erhalten hat. Ich bewundere am Tag unseres Interviews in seinem Büro neben der goldenen Nobel-Medaille etliche seiner Urkunden. Die meisten stehen gerahmt auf dem obersten Bord seines Bücherregals, so dass auch der Preisträger selbst zu ihnen aufschauen muss. Er begegnet mir völlig ohne die Attitüde eines erfolgreichen Menschen. Er spricht sehr leise und sieht mich beim Reden kaum an. Jedes Wort scheint aus den Tiefen der DNA gesprochen. Er ist in seinem Element. Während er mir die komplexe Funktion bestimmter Gene schildert, lassen seine Hände für mich Knochenstrukturen und Nervenbahnen entstehen. Ich werde hineingezogen in die Arbeit der 39 hox-Gene: Sie sind ein physiologischer Ordnungsdienst, der die Arbeit anderer Gene in den unterschiedlichen Lebensphasen eines Menschen, angefangen mit der Entwicklung des Embryos, koordiniert. Dank dieses eingespielten Teams schlägt das Herz am rechten Fleck; sie passen auf, dass sich an der Stelle der Lungen nicht etwa die Nieren bilden und umgekehrt. Sie scheinen aber auch für die Proportionen der Gliedmaßen zu sorgen. Sie bringen die Nervenbahnen, die vom Rückenmark ausstrahlen und die Muskulatur durchziehen, auf die richtige Schiene. Sogar in der Gehirnfunktion ist ihre Aktivität nachweisbar.

Alles, was man heute über diese 39 Gene weiß, hat Capecchis Labor mit Hilfe der k.o.-Mäuse herausgefunden. Aber selbst mit dem „Gene Targeting“ bleibt es schwierig, die speziellen Funktionen aller 39 Team-Mitglieder zu bestimmen, weil die hox-Gruppe in wechselnden Konstellationen operiert. Selbst auf dem Gipfel seines Erfolges erliegt Capecchi keiner Illusion über die Unermesslichkeit dessen, was in der Genetik auch weiterhin unverstanden bleibt: „Etwas, das mir immer Sorgen bereitet, ist die Frage, ob wir überhaupt über das nötige Werkzeug verfügen. Möglichweise ist die Komplexität so groß, dass wir nicht einmal an der Oberfläche kratzen.“

Tatsächlich stehen jedem Genom, das inzwischen erforscht ist, hunderte noch unbekannte gegenüber; für jede Krebsart, deren genetische Voraussetzungen man zu verstehen beginnt, gibt es unzählige, die weiter unerforscht bleiben; die Maus ist das bisher einzige Säugetier, auf dessen Gene die von Capecchi entwickelte Methode des „Gene Targeting“ angewandt wurde; eine chemische Reaktion, die in den Zellen eines Säugetieres in Millisekunden eintritt, kann in der Versuchsanordnung im Labor einen ganzen Tag brauchen, um abzulaufen. Allerdings hadert Mario Capecchi nicht mit dieser Realität. Er verwickelt sich in kein Drama der Selbstzerfleischung. Dass die Forschung mit ihrer Technologie und ihren Methoden der Eleganz und Komplexität natürlicher Abläufe derzeit noch weit hinterher hinkt, tut seiner Begeisterung als Wissenschaftler keinen Abbruch. Unvollkommenheit ist keine Niederlage, sondern eine Aufforderung zum Weiterdenken. Es ist eine Lust ihm zuzuhören. Seine Arbeit scheint ihn nicht zu erschöpfen, sondern zu beleben wie ein Kind sein Spiel.

Dieses spielerische Element ist Indiz für die Entspanntheit seiner Situation als Professor. Capecchi braucht nicht auf marktfähige Ergebnisse und Profite zu spekulieren. Er muss Forschungsmittel sichern, aber diese Gelder finanzieren in erster Linie einen Erkenntnisprozess. Deshalb ist es für Capecchi kein Unglück, wenn viele der hox-Gene auch weiterhin im Dunkeln arbeiten wie ein Geheimdienst. Das wichtigste Ergebnis ihrer Erforschung sind derzeit weiterführende Fragen: Wie lässt sich die Methode des „Gene Targeting“ erweitern, so dass multiple Gene deaktiviert werden können, damit ihr Zusammenspiel durchsichtig wird? Wie kann man die Beteiligung der hox-Gene an den Proportionen der Gliedmaßen bestimmen? Wenn diese Bestimmung gelingt, wird man dann Gliedmaßen erzeugen können? Das Studium der hox-Gruppe führt das Denken aber auch über das Vergleichen hinaus auf die Beobachtung des Unterschiedlichen zu: Der gleiche Satz von 30 Knochen bildet bei der Maus eine Vorderpfote mit Krallen, gruppiert sich beim Menschen zur Hand mit einem mobilen Daumen und gestaltet sich bei der Fledermaus als Flügel, dessen Größe ihre Körperlänge überschreitet. Wie ist es möglich, dass dieselben physiologischen Elemente in verschiedenen Säugern solch unterschiedliche Gestaltungen erfahren? Diese Verschiedenheit ist umso verblüffender, als sich z.B. die DNA einer Maus mit der eines Menschen zu 95% deckt. Verwaltet also der kleine Rest von 5% die gewaltigen Unterschiede? Mit der Frage nach der Gesetzmäßigkeit des voneinander Abweichenden steht Mario Capecchi als Forscher erneut vor einem großen Problem. Was für eine Freude!

Bisher ist wenig über die Konsequenzen bekannt, die das Wissen mit sich bringt, an dessen Erschließung Forscher wie Capecchi arbeiten. Wie kontrollierbar werden Eingriffe in die DNA sein? Sind einmal in Gang gesetzte Prozesse noch aufzuhalten? – Grundsätzlich scheint eine skeptische Haltung gegenüber der Genetik angebracht. Aber vielleicht reproduziert sich darin auch nur die alte Angst, dass ins Nichts stürzen muss, wer den Rändern der Welt zu nahe kommt. Bekanntlich hat sich dann herausgestellt, dass der Rand und die Scheibe nur in den Köpfen existierten. Ohne das Risiko, das Columbus mit seiner
Entdeckungsreise einging, hätte man das allerdings niemals herausgefunden.

Was würde aus dem Elend unserer Krankheiten, wenn wir ihm mit Hilfe der genetischen Forschung entkommen könnten? Was, wenn wir fragen könnten „Tod, wo ist dein Stachel?“ und es wirklich meinen dürften? Wenn mich mein Auge ärgert, kann ich dann ein anderes bekommen? Natürlich sind solche Fragen reine Überschreitung. Das macht sie lustvoll und beängstigend im selben Atemzug. Kann straffrei ausgehen, wer so fragt? Werden die Modell-Mäuse ihre Schöpfer für die möglichen Verfehlungen des „Gene Targeting“ über die Ränder der Welt hinausjagen?

2003 hat Capecchi einen Aufenthalt in Trento genutzt, um das Haus wiederzufinden, in dem er die ersten dreieinhalb Lebensjahre verbracht hatte. Eine lokale Zeitung druckte das einzige Foto ab, das der Wissenschaftler vom Haus am Ritten besitzt, und die Leserschaft machte es tatsächlich in der Ortschaft Wolfsgruben ausfindig. Plötzlich stand er vor dem Bild seiner Erinnerung – Haus und See waren gänzlich unverändert. Aber er entdeckte noch etwas anderes: „Ich lebe hier in Utah in den Bergen und von dort habe ich einen Blick über drei Bergrücken. Unser Haus ist wie eine Berghütte. Und als wir in Wolfsgruben waren und uns umsahen, da sieht das Haus von damals aus wie das Haus, in dem ich heute lebe – und man hat auch einen Blick über drei Bergrücken auf die Dolomiten.“

Was man nicht ablegen kann, sind die Bilder. Manche verfolgen einen, manche halten aber auch an einem fest. Sie sind einem so lieb, dass man niemals aufhört, in ihnen zu leben. Auch wenn man es vielleicht nicht merkt. An schönen Tagen hat man von Capecchis Büro einen Blick auf die Berge auf der anderen Seite von Salt Lake City. Am Tag unseres Interviews sind sie wolkenverhangen. Aber das macht nichts. Sie sind immer da, auch wenn man sie nicht sieht.

 

im Heft weiterblättern


Email

registrieren

Ihre Email-Adresse wurde bei uns registriert und zur Liste der Newsletter-Abonnenten hinzugefügt.
Sie erhalten in Kürze ein Bestätigung per Email.