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Das Risiko, verstanden zu werden

Neulich in einem Innsbrucker Kaffeehaus: Philipp Mosetter findet ein Inserat und versteht die Welt (nicht mehr).

Gleich beim ersten Entdecken wurde ich von einer lange nicht mehr gekannten inneren Temperatur erfasst. Ich fühlte mich plötzlich zu Streit aufgelegt. Das hatte ich schon lange nicht mehr. Sofort wollte ich mutig zu Stift und Papier greifen und öffentlich die Herausforderung annehmen. Die schönsten Tiraden und elegantesten Wendungen taten sich vor mir auf. Als hätte ein Unachtsamer seine noch glimmende Zigarette in eine Kiste voll Feuerwerkskörper geworfen, schossen mir Erleuchtungen und Rechthabereien durch den Kopf, dass es nur so eine Freude war. Mir war, als hätte mich eine seltene Muse geküsst. Und all das nur wegen einer einzigen Vokabel in einer kleinen Kleinanzeige, irgendwo im Anzeigenfriedhof auf Seite XY einer unbedeutenden Provinzzeitung versteckt. Nur ein einziges Wort, noch nicht einmal ein existierendes, sondern ein seltsam verbogenes Kunstwort, funkte mir solcherart und unvermittelt in meine geruhsame Zeitungslektüre: „Männerversteherin“. In diesem Wort fasst sich eine ganze Epoche gesellschaftlicher Entwicklung zusammen. „Männerversteherin!“ Und liefert gleichzeitig ein seltsames Zerrbild von dem, was ursprünglich – zur Geburtsstunde der Emanzipation – einmal gedacht und diskutiert wurde.

Und noch während ich mich frage, ob ich, als Mann, überhaupt ein Recht habe, zu sagen, wie das damals alles gedacht gewesen war, flaniert auch schon ein Bild der Männerversteherin von heute vor meinem inneren Auge. Nein, ich kann nicht sagen, wie es gedacht war. Ich kann nur sagen, wie es heute aussieht. Es sieht aus wie eine Marktlücke. Männer machen nicht mehr die Probleme, sie haben jetzt Probleme. Und dann wird, ganz und gar unemanzipatorisch, die große mütterliche Brust zum Ausweinen angeboten, eine allesverstehende Umarmung beerdigt den gerade erst in Fahrt gekommenen Konflikt. Möglicherweise ein kalkuliertes Spiel mit alten Rollenbildern und modernen Marketingmethoden. Wie auch immer, die Vokabel ist eine Herausforderung. Es ist noch nicht so lange her, da wurde in den Charts gefordert „Neue Männer braucht das Land“. Übrigens auch die Hymne der Frauenversteher von damals. Aber immer der Reihe nach.

Möglicherweise ist es ja überhaupt das Vernünftigste, einfach die Nummer neben dem schönen Wörtchen „Männerversteherin“ anzurufen und die Dame einmal zur Rede stellen. Allerdings, wenn man sich unvorbereitet mit jemandem konfrontiert, der noch vor jeglicher Begegnung bereits für sich in Anspruch nimmt, dich zu verstehen, hat man leicht einmal das Nachsehen. Die Männerversteherin versteht mich ja schon, das muss ich erst einmal aufholen. Ich verstehe mich ja nicht, sonst würde ich ja nicht eine Michversteherin anrufen müssen. Da sollte man sich schon ein bisschen vorbereiten. Ich sollte mir das Wort wohl erst einmal genauer anschauen, bevor ich zum Telefonhörer greife und mich einem solchen Risiko aussetze, verstanden zu werden. Denn das wird unvermeidlich sein. Irgendwann werde ich anrufen, und die andere Seite wird mich unmittelbar verstehen. Der Rest der Zeit wird dann wahrscheinlich damit ausgefüllt sein, mir das Verstandene zu verdeutlichen, sozusagen beizubringen, so dass am Ende auch ich mich selbst verstehen kann.

Bereits der erste Teil ist vielschichtig zu lesen: „Männer“. Vergessen wir nicht, es ist eine Anzeige, es soll also damit jemand angesprochen werden.

Wahrscheinlich Männer. Wie der weitere Text in der Anzeige zu präzisieren weiß, Männer mit Problemen. Unklar bleibt jedoch, ob hier eine Unterscheidung gemacht wird zwischen Männern mit Problemen und Männern ohne Probleme, oder ob eventuell Männer und Probleme synonym gelesen werden sollen, also dass Männer an sich Probleme haben, beziehungsweise sind. Wie auch immer, in jedem Fall haben wir es mit einer Frau zu tun, die sich auf Männer spezialisiert hat. Soviel lässt sich mit Gewissheit sagen.

Der zweite Teil des Wortes macht dann noch ein paar weitere Dimensionen auf: „Versteherin“. Abgesehen von der Substantivierung, die so was Modisch-Lockeres hat und von dem noch gesondert zu sprechen sein wird, geht es offensichtlich um das Verstehen. Der Feststellung, etwas zu verstehen, ist die Behauptung implizit, dass es hier überhaupt etwas zu verstehen geben muss, dass also etwas Unverstandenes vorliegt. Ein Phänomen, das es zu verstehen gilt. Ein Geheimnis soll gelüftet, eine Entdeckung gemacht werden. Damit, und das ist der entscheidende Vorgang, wechselt die Deutungshoheit. Hatte bislang das Unverstandene noch die alleinige Macht darüber, wie es zu verstehen wäre (durch genau die Unverständlichkeit geschützt, die mit dem Verstehen jetzt geknackt werden soll), so muss das Unverstandene jetzt den Anspruch der Deutung an den Verstehenden (in unserem Fall: die Verstehende) abgeben. Wer von sich selbst behauptet: Ich verstehe!, reklamiert damit die Macht der Deutung für sich. Die Deutungshoheit wandert vom Zuverstehenden zur Verstehenden. Und damit gehorcht ab sofort das Zuverstehende den Gesetzen des Verstehenden (also in unserem Fall: der Verstehenden). Diese Aneignung verändert. Verstehen verändert. Damit aber noch nicht genug. Aus der Werbung kennen wir die Methode, durch Wortschöpfungen eine Alleinstellung am Markt zu erzielen. Auch die Männerversteherin ist so eine Wortschöpfung und
macht sie sofort zu der Männerversteherin schlechthin. Sie reklamiert für sich unangefochtene und allgemeingültige Kompetenz. Sie müssen schon entschuldigen, aber ich will vorbereitet sein, wenn ich da anrufe.

Diese Sicht wirft ein gewisses Licht auf den Therapieansatz, der in dem Angebot enthalten ist. Er macht einerseits einen etwas selbstgestrickten Eindruck, so wie das Wort eben auch selbstgestrickt ist und vor allem Originalität und Kreativität beweisen will. Es wird wahrscheinlich recht locker und entspannt zugehen, möglicherweise ist man schnell beim Du, an der Wand werden Zertifikate von Workshops und diversen Vertiefungskursen hinter Glas prangen. Aber ich will nicht vorgreifen mit billigen Mutmaßungen. Noch habe ich ja nicht angerufen, ich bin ja erst bei den Vorbereitungen.

Das Wort ist zwar selbstgebastelt, aber keineswegs neu. Schon in den späten 70er und frühen 80er Jahren des letzten Jahrhunderts entstand im Zuge der Frauenbewegung ein ähnlicher Begriff: der „Frauenversteher“, wie oben bereits erwähnt. Und das war damals keineswegs als Kompliment zu verstehen. Das waren gewissermaßen die Streber der Frauenbewegung. Da stellt sich schon die Frage, an welche Tradition hier angeknüpft werden soll. Natürlich hatten die Männer damals, und durchaus auch heute noch, mit dem Geschlechterkrieg so ihre Schwierigkeiten, so war die Sache ja auch gemeint. Das war ja kein Spaziergang, da wurde schon auch mit harten Bandagen gekämpft. Vor 30, 40 Jahren ging es noch rau und kompromisslos zur Sache, vielerorts wurde schlicht gefordert: „Schwanz ab!“ – egal jetzt mal warum. Natürlich versuchten einige den Anforderungen durch Mimikri zu entkommen, wie eben die Frauenversteher. Hat in der Regel aber nichts genutzt. Heute wird nicht mehr gestritten, heute wird verstanden. Der Konflikt hat sich ins Fernsehen verlagert. In Talk- und Reality-Shows werden die Meinungsträger aufeinander gehetzt, aber immer ist einer dabei, der versteht. So eine Männerversteherin wäre eine ideale Besetzung für die Couch in einer dieser Nachmittagssendungen mit Publikum. Sie kommt durch die Schwingtür, wird vom Moderator oder der Moderatorin begrüßt und muss gleich mal sagen, was denn so eine Männerversteherin ist. Sie würde beginnen mit einer Formulierung wie: „Ja nun, im Grunde ist es ganz einfach, Männer zu verstehen.“ Alle Spezialisten mit dem Hang zur Öffentlichkeit versuchen, über so einen Einstieg ihre Kompetenz zu untermauern. Während alle anderen sich im Alltag noch schwer tun, haben sie schon verstanden und können sich zurücklehnen, denn es ist im Grunde ja ganz einfach. Das Fernsehen ist überhaupt eine optimale Einrichtung, um die ganzen selbstgedrechselten Kompetenzen zu entsorgen. Unsere Männerversteherin wäre wie gesagt perfekt für solche Sendungen, denn sie hat unmittelbar die Gelegenheit, ihr Verständnis am lebenden Objekt unter Beweis zu stellen. Jetzt kann das Verstehen öffentlich und live demonstriert werden, die Diskussion wird hitzig, nur die Männerversteherin bleibt ganz ruhig, denn sie versteht ja. Wie gesagt, ich will vorbereitet sein, bevor ich dort anrufe.

Inzwischen hat sich das Verstehen zum zentralen Element in unserer Konfliktkultur entwickelt. Es gibt kaum noch eine Möglichkeit, sich unverständlich zu machen. Alles wird begleitet von Leuten, die in jedem Fall verstehen. Der Versteher ist gewissermaßen der Paparazzo der Seele. Ein solcher Versteher (oder in unserem Fall: eine solche Versteherin) findet überall etwas zum Verstehen. Jede Geste, jeder Halbsatz, jede noch so kleine Vorliebe oder Abneigung wird sofort verstanden. Ja, es wird schwer werden, der Versteherin wieder das Verständnis von einem selbst zu entreißen. Zumal der lockere Tonfall, in dem dieses Kunstwort schwingt, ja deutlich signalisiert, dass sie Distanz zu ihrer Profession pflegt. So wie das Verstehen ist auch die selbstironische Distanz zum eigenen Tun und zu den eigenen Überzeugungen Konsens und Ausdruck von coolness.

Bevor ich anrufe, möchte ich mir noch schnell die ersten Sätze zurechtlegen. Ich könnte natürlich auch schweigend anrufen, nur meinen Namen nennen und dann in den Hörer hineinschweigen und ihr die Wahl des möglichen Problems überlassen. Mich sozusagen von ihren verstehenden Fragen führen lassen. Das wäre möglich. Jetzt, genau in diesem Moment kommt eine Dame zur Tür herein, steuert zielsicher auf die am Nebentisch bereits wartende Freundin zu, sie begrüßen sich lautstark und bewegungsintensiv, so dass eine der Handtaschen meine Kaffeetasse so wirkungsvoll umstößt, dass auf meiner Hose der denkbar ungünstigste Fleck entsteht. Ich hatte keine Chance zu reagieren. Ich versuche, ihn etwas abzutupfen, und als wäre nichts geschehen – das Missgeschick nur mit einem kurzen, beiläufigen Nicken bedenkend – beginnen die beiden sofort und in allen Einzelheiten einen Erfahrungsaustausch über die letzten Kurse, die sie offensichtlich gemeinsam oder parallel belegt haben. Sie sprechen vom „systemischen Ansatz“, von „Aufstellung“, lauter Psychologismen, dazwischen kurz von dem Neuen der Dings, der sogar beim Shoppen mitgeht, dann wieder Bewusstsein und Selbsterfahrung und überhaupt ist alles ungeheuer spannend. Da ich mich im Moment sowieso nicht wirklich frei bewegen kann, erst wieder, wenn der Fleck wenigstens ein bisschen abgetrocknet sein wird (aber es ist Kaffee, der Anblick wird nicht ästhetischer werden), habe ich mich entschlossen, lieber keine lautstarke Szene zu machen, bei der ich ohne Zweifel aufstehen müsste, um meine Anklage hervorzubringen und zu beweisen, was dann dem gesamten Kaffeehaus Gesprächsstoff liefern würde. So bleibe ich also sitzen, nehme mein Handy zur Hand, drehe mich ein wenig zur Wand und wähle die Nummer der Männerversteherin.
Aber es meldete sich nur der Anrufbeantworter.

 

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