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Traumstadt Meran

Jede echte Leidenschaft ist ein Rätsel, und Rätsel wollen ergründet werden. Darum geht es hier: Wie kommt Meran zu so viel Liebe? Von Ulrich Ladurner

Die Antwort der Touristiker ist klar: Klima, Vegetation, Sonne, Licht, Luft. Das mache Meran attraktiv. Doch diese Erklärung beschränkt sich auf Äußerlichkeiten. Das genügt nicht, um das Rätsel zu klären. Den Touristikern aber reicht die Zuneigung der Dichter. Franz Kafka, Stefan Zweig, Ezra Pound, Gertrud Fussenegger, Christian Morgenstern haben sich hier aufgehalten und haben in ihren Briefen, Gedichten und Romanen ein Lob auf die Stadt gesungen. Braucht man noch mehr Beweise? Offensichtlich ja, denn lokale Rechercheure sind damit beschäftigt, die Aufenthalte bekannter und weniger bekannter Künstler in Meran bis ins Detail zu ergründen. Sie wühlen hartnäckig in den Archiven, um Spuren zu finden, die sie hinterlassen haben, jeden Stein drehen sie um, und hinter jeden Baum und jeden Strauch werfen sie einen Blick. Könnte ja sein, dass der Künstler etwas von sich hinterlassen hat, und wenn es nur ein Buchstabe ist, den er entlang der rauschenden Passer spazierend verloren hat. Es wird alles gesammelt, was Merans Ruhm als Muse der Kunst belegen könnte. Und manches wird hinzugefügt. Gedichtzeilen auf Parkbänken, unter lauschigen Bäumen, Sinnsprüche auf den Parkplätzen, mitten im Smog, Reime über Reime, wo man sie nicht vermutet hätte.

Das Beste, was den Rechercheuren geschehen kann, ist freilich, Spuren der Stadt in den Werken der Künstler zu finden. Also, wenn zum Beispiel der weltberühmte Gabriel Garcia Márquez hier gewesen wäre und in einem seiner liebestollen Bücher Meran auch nur eine hitzige Zeile gewidmet hätte, was denken Sie, was da los gewesen wäre? Meran hätte wohl ein dreitägiges Symposium zu dem Thema „Der Einfluss Merans auf die lateinamerikanische Literatur“ veranstaltet. Die Stadt hätte keine Kosten gescheut, die berühmtesten Schriftsteller dieses Kontinents einzufliegen, selbst wenn sie im tiefen Feuerland lebten. Wenn es um Meran geht, scheut Meran keine Mühen. Meran lebt davon, sich als Traumstadt zu vermarkten. Wenn der dunkle Gottfried Benn sich hier wohl gefühlt hat, der sieche Kafka und der schräge Morgenstern, dann kann doch das ganze Spektrum der Menschheit in dieser Stadt sich einfinden. Meran will aus dem Image, ein Liebling der Dichter zu sein, möglichst viel Kapital schlagen. Das Poetische an der Liebe zu Meran ist darüber längst zum Glamour verkommen. Kafka, Benn, Zweig, Pound – das ist Namedropping in einem globalen Aufmerksamkeitswettbewerb. Meran selber produziert ja keinen Glanz. Oder gibt es etwa einen Meraner Bürger, dem der Glamour quasi natürlich eigen wäre? Keiner ist bekannt. Aus dem eigenen Inneren strahlt bei Meran wenig, nur die Sonne tut es von oben herab, und das 300 Tage im Jahr, wie in jeder Broschüre für Touristen zu lesen steht.

Den Mangel an eigenem Glamour müssen andere ausgleichen. Da gab es zum Beispiel 1981 das Finale der Schachweltmeisterschaft zwischen dem linientreuen Sowjetrussen Anatoli Karpow und dem staatenlosen, exilierten Russen Anatoli Kortschnoi. Was war das für eine Show! Die beiden fochten stellvertretend für die Supermächte den Kalten Krieg am Schachbrett aus. 50.000 Zeitungsartikel sind über diese Weltmeisterschaft publiziert worden, 50.000 Mal erschien das Wort Meran, von Hammerfest bis nach Kapstadt, von Berlin bis nach Tokyo war es zu lesen. Das Turnier fand im Hotel Bristol statt, das selbst der Stein gewordene Wunsch nach glamouröser Größe war. Gebaut in den 50ern von dem italienischen Reeder Arnaldo Bennati sah es aus wie ein riesiger Luxusliner, der am Fuße der Berge für immer angelegt hatte. Wie ein Eroberer entwarf Bennati auf dem Reißbrett seine großen Pläne. Er spürte das innerste Bedürfnis Merans und ging daran es zu befriedigen. Sophia Loren kam zur Eröffnung in das Bristol. Es folgten eine Reihe von Stars und Sternchen. Bennati zündete ein Feuerwerk. Das war nach dem Geschmack der Stadt. Trotzdem strandete der Reeder hier. Der Erfolg wollte sich nie richtig einstellen, schließlich ging das Hotel 1991 endgültig pleite. Bennati hatte das Richtige für Meran gemacht, doch hatte er die falsche Herkunft. Er war Italiener. Wie eine zickige Braut hatte ihn Meran zwar aufgenommen, aber nie recht in seine Arme geschlossen. Trotzdem, das Bristol half Meran, die Illusion aufrecht zu erhalten, im Mittelpunkt der Welt zu stehen. Der Kampf zwischen Karpow und Kortschnoi war ein Höhepunkt in der internationalen Karriere Merans. Das Duell der beiden Schachtitanen inspirierte die Musiker von ABBA, Benny Anderson und Björn Ulveaus, ein Musical namens „Chess“ zuschreiben. Es spielt in Meran und Bangkok und
machte, wie sollte es anders sein, die kleine Stadt noch weltberühmter als sie ohnehin schon war.

Meran, Meran, Meran. Vielleicht kommt man dem Rätsel der Liebe zu dieser Stadt näher, wenn man diesen Namen einfach wiederholt, so wie es ein Betender tun würde oder ein Werbefachmann. Meran, Meran, Meran – wer das nur lange genug leise nachspricht, wird sich fragen, ob die Stadt überhaupt existiert, oder ob es sich bei diesem Wort nicht eher um ein Mantra handelt, eine inhaltsleere Beschwörungsformel. Dafür spricht, dass die Künstler, die hier zu Gast waren, zwar über Meran schreiben, aber so gut wie nie über ihre Bewohner, die Meraner, ganz so als existierten sie nicht.
Eine Stadt ohne Menschen ist Meran, gefüllt nur mit den Träumen seiner Gäste. Diese Menschenleere ist der tiefere Grund für die Sogkraft Merans, für ihre über alle Grenzen hinauswirkende Attraktivität. Darin liegt das Geheimnis der ihr entgegengebrachten innigen Liebe. Niemand stört, kein Bauer, kein Arbeiter, kein Bürger. Nichts als Blumen und Blüten, nichts als Licht und Luft, nichts als Ruhe und Rast. Wer möchte da nicht kommen? Wer fühlte sich nicht angezogen durch dieses Paradies auf Erden?

1946 kam Gerda Bormann nach Meran. Europa lag in Trümmern, Meran nicht, weil es – das Glück verlässt die Stadt nicht – von der Gewalt des Krieges im Großen und Ganzen verschont geblieben war. Es gab nichts zu bombardieren, was der Mühe wert gewesen wäre. Es gab nie eine Front, die mitten durch dieses Gebiet gelaufen ist. Hier zogen nur die Soldaten durch, die in den Krieg mussten, und solche, die aus dem Krieg geschlagen zurückkamen. Viele blieben hier, um sich heilen zu lassen, so weit dies möglich war. Meran war in beiden großen Kriegen Lazarettstadt. Die Schrecken des Krieges hallten wider in den Klagen der Verwundeten, er zeigte sich in ihren stumpfen Augen, und wirkte fort in ihren zerstörten Seelen. Doch Meran als Stadt blieb verschont, unversehrt und unverletzt. Sie hatte Glück in dem großen Unglück der Welt. Sie behielt auch inmitten des Schlachtens etwas Unwirkliches, Traumhaftes.

1946 also kam Gerda Borman, gezeichnet vom Krebs und ohne Aussicht auf langes Überleben. Tatsächlich starb sie noch im selben Jahr. Sie war die Frau von Martin Borman, dem gefürchteten Leiter der Parteikanzlei der NSDAP. Die glühende Nationalsozialistin hatte sich einen Namen gemacht, weil sie sich öffentlich für die „Volksnotehe“ einsetzte. Demnach sollte es Männern erlaubt sein, mehrere Frauen zu heiraten. Notwendig sei dies nach Auffassung der gelernten Kindergärtnerin, um Deutschland „völkisch aufzustocken“. Gerda Bormann ging beispielhaft voran. Sie gebar dem nationalsozialistischen Deutschland zehn Kinder und förderte ihren Mann nach Kräften, wenn er sich daran machte, junge Frauen zu erobern. Sie beriet ihn dabei so gut sie konnte und es war wohl auch ihren Ratschlägen zu verdanken, dass Martin Bormann zu einem der bekanntesten und erfolgreichsten Schürzenjäger des Dritten Reiches wurde. Er verführte die Frauen unter ihren Augen.

Warum ist Gerda Bormann nach Meran gekommen?
Darauf gibt es keine klare Antwort. Wahrscheinlich, um hier in Ruhe sterben zu können. Die Stadt hatte durchaus den Ruf, sich als Versteck für flüchtige Nationalsozialisten zu eignen. Immerhin ließ sich nach dem Krieg auch Anton Malloth in Meran nieder, der Aufseher des Gestapogefängnisses in Theresienstadt gewesen war. Er lebte hier fast vierzig Jahre lang unbehelligt. Möglich ist aber auch, dass Meran für Frau Bormann nur eine Durchgangsstation sein sollte. Südtirol lag direkt auf dem Weg, den viele Nazis nahmen, um mit Hilfe des Vatikans nach Südamerika zu entkommen. Die amerikanischen Geheimdienste nannten diese Route die Rattenlinie. Meran war ein Ort, der sich ohne Probleme widerstandslos durchschreiten ließ. Er bot Schutz und öffnete ein Tor ins Freie. Meran war ein Traum, auch für Verbrecher. Dem Todesengel von Auschwitz, dem Arzt Josef Mengele, war die Flucht über die Rattenlinie gelungen. Über Genua floh er nach Südamerika. Ob er dabei durch Meran kam oder sich hier aufhielt, ist nicht geklärt. Doch gab es zwischen Meran und Mengele Verbindungen. Seine geschiedene Frau soll hier jahrzehntelang gelebt haben. Als Anfang der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts verstärkt nach Josef Mengele gefahndet wurde, stand im Meraner Stadtviertel Obermais Tag und Nacht ein Wagen der Polizei. Darin saßen Beamte in Zivil. Angeblich überwachten sie das Haus der geschiedenen Frau Mengele. Vielleicht kam ihr ehemaliger Mann ja doch zu ihr, um sich zu verstecken. Doch das war eine leere Hoffnung. Mengele starb, wie sich allerdings erst Jahre später herausstellte, 1979 in Brasilien. Beim Schwimmen im Meer erlitt er einen Herzinfarkt und ertrank. Aus den Briefen und Dokumenten, die seine Familie freigab, ging hervor, dass er bis zum Schluss ein überzeugter Nationalsozialist geblieben war. Er bereute nichts.
Das Haus seiner ehemaligen Frau, das die Polizei observierte, lag nur knappe hundert Meter von einer Straße entfernt, die einen in diesem Zusammenhang bemerkenswerten Namen trägt: Anne Frank. Manchmal parkte der Wagen der Polizisten in dieser Straße. Die Beamten rauchten Zigaretten, langweilten sich, spähten durch die Wagenfenster auf die stille Straße und warteten auf ihre Beute. Was für eine Vorstellung: Der Todesengel von Auschwitz kommt entlang spaziert, während sich die Polizisten eine neue Zigarette anzünden. Er schaut sich um, liest den Straßennamen: „Anne Frank? Anne Frank? Wer ist das doch gleich?“ Er denkt nach, kramt in seinem Gedächtnis: „Anne Frank, Anne Frank, kommt mir bekannt vor, aber …“, dann geht er weiter, missmutig die Worte murmelnd: „Was ich nicht alles vergesse! Ich werde langsam alt!“ In diesen Moment springen die Polizisten aus dem Auto und rufen: „Josef Mengele! Sie sind verhaftet!“ Meran ermöglicht einem solche Fantasien. Selbst wenn sich ein Bewohner Merans solchen Vorstellungen entgegenstemmen würde, wenn er aufstehen und rufen würde: „Das ist alles tendenziöses Gerede!“, könnte man ihn sofort zum Schweigen bringen, indem man antwortete: „Beweisen Sie mir das Gegenteil!“ Gelänge dieser Beweis, wäre er nicht weniger glaubwürdig, als die Behauptung, die er zu widerlegen sich anschickte.

Josefe Mengele entkam nach dem Krieg zuerst nach Buenos Aires. Das gelang ihm nur dank des Regimes eines Mannes, der eine Zeitlang in Meran gelebt hatte: Juan Domingo Peron, der argentinische Präsident mit ausgeprägten Sympathien für die Faschisten. Peron war zwischen Juli und September 1939 in Meran gewesen, als Militärbeobachter. Er stand bei den italienischen Geheimdiensten im Ruf zu spionieren. Dieser Verdacht bestätigte sich nicht, ganz im Gegenteil. Peron studierte mit größtem Interesse das Machtsystem Mussolinis. Als dieser auf der Piazza Venezia in Rom von seinem Balkon zu den Massen sprach, war Peron unter den Zuhörern. Später würde Peron von Balkonen seiner argentinischen Heimat flammende Reden halten, die denen von Mussolini in nichts nachstanden. Er war ein gelehriger Schüler des Diktators. Peron also war in Meran, doch hat er über die Stadt kaum eine Zeile geschrieben, obwohl er eine sehr ausführliche Korrespondenz mit seinen Kameraden der argentinischen Armee unterhielt. Er stieg auf die Berge, um Organisation und Arbeit der Gebirgsjäger zu studieren. Es sind ein paar Fotos von ihm erhalten, die ihn im Schnalstal zeigen. Ein lächelnder, groß gewachsener Mann in Pumphosen und mit Offizierskäppi. Er wirkt wie ein gut gelaunter, jovialer Offizier, der keinem Menschen etwas zu leide zu tun kann. Ein lebensfroher Mann, nichts verrät seine brennende Ambition, die ihn verzehrte. Peron arbeitete schon damals zielstrebig an seiner Karriere. Er wollte Präsident seines Landes werden. Das trieb ihn um. Während er in Meran weilte, Militärkarten musterte, sich mit Bewaffnung und Ausbildung der Gebirgsjäger beschäftigte, muss er sich in die Casa Rosada fantasiert haben, den argentinischen Präsidentenpalast in Buenos Aires. Wie würde es sein, dort zu residieren? Auch die Casa Rosada verfügte über einen Balkon, der für ihn wie für jeden Diktator von zentraler Bedeutung war. Es würde die Bühne sein, von der aus er die Massen in Verzückung setzen konnte.
An seiner Seite Evita Peron, der Liebling Argentiniens. Peron ließ sich bei seinem Aufenthalt in Meran nicht ablenken, nicht einmal von einer der berühmtesten Attraktionen, den sogenannten Meraner Traubenkuren. Der Argentinier unterzog sich einer und schrieb darüber: „Ich mache eine Traubenkur, von der gesagt wird, dass sie in Meran wunderbar sei.
Ich sehe das von der Kur versprochene ‚Mirakel‘ etwas skeptisch. Ich mache sie trotzdem, auch wenn ich mir sicher bin, dass sie keine Auswirkungen haben wird. Andrerseits, da ich nichts habe, was man kurieren müsste, werde ich auch nichts bereuen müssen, außer ich würde mich über die zwei Kilo wunderbarer Trauben beklagen, die ich hier täglich gegessen habe!“
Peron war kerngesund, und so gesehen eigentlich fehl am Platz, als er in Meran war. Denn die meisten Berühmtheiten, die hierher kamen, taten es, weil sie krank oder auf der Flucht waren. Meran ist eine ideale Stadt für die Siechen und Kranken. Peron aber war ein kraftstrotzender Offizier, der einer großen Zukunft entgegenstrebte. Was sollte er da mit Meran? Es war nicht mehr als eine zufällige Station in seinem Leben. Ob Trauben, Sonne oder Luft – das alles konnte ihn nicht beeindrucken.
Und doch zog es auch ihn hin zu dem Traum Meran, oder besser: zu dem Meran, das einen zum Träumen bringen sollte. Die Rede ist von Pferderennen, die Peron mehrmals besuchte. Der Pferderennplatz war 1935 gebaut worden, vier Jahre vor Perons Aufenthalt. Auch dieser immense Platz, größer fast als die Stadt selbst, war dem Wunsch nach Geltung und Glanz geschuldet, der in Meran so allgegenwärtig war. Die „Lotteria di Merano“ wurde schnell zu einem der wichtigsten Pferderennen Europas. Heißblütige Araberpferde galoppierten über das Gras. Gäste aus aller Welt kamen. Die Zuschauer fieberten mit, sie schrien, kreischten und klatschten. Der arme Mann konnte hier vom plötzlichen Reichtum träumen und wer reich war, träumte vom Nervenkitzel, von dem Schauer, der ihn durchfuhr, wenn er große Summen verlor. Wer nur kam um zuzuschauen, konnte einen Nachmittag lang glauben, Teil einer Gemeinschaft zu sein, die den Traum hatte, einem wirklich großen, einem Geschichte machenden Rennen beizuwohnen.

Peron, das kann man sich vorstellen, hielt seine Leidenschaften im Zaum. Als Offizier musste er Haltung bewahren. Wenn „sein“ Pferd gewann, lachte er wohl kurz auf. Mehr öffentlich gezeigte Regung ist nicht vorstellbar. Das Lachen des künftigen argentinischen Präsidenten, das der Zuschauer, die Ansagen aus den Lautsprechern – all das verebbte auf dem großen, weiten Platz, sobald die Pferde ihr Rennen gelaufen waren. Es machte sich Stille breit. Die Stadt war bereit für neue Träume.

 

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