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Schuberts Gefährte

Der Dichter Johann Chrysostomus Senn wäre heute vergessen, hätte nicht Franz Schubert zwei seiner Gedichte vertont. Dabei hatte der Ex-Revoluzzer noch ganz anderes zu bieten. Von Franz Gratl

Immer wieder hat die einst weitab von den kulturellen und politischen Zentren gelegene Gegend um Landeck bedeutende Persönlichkeiten hervorgebracht, die auswärts ihre Bestimmung fanden, wie den großen Barockbaumeister Jakob Prandtauer (1660–1726) aus Stanz bei Landeck oder den vor allem mit seinen Opern und Liedern international erfolgreichen Komponisten Joseph Netzer 1808–1864) aus Zams – und den Dichter-Philosophen Johann Chrysostomus Senn. Er wurde 1795 in Pfunds im Oberen Gericht als Sohn des Landrichters und Abgeordneten zum Tiroler Landtag Franz Michael Senn (1759–1813) geboren.1 Sein Vater tat sich als Hauptmann der Pfundser Schützen und Verfasser programmatischer Streitschriften in den Tiroler Freiheitskämpfen hervor, verlor mit der Angliederung Tirols an Bayern 1806 sein Amt als Landrichter und organisierte einen Aufstand gegen die bayerische Regierung. Die Aussichtslosigkeit der Lage erkennend, ging Franz Michael Senn als „alleinerziehender Vater“ – die Mutter des Dichters war depressiv gewesen und hatte 1802 Selbstmord begangen – nach Wien und erhielt eine Beamtenstelle. Johann Chrysostomus Senn besuchte ab 1807 das Wiener Akademische Gymnasium und kam nach dem frühen Tod des Vaters ins von den Piaristen geführte Wiener Stadtkonvikt, wo er Freundschaft mit einem weiteren später berühmten Zögling schloss: Franz Schubert. Schon damals fiel der Tiroler zum einen als streitbarer Heißsporn und zum anderen als großes dichterisches Talent auf. Senn inskribierte Philosophie, Medizin und Rechtswissenschaften an der Universität Wien, schloss aber keines dieser Studien ab. Vielmehr etablierte er sich als eine der Zentralfiguren des Freundeskreises um Franz Schubert, zu dem als besondere Vertraute Senns auch Franz von Bruchmann und Franz von Schober gehör-ten – das Triumvirat der „Dioskuren im Schubert-Kreis“.2

1819 schloss sich Senn einer verbotenen Studentenverbindung an und zog bald das Misstrauen des Metternich’schen Regimes auf sich: Das Interesse am Deutschen Idealismus Schellings, die Verehrung Goethes und der Frühromantiker um Schlegel und Tieck3, liberales Gedankengut und die Abscheu vor dem allgegenwärtigen Polizei- und Zensurwesen einten die Schar Gleichgesinnter. Senn, stets der Rädelsführer und geistige Kopf aller aufrührerischen Ideen, geriet 1820 in offenen Konflikt mit den Behörden, wurde verhaftet und verbrachte einige Zeit im Kerker. In einem Dekret der Polizeidirektion Wien wurde „über das unanständige Benehmen des Verhafteten bey der angeordneten Visitation und Beschlagname seiner Schriften sowie über die gegen die Reg[ierun]g von ihm ausgestossenen Beleidigungen“ berichtet.4 Senn wurde schließlich nach Tirol abgeschoben, also gewissermaßen vom geistigen und politischen Zentrum des Reiches an die Peripherie. Alle Aussichten auf eine Karriere wurden damit zunichte gemacht, Senn musste für einen Advokaten einfache Schreiberdienste leisten, seine finanzielle Situation verschlechterte sich zusehends und er geriet in Schulden. Diese Umstände bewirkten eine zunehmende Verbitterung des einstigen Feuerkopfes – Anton Edlinger bezeichnete Johann Chrysostomus Senn als „ein Opfer des vormärzlichen Österreich, vielleicht das größte, edelste“.5 In seiner tristen Lage trat Senn 1823 anstatt eines vom Los bestimmten Italieners in das Militär ein, wodurch seine Schulden getilgt wurden. Nach acht Jahren Dienst bei den Tiroler Kaiserjägern musste er 1832 als Leutnant aus gesundheitlichen Gründen austreten. Die folgenden Jahre war er wieder als Schreiber und Winkeladvokat zunächst in Salzburg und ab 1836 in Innsbruck tätig – arm und resigniert, dem Alkohol verfallen und ohne Aussicht auf Anerkennung fristete er die letzten 25 Jahre seines Lebens.

Schwer traf ihn der Misserfolg der gesammelten „Gedichte“ aus dem Jahr 1838, die bei Wagner in Innsbruck erschienen und die einzige Druckausgabe von Werken Senns blieben. Die „Gedichte“ sind geprägt von Senns philosophischer Gedankenwelt des frühromantischen Idealismus, besonders die Epigramme; die griechische und römische Antike bestimmt nicht nur die Thematik, sondern prägt auch häufig die Form, indem Senn klassische Versmaße benutzt. Hinzu kommen zahlreiche klar autobiographisch intendierte Gedichte – Senn sah sich zum Beispiel als an die Berge Tirols angeschmiedeter, gefangener Prometheus – sowie poetische Hommagen an Dichterkollegen, Komponisten und Freunde Senns. Nicht nur der Misserfolg der ambitionierten Publikation, sondern auch die Anfeindungen der in Tirol dominierenden Ultramontanisten setzten Senn in den späten Innsbrucker Jahren zu; der Einsatz von Hermann von Gilm und Adolf Pichler, die Senn als Vaterfigur der Tiroler Dichtkunst verehrten, bewirkte wenig in einem reaktionären, restaurativen und von politischer Repression bestimmten Klima. Johann Chrysostomus Senn starb am 30.09.1857 in Innsbruck.

Die Senn-Vertonungen Franz Schuberts

Die Vertonungen der beiden Senn-Gedichte Selige Welt und Schwanengesang entstanden vermutlich im Herbst oder Winter 1822 und wurden 1823 zusammen mit Die Liebe hat gelogen auf eine Textvorlage August Platens und Schatzgräbers Begehr auf ein Gedicht des Schubert-Freundes Franz von Schober als Opus 23 veröffentlicht. Man mag in dieser Zusammenstellung eine Hommage Schuberts an die „Dioskuren“ Senn, Bruchmann und Schober sehen: Bruchmann hatte den Komponisten auf Platen aufmerksam gemacht. Möglicherweise erhielt Schubert das Manuskript mit den beiden Senn-Gedichten aus der Hand Franz von Bruchmanns, der den Dichter 1822 in Tirol besuchte. Beide Texte finden sich nicht in der späteren Buchausgabe der Gedichte Johann Chrysostomus Senns. Das Autograph des Schwanengesangs befindet sich in Senns Nachlass in der Ferdinandeums-Bibliothek (W 5496).6 Das Lied Selige Welt wirkt wie eine Vorstudie zu Der stürmische Morgen und Mut! aus der Winterreise, den letzten impulsiven Ausbrüchen schwindender Lebensenergie, dominiert von der Wut der Verzweiflung. Senns Gedicht ist bestimmt von Resignation und somit ein Spiegel seiner Befindlichkeit im Tiroler Exil; die „selige Welt“ schwebt dem Getriebenen als Utopie vor.

Selige Welt

Ich treibe auf des Lebens Meer,
Ich sitze gemut in meinem Kahn,
Nicht Ziel, noch Steuer, hin und her,
Wie die Strömung reißt, wie die Winde gahn.

Eine selige Insel sucht der Wahn,
Doch eine ist es nicht,
Du lande gläubig überall an,
Wo sich Wasser an Erde bricht.

Alle Lieder aus Schuberts Opus 23 sind düster gestimmt; Verzweiflung und Ausweglosigkeit prägten die Situation Schuberts wie Senns zu jener Zeit: Schubert wurde definitiv mit der Diagnose Syphilis konfrontiert, Senn fristete ein in keinster Weise seinem Wesen und seinen intellektuellen Fähigkeiten entsprechendes Dasein in pekuniär prekären Umständen. Den Schwanengesang hat Schubert vielleicht auf sich selbst bezogen und ein selten zu hörendes Meisterwerk geschaffen; insbesondere die reiche Chromatik wirkt wie eine Vorwegnahme spätromantischer Tonsprache.

Schwanengesang

„Wie klag’ ich’s aus, das Sterbegefühl,
Das auflösend durch die Glieder rinnt?
Wie sing’ ich’s aus, das Werdegefühl,
Das erlösend dich, o Geist, anweht?“

Er klagt’, er sang,
Vernichtungsbang,
Verklärungsfroh,
Bis das Leben floh.
Das bedeutet des Schwanen Gesang!

Senn hat überdies seinem Freund Schubert in dem Gedicht An Franz Schubert – so der Titel im Autograph, in der Gedichtausgabe von 1838 heißt es An S. den Tondichter – ein Denkmal gesetzt, das von großer Wertschätzung Senns für den verstorbenen Freund und Komponisten zeugt und auf Gestalten der antiken Mythologie Bezug nimmt, wie bei Senn so häufig.

Senn-Vertonungen von Tiroler Komponisten

Unter den Gedichten Johann Senns wurden insbesondere die Adlerlieder7 und vor allem Der rote Tiroler Adler populär und in unterschiedlichen Melodiefassungen zu einem Volkslied. In seinem Bericht über eine Reise durch „Tyrol und Steiermark“ um 1845 zitiert Johann Gabriel Seidl diesen Text und preist ihn als „eines Könners würdig“8. Das nationale Pathos und der kriegerische Ton des Gedichtes berühren heute eher unangenehm und haben dazu geführt, dass deutschnationale und konservative Kreise in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dieses Gedicht ganz entgegen Senns eigenen liberalen, humanistischen Ansichten vereinnahmten 9.

Der rote Tiroler Adler

Adler, Tiroler Adler!
Warum bist du so rot?
Ei nun, das macht, ich sitze
Am First der Ortlerspitze,
Da ist’s so sonnenrot,
Darum bin ich so rot.

Adler, Tiroler Adler!
Warum bist du so rot?
Ei nun, das macht, ich koste
Von Etschlands Rebenmoste,
Der ist so feuerrot,
Darum bin ich so rot.

Adler, Tiroler Adler!
Warum bist du so rot?
Ei nun, das macht, mich dünket,
Weil Feindesblut mich schminket,
Das ist so purpurrot,
Darum bin ich so rot.

Adler, Tiroler Adler!
Warum bist du so rot?
Vom roten Sonnenscheine,
Vom roten Feuerweine,
Vom Feindesblute rot,
Darum bin ich so rot.

Im Jahr 1892 schrieb der Tiroler Sängerbund einen Kompositionswettbewerb über die Vertonung dieses Textes aus:
„(Vom Tiroler Sängerbund.) In der Delegirten-Versammlung des Tiroler Sängerbundes am 16. d. M. wurde unter anderem auch beschlossen, die Vertonung des bekannten Liedes von Johann Senn: ,Tiroler Adler‘ im Wege der freien Konkurrenz zur Ausschreibung zu bringen, unter welchen Modalitäten, ob mit oder ohne Preisgewinn, wurde noch nicht vereinbart. Diesem Beschlusse gegenüber wird in nahestehenden Sängerkreisen dagegen geltend gemacht, daß die beabsichtigten Bemühungen völlig zwecklos erscheinen, nachdem über obgenanntes Gedicht bereits zwei Vertonungen vaterländischer Komponisten vorliegen, und zwar das seinerzeit im Verlage bei Johann Groß in Innsbruck in Druck erschienene Lied von Freiherrn von Tschiederer, und ein zweites vom königlich preußischen Hofopernsänger Herrn J. Bletzacher in Hannover, welches vom Genannten in dessen ,Liederbuch des Deutschen und österreichischen Alpenvereins‘ aufgenommen wurde, daselbst beim Verleger Adolf Nagel für 3 Mark 50 Pf. im Jahre 1887 erschienen ist, und allen vaterländischen Gesangsvereinen wegen der vielen brauchbaren und noch wenig bekannten Original-Kompositionen zum Ankaufe bestens empfohlen wird. Mehr Anklang würde eine zeitgemäße patriotische Dichtung finden, welche den Helden von 1809 in einer schwungvollen Hymne oder Fest-Kantate bei Gelegenheit der Denkmal-Enthüllungsfeier am Berg Isel zum Gegenstande hat, wovon Herr Dr. Ludwig Frankl bereits im Jahre 1884 in dessen Sammlung ,Andreas Hofer im Liede‘ einen beachtenswerthen Behelf herausgab. Bei einer allfälligen Preis-Ausschreibung sollte nur auf einheimische Dichter und Musiker Rücksicht genommen und der Wettbewerb beschränkt werden.“10

In der Ausschreibung wird die Vertonung Ernst von Tschiderers (1830–1916) für Männerchor erwähnt, die der Komponist 1863 zur 500-Jahr-Feier der Vereinigung Tirols mit Österreich für die Innsbrucker Liedertafel schrieb. Tschiderer, damals einer der renommiertesten Komponisten Tirols und außer mit Symphonischen Dichtungen besonders mit Lied- und Chorkompositionen erfolgreich, komponierte ein überaus effektvolles, pathosgeladenes Chorstück (C-Dur, „Feurig“) mit fanfarenartiger Dreiklangsmotivik. Es ist auffällig, dass die drei bedeutendsten Vertonungen des Roten Tiroler Adlers – Tschiderer, Pembaur, Senn (ein entfernter Verwandter des Dichters Senn) – die Besetzung für Männerchor vorsehen. Die Laienchöre als gesellige Vereine und „Speerspitze“ nationalistischer Bewegungen erlebten ab ca. 1850 eine Blütezeit.
Tschiderer war der 1842 gegründeten Innsbrucker Liedertafel sehr verbunden, Pembaur zeitweise ihr Chormeister, ebenso Karl Senn (1878–1964). Die Vertonung (A-Dur, „Schwungvoll“) des Innsbrucker Musikvereinsdirektors Josef Pembaur (1848–1923) ist musikalisch gehaltvoller als die primär auf äußere Wirkung zielende Komposition Tschiderers, aber von den gleichen musikalischen Elementen geprägt: Besonders der Beginn mit der wiederum fanfarenartigen Anrufung des Tiroler Adlers scheint an die Komposition des älteren, mit Pembaur befreundeten Tschiderer angelehnt. Die Fassung Josef Pembaurs wurde 1898 im Boten für Tirol und Vorarlberg begeistert rezensiert, wobei insbesondere die „volksthümlichen“ Qualitäten der Vertonung gelobt wurden. Zeittypisch ist die Bezugnahme auf das „alte urkräftige Volksthum“:

„Das Lied ,Der rothe Tiroler Adler‘ von J. Pembaur, op. 65. (Gedicht v. J. Senn.) Welcher Tiroler kennt nicht das Lied vom Tiroler Adler, wie es Johann Senn vor einem halben Jahrhundert nur in Worten dem Volke gegeben, für das er einst seine Freiheit geopfert hatte, aber wer singt es? Das Volk, sonst nicht verlegen im Erdichten einer Weise für die ihm geläufige gebundene Sprache, fand hier noch keine Melodie, welche ebenso lebenskräftig geworden wäre wie das Gedicht selbst, und was jenem nicht gelungen war, gelang auch dem Einzelnen bisher nicht in bedeutenderem Maße, so dass die Worte ohne das schmucke Kleid der Melodie sich im Volksmunde erhalten mussten. So war Senns Tiroler Adler bisher weder ein Volkslied im musikalischen Sinne, noch ein volksthümliches Lied geworden. Wohl gibt es nicht bloß eine, sondern viele Compositionen über das Gedicht, aber keine ist über den Raum der Entstehung hinausgedrungen, um das Gemüth des Volkes zu erfreuen und sich in demselben heimisch zu machen. Nun erschien im Verlage ds Joh. Groß (S. Reiß) in Innsbruck vor kurzem eine Composition des akad. Musikdirectors Jos. Pembaur in Innsbruck, welche uns wirklich geeignet erscheint, mit größerem Glücke die Reise durch die Gaue unseres Vaterlandes anzutreten und ein wahres Gemeingut der Tiroler, wenigstens der musikalisch gebildeten, zu werden.

Das Lied, ursprünglich für vierstimmigen Männerchor componiert, ist auch in der Bearbeitung für eine Singstimme mit Clavierbegleitung (auch mit Clavier allein ausführbar) in demselben Verlage erschienen. Aus dem Werke weht uns eine erquickende volkstümliche Frische entgegen, aber treffend, und voll Feuer wie die Worte sind die Töne, die ganze Anlage zeigt den Schwung des geübten Componisten, der es versteht, nicht nur in seiner eigenen, sondern auch in der Seele des Volkes zu lesen, wenn es gilt, für das Volk zu schreiben. Sehr gelungen erscheint uns die Gliederung in zwei rhythmisch verschiedene Theile, der zufolge die Frage ,Adler, Tiroler Adler, warum bist du so roth?‘ in schwungvollem Marschtempo in leuchtendem E-Dur beginnt und sich in erhöhtem Glanze nach Fis-Dur ausbreitet. In frischbewegtem Dreivierteltakt folgt in jeder Strophe die Antwort, ,vom rothen Sonnenscheine, vom rothen Feuerweine, u.s.w.‘, durch welchen Tactwechsel die Composition ungemein belebt wird. Einen Hauptvorzug werden alle kleinen Gesangsvereine darin erblicken, dass das Einstudiren wegen der leichten Abfassung absolut keine Schwierigkeiten verursacht, da die musikalischen Ideen in einem volksthümlichen Kleide, einfach, aber edel und deshalb wirkungsvoll erscheinen. Die Stimmführung ist überall angenehm fließend, die ganze Stimmung ist sonnig hell. So können wir dieses neue holde Kind unserer heimischen Kunst nur mit wärmstem Interesse begleiten auf seiner Reise durch das Tirolerland, damit es alle diejenigen erfreute, in denen das alte urkräftige Volksthum wurzelt, und die mit diesem Volksthume auch die Liebe zum Gesange als alte Hinterlassenschaft in ihrer Brust hegen. Glück auf zum Wege!“ 11

In der Reihe „Mein Heimatland Tirol“ des Verlages Adolf Robitschek (Wien und Leipzig) erschien um 1920 die Fassung Karl Senns, eines Schülers von Josef Pembaur. Die Tonsprache Senns ist moderner, dennoch stehen die unmittelbare Wirkung und leichte Ausführbarkeit als Grundlage der Verwendung im Bereich des Männerchorwesens wiederum im Vordergrund. Und wieder die Dreiklangsmotivik! – Eine Besonderheit dieser Fassung ist, dass die Autorenangabe lautet: „Komponist unbekannt. Bearbeitet von Karl Senn“ – offenbar hat Senn also eine verbreitete Volksmelodie für das Lied aufgegriffen und einen Satz dazu geschrieben. Karl Senn hinterließ eine weitere Vertonung eines Gedichtes seines dichtenden Namensvetters Johann Chrysostomus, Rätsel op. 137/6 („Kennst du der Lämmer schneeige Schar“), ein Lied für Singstimme und Klavier ohne alle volkstümlichen Anklänge.12

Alle maßgeblichen Vertonungen des Roten Tiroler Adlers stammen von „vaterländischen“, also Tiroler Komponisten und gehören in die Blütezeit nationalistischen Gedankenguts, die von der 1848er-Revolution bis zum 2. Weltkrieg andauerte. Die Komponisten trafen mit ihren relativ leicht ausführbaren, effektvollen und nationales Pathos bewusst betonenden Chorliedern den Zeitgeschmack und die Erfordernisse des Laienchorwesens zielsicher, wie die zitierten Kritiken beweisen; dem Dichter Senn und seiner Gedankenwelt stehen Schuberts Vertonungen zweifellos näher.

Schon zu Lebzeiten war Johann Chrysostomus Senn als Dichter ein Unzeitgemäßer, eine tragische Figur; nach seinem Tod wäre er wohl vollkommen in Vergessenheit geraten, wäre er nicht mit Franz Schubert befreundet gewesen und wären nicht Gedichte aus seiner Feder vom großen Liedkomponisten vertont worden; allerdings erlangte auch sein Roter Tiroler Adler zu einer bestimmten Zeit eine gewisse Popularität, die der eher sperrigen Lyrik des Tiroler Dichters sonst nie beschieden war.

1   Zur Biographie Senns siehe u. a. „Senn, Johann“, in: Constant von Wurzbach, Biographisches Lexikon des Kaiserthums Österreich, Wien 1877, Band 34, 119–1229; „Senn, Johann“, in: Vinzenz Gasser, Biographisches Schriftstellerlexikon von Tirol, Band 3, 267; Adolf Pichler, „Johann Senn. Ein Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte“, in: Deutsches Museum. Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben, Nr. 31, 153–171, Moriz Enzinger, „Zur Biographie des Tiroler Dichters Joh. Chrys.  Senn“, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 156 (1930), 169–183 und zuletzt Sigurd Paul Scheichl, „Senn, Johann Chrysostomus“, in: Österreichisches Biographisches Lexikon, 56. Lieferung, Wien 2002. 177–78.
2   Ilja Dürhammer, „Dioskuren im Schubert-Kreis: Senn, Bruchmann und Schober – das philosophische Triumvirat“, in: Schubert durch die Brille (Juni 1997), 64–80.
3   Senn und Bruchmann wurden besonders von der „pantheistischen Phase der Jenenser Romantiker“ angezogen und konnten deren Hinwendung zum Katholizismus nicht nachvollziehen, wie Ilja Dürhammer betont; siehe ders., Schuberts literarische Heimat. Dichtung und Literaturrezeption der Schubert-Freunde, Wien 1999, 101. Senn blieb sein Leben lang antiklerikal und pantheistisch gesinnt, während Bruchmann ab 1822 eine Wendung vollzog und später in den Redemptoristenorden eintrat.
4   Wiedergabe des Dekrets bei Moritz Enzinger, „Franz Bruchmann, der Freund J. Chr. Senns und des Grafen Aug. v. Platen. Eine Selbstbiographie aus dem Wiener Schubertkreise nebst Briefen“, in: Veröffentlichungen des Museum Ferdinandeum 10 (1930), 117–379, hier 286–87.
5   [Anton Edlinger], „Beiträge zur deutschen Literaturgeschichte. Aus Alt-Österreich. I. Hermann von Gilm“, in: Literaturblatt, herausgegeben von Anton Edlinger, I. Band, Nr. 6 (2. August 1877), 81–84, hier 81.
6   Siehe E[llen] H[astaba], „An Franz Schubert – Schwanengesang“, in: Sammellust. 175 Jahre Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum [Ausstellungskatalog], Innsbruck und Wien 1998, 92–93, mit Faksimile der Autographen der im Titel genannten Gedichte Senns.
7   Johann Chrysostomus Senn, Gedichte, Innsbruck 1838, 84–115, Der rote Tiroler Adler: 114–115.
8   Siehe Johann Gabriel Seidl, „Das malerische und romantische Deutschland. Zehnter Band: Tyrol und Steiermark“, Leipzig 1847, 73.
9   Sigurd Paul Scheichl, „Josef Leitgebs Essay über Johann Chrysostomus Senn“, in: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 20 (2001), 125–138, hier 133.
10   Tiroler Stimmen Nr. 242 vom 22. 10. 1892, o. p.
11   Bote für Tirol und Vorarlberg vom 24. 03. 1898 (84. Jg., Nr. 67), 532–533.
12   Autograph im Nachlass Karl Senn, Tiroler Landesmuseen, Musiksammlung (A – Imf), M 7873. Die Vorlage fand Karl Senn wohl in der Gedichteausgabe von 1838, 59.

 

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