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Brenner-Gespräch (3):
„Dauernde Liebe ist nichts anderes als Trotz.“

So viele Leute fahren über die Alpen. Quart bittet herausragende Persönlichkeiten an den Straßenrand zu einer Jause mit Gespräch. Folge 3: die Schweizer Autoren Jörg Steiner und Peter Bichsel, die gemeinsam den Alpenzoo in Innsbruck besuchten.

Robert Renk: Nach unserem Spaziergang durch die Tierwelt des Alpenraumes interessiert uns natürlich, warum Sie, Herr Steiner, ausgerechnet der Waldrapp so fasziniert?

Jörg Steiner: Als ich ihn zum ersten Mal sah, habe
ich nur bemerkt, dass er unheimlich stank. Dann be-
obachtete ich ihn, wie er mit einem Grashalm im Schnabel ratlos herumlief und nicht mehr wusste, was er mit diesem Halm eigentlich will. – Es fällt mir jetzt auch ein Gedicht ein, das Walter Gross, ein leider völlig vergessener Schweizer Schriftsteller, dem Waldrapp gewidmet hat. Der Waldrapp ist ja ein Ibis und der Ibis gilt als heiliger Vogel. Er war ein Begleiter des Gottes Toth, der die Lebensgeschichten der Menschen aufschrieb. Somit kann man behaupten, dass der Ibis auch der Begleiter des Gottes der Schreiber ist. Der Satz von Gross lautet: „Der Waldrapp – wie alles Heilige gewöhnlich“. So habe ich ihn länger angeschaut und wenn man etwas länger anschaut, dann verliert es die Gewöhnlichkeit und wird durch die Betrachtung zu etwas Außergewöhnlichem. Daran erinnere ich mich jetzt. Später kam dann ein anderer Waldrapp, auch mit einem Halm im Schnabel, und weitere und plötzlich, wie ein gemeinsam aufflammendes Gedächtnis, wussten alle wieder, dass sie eigentlich ihre Nester ausbauen wollten.

Peter Bichsel: Ich erinnere mich, wie Jörg zurückgekommen ist damals und vom Waldrapp erzählt hat, als ob es das Allerwichtigste der Welt wäre. Das habe ich ihm selbstverständlich nicht ganz geglaubt. Dann ist er eine Woche später wieder mit dem Waldrapp daher gekommen. Liebe ist ja eine Entscheidung. Und wenn die Entscheidung sehr kurzfristig und heftig ist, nennen wir es „Liebe auf den ersten Blick“. Das hat mit dem Blick sehr wenig zu tun, sondern viel mehr mit der Heftigkeit. Ich kenne Jörg, ich mag seine Freunde und deshalb mag ich jetzt den Waldrapp auch. Und es ist eine Entscheidung, den Waldrapp anzuschauen, fünf Minuten, zehn Minuten und dann zu sagen: Ich mag diesen Vogel, basta. Da gibt es keine Begründung, es braucht sie auch nicht. Es gibt auch keine Begründung für Liebe. Ich liebe diese Frau, weil sie so gescheit ist, weil sie so schön ist – alles Quatsch! Es ist eine Entscheidung: Ich liebe diese Frau, basta. Jörg ist ein sehr trotziger Mensch und dauernde Liebe ist nichts anderes als Trotz. Ich habe mich entschieden und basta.

R.: Werden solche Entscheidungen nicht hinterfragt?

B.: Wir Autoren werden immer mit Lebensfragen konfrontiert. Ich sitze z. B. in einer Kneipe in Solothurn und trinke zufälligerweise einen Kaffee mit Mineralwasser. Da kommt ein Fremder rein und sagt: Sie sind doch der Herr Bichsel, und meint vorwurfsvoll: Warum trinken Sie keinen Rotwein? Weil er gehört hat, der Bichsel trinkt immer Rotwein. Und würde man nun Jörg Steiner vor dem Gehege des Braunbären antreffen, kommt sicher einer und sagt: Was suchen Sie hier, Sie lieben doch den Waldrapp? Immer dieses Entweder/Oder! Wenn ich sage, ich mag Goethe, dann kommt schon die Frage: Was haben Sie gegen Schiller?
Das sind Festlegungen. Es gibt zwar Gründe dafür, weil der, der behauptet, ich liebe den Waldrapp, setzt ja auch eine absurde Behauptung in die Welt – die dann allerdings nach und nach Gewicht bekommt. Ich habe das z. B. heute erlebt, als wir im Alpenzoo waren. Der Waldrapp ist auf den ersten Blick ein hässlicher Vogel, je länger man ihn beobachtet, umso schöner, umso vertrauter wird er. Durch die Vertrautheit wird er schön, das ist ein Teil des Geheimnisses.

R.: Für welches Tier würden Sie gerne die Patenschaft übernehmen?

B.: Das fällt mir heute etwas schwerer, in bin jetzt älter und in meinen Behauptungen nicht mehr so heftig. Früher wäre es sicher das Nashorn gewesen. Ich habe einmal die Behauptung aufgestellt: Ich liebe das Panzernashorn! Und zwar nur, weil das Panzernashorn mir zufälliger- und blödsinnigerweise bei einer meiner „Kindergeschichten“ eingefallen ist. Der Mann, der sich zum Schluss für das Panzernashorn entscheidet. Auch so eine Entscheidung! Nur muss ich sagen, die-se Entscheidungen werden mit zunehmendem Alter etwas milder. Wir sind nicht mehr so heftig.

R.: Sie hatten auch – wenn man Ihr letztes Buch „Heute kommt Johnson nicht“ ein wenig autobiografisch liest – gewisse Erfahrungen mit einem Stier.

B. (lacht): Ja … „Vom Stier, der auch nur ein Mensch war“.

R.: Durch diese Geschichte kämen wir nun auf ein Thema, das Sie beide seit jeher beschäftigt. Das Thema Macht. Sie, Peter Bichsel, schreiben in dem soeben erwähnten Buch: „Jede Macht lebt von der Angst, die sie verbreitet. Es will mir heute noch nicht in den Kopf gehen, dass es Menschen gibt, denen es Lust bereitet, mächtig zu werden und mächtig zu sein, denen es Lust bereitet, gefürchtet zu sein. Denn wer Macht will, muss vorerst mal Angst verbreiten.“ Ähnlich haben Sie, Jörg Steiner, es auch einmal formuliert.

S.: Ich habe eine Gleichsetzung gemacht, die ungerecht ist, zu einfach im Grunde genommen; aber für mich ist sie brauchbar. Ich setze power mit violence gleich, Macht ist gleich Gewalt. Und das Wort „Macht“ kommt in diesem Kontext oft genug vor: der Begriff der elterlichen Gewalt über die Kinder z. B., oder die Gewaltentrennung in der Verfassung … Es ist offenbar immer noch normal, Gewalt anstatt Macht zu sagen.

B.: Wer in irgendeiner Form tätig ist mittels Gewalt – da gibt es ein Wort, das wir alle kennen –, der ist gewalttätig! Und das einzige Mittel, mit dem die Gewalt umgesetzt werden kann, ist das Mittel der Angst. Wir drei sind heute morgen mit der Nordkettenbahn zum Alpenzoo ohne gültigen Fahrschein gefahren, weil der Automat kaputt war. Wir hatten gar keine Chance, einen gültigen Fahrschein zu ziehen. Trotzdem hatte jeder von uns auf der kurzen Strecke in dem Bähnchen Angst. Wir sind gedrillt darauf, vor der Macht, auch vor der Staatsmacht, die hier eventuell eingegriffen hätte, Angst zu haben.
Ich habe einmal für einen Bundesminister gearbeitet, der auch mein Freund war. Der hat gern gesagt, er habe ein gesundes Verhältnis zur Macht. Und ich habe ihn jedes Mal angeschrien: „Wenn du das noch einmal sagst, sehen wir uns nie mehr!“ Natürlich braucht der Staat seine Macht, natürlich braucht er eine gewisse Disziplinierung oder Schulung der Leute oder wie immer das heißt. Aber sich zu freuen über die Macht und ein „gesundes, freundschaftliches Verhältnis“ zur Macht zu haben, das geht nicht.

R.: Herr Steiner, Sie haben sich 1967 dafür eingesetzt, dass auch die Schweiz einen Ersatzdienst zum Militärdienst bekommt.

S.: Und ich war naiv. Ich habe nicht gemerkt, dass das schon genügen würde, um vom Staat überwacht zu werden. Ich habe nichts getan, was illegal wäre. Man darf etwas zur Debatte stellen, sollte man meinen. Es war aber doch genug, um über Jahre hinweg einen Überwachungsapparat in Gang zu setzen. Ohne diese Konsequenzen wie in der DDR natürlich. Aber es hat mich immerhin dazu gebracht, den Satz zu schreiben: „In der Schweiz kann jeder sagen, was er will, aber er muss die wirtschaftlichen Folgen tragen können.“ Ich wurde auch darauf hingewiesen, dass da eine Überwachung stattfindet. Und wenn Peter und ich damals telefoniert haben, haben wir immer einen kleinen Kanon für die Überwacher gesungen.

B.: Das ist übrigens sehr schwer, am Telefon einen Kanon zu singen, wenn man den anderen nicht sieht! Aber wir haben es geschafft, weil wir dem Abhörer eine kleine Freude machen wollten.

S.: Wir haben es auch immer deklariert: „Das ist jetzt für den Abhörer: Nun will der Lenz uns grüßen …

Beide (singen): … von Mittag weht es lau, auf allen Wiesen sprießen, die Blumen rot und blau.“

R.: In welcher Zeit wurden Sie abgehört?

S.: Das war Ende der 60er Jahre. In den 90ern wurde dann übrigens der Ersatzdienst eingeführt, etwa 30 Jahre hat es also gedauert. Immerhin: Es gibt ihn jetzt und seit heuer auch ohne Gewissensprüfung. Und zwar, weil man keine Gewissensprüfer mehr fand!

B.: Trotzdem ist die Schweiz keine schlechte Demokratie, sondern eigentlich eine recht beachtliche. Mit der Einschränkung, dass in allen Demokratien der Welt eine Mehrheit von Leuten wohnt, denen die Demokratie völlig wurscht ist. Die Systeme sind demokratisch, aber die Bürger sind es zunehmend nicht mehr. Ich lebe in einem demokratischen Land, in dem sehr wenige Demokraten wohnen. Und dann sehe ich hier in Österreich Strache, bei uns Blocher, in Italien Berlusconi und weitere kleine Diktatörchen. Und dann sehe ich auch diese Leute, die total verliebt sind in einen Blocher, die die ganze Rettung der Welt in diesem Blocher sehen und nur in ihm alleine und sagen: Sieben solche sollten wir haben! 200 solche sollten wir haben!

S.: Mir ist nie ein Italiener begegnet, der mir gesagt hätte, er habe Berlusconi gewählt. Ich war damals, bei der ersten Wahl von Berlusconi, zufälligerweise an einer Universität in der Nähe von Rom. Und die haben alle gesagt: Berlusconi kann man nicht wählen! Ca. 70 % von denen müssen ihn aber gewählt haben, wenn man die Wahlergebnisse hinterher angeschaut hat.

B.: Ich habe einen Freund, der in einem kleinen Dorf in Oberitalien lebt, ein Schweizer, ein Linker. In diesem Dorf leben fast nur Kommunisten und in der kleinen Dorfkneipe verkehren auch nur solche. Und dann wurde gewählt und im ganzen Dorf haben nur drei Leute nicht für Berlusconi gestimmt. Anderntags ist mein Freund in die Kneipe gegangen und da saßen die 50 Männer, die jeden Tag in der Kneipe sitzen, und die fragten jetzt: Welcher Idiot hat Berlusconi gewählt? Ihr alle, hat mein Freund gesagt! 50 sitzen hier und nur drei haben Berlusconi nicht gewählt, also sitzen hier mindestens 47, die ihn gewählt haben! Keiner wollte es gewesen sein. Und 14 Tage später haben dieselben Männer drei Busse organisiert und sind mit ihren roten Fahnen nach Rom zur großen Demonstration gegen Berlusconi gefahren. Sie wussten also, dass sie das Übel gewählt hatten, und vollzogen bereits die Reinwaschung.

S.: Man müsste sich überlegen, was passieren würde, wenn man z. B. den Schweizern die Demokratie wegnehmen würde. Ich bilde mir ein und kann nur hoffen, dass ich recht habe: Das würde nicht geduldet werden! Eine Mehrheit der Bevölkerung, auch eine Mehrheit der Kantone in der Schweiz würde das nicht akzeptieren. Die Gefahr für das demokratische Denken heute ist eher, dass die Politik jetzt immer mehr hinter die Wirtschaft zurückgedrängt wird, dass eigentlich nur mehr die Wirtschaftspolitik Politik ist und alles nur noch für die Wirtschaftspolitik da sein sollte.

R.: In Österreich haben wir inzwischen zwei Rechtsparteien, die gemeinsam fast stimmenstärkste Partei sind. Könnte das in der Schweiz auch passieren?

B.: Die Schweizer haben bei fast allen Dingen zuerst gemeint: Das kann bei uns nicht passieren! Atomkraftwerke, die versagen? Das könnte in der Schweiz nicht passieren! Eine Revolution? In der Schweiz absolut unvorstellbar! Sogar Lawinenabgänge sind eigentlich in der Schweiz unvorstellbar. Und Hochwasser? Ebenfalls. Auch wenn es passiert. Dieser kindliche Bündeglauben, der vor 100 Jahren noch ganz stabil war, ist heute eingebrochen. Mehr und mehr sehen Schweizer ein, dass in der Schweiz alles passieren kann, was in der Welt passiert. Noch vor 30 Jahren war jeder Schweizer davon überzeugt, dass es im Staate Schweiz keine Korruption gibt. Inzwischen wissen wir, dass es in der Schweiz so viel Korruption gibt wie in Italien. Nur mit anderen Preisen: Korruption ist bei uns etwas billiger. Dieses Wissen, dass die Schweiz zur Welt gehört, das nimmt zu und das ist eigentlich der erfreulichere Teil der Globalisierung.

R.: In den 50er Jahren, einer Zeit, in der noch nicht so vieles global zugänglich war wie heute, haben Sie beide für sich etwas entdeckt, das neben dem Schreiben einen großen Stellenwert einnahm: den Jazz.

B.: Aber es ging auch dabei – wie beim Waldrapp – um eine Entscheidung: Wir sind jetzt die, die Jazz hören! Wir hören jetzt ganz andere Musik als unsere Eltern.

S.: Bei mir war es schon auch die Musik, die ich als meinen eigenen Ausdruck empfand. Nicht nur als Revolte gegen die Eltern, die Haydn und Mozart hörten.

B.: Wir haben damals auch andere Musik gehört, Igor Stravinsky z. B. und Arthur Honegger, und wir fanden
das verrückt. Ich bin mir nicht so sicher, ob uns das so sehr gefallen hat, wie wir getan haben. Aber wir hatten uns dafür entschieden und durchs mehrmalige Hören begann es uns zu gefallen. Wir lebten beide – Jörg noch etwas mehr, da er ja fünf Jahre älter ist – in einer Zeit mit sehr wenigen Informationen. Das hatte den Vorteil für uns, dass wir glaubten, wir hätten die Sache selbst entdeckt. Ich persönlich, ich ganz alleine habe Stravinsky entdeckt und niemand anderer!

S.: In Wahrheit hast du deinen Stravinsky entdeckt.

B.: Natürlich, ich kannte doch keinen anderen!

S.: Ich kenne auch nur meinen Waldrapp. Aber es ist eben diese Begegnung. Du begegnest auch dir selbst in etwas. Vor allem, wenn du dir mit einer Begegnung Zeit lässt. Das macht Einigkeit, das macht auch Treue aus.

R.: Sind Sie ürbigens einem Ihrer Jazz-Idole auch einmal persönlich begegnet?

B.: Ja. Ich saß in Los Angeles in einer Hotelbar. Am Abend zuvor hatte ich in diesem Hotel ein Konzert mit Charlie Mingus gehört. Und dann kam dieser Mingus herein und setzte sich neben mich. Mit ihm hatte ich eines der schönsten und tiefsten Gespräche in meinem Leben. Ich habe gesagt: Good morning, Mr. Mingus. Und er hat gesagt: Good morning, Sir. Das war alles! Das war wunderbar, ich hatte am Abend noch Gänsehaut.

R.: Bleiben wir in den 50er und 60er Jahren. Damals gab es auch intensive Auseinandersetzungen zur Frage der Wechselwirkung zwischen Ästhetik und Politik. Sie beide waren damals nicht immer einer Meinung.

B.: Wir haben die Moderne als etwas absolut Politisches verstanden, ohne direkt an Politik interessiert zu sein. Wir stellten uns vor, dass eine Schweiz, ein Europa der modernen Architektur – also ein Europa, gebaut von Mies van der Rohe – ein menschlicheres und anständigeres Europa wäre. Ich übertreibe, ich habe schon damals übertrieben, um auf den Punkt zu bringen, was ich meinte. Die Bauhaus-Idee ist mir heute noch viel wert und wenn ich mir Solothurn jetzt anschaue … wer weiß, vielleicht wäre es wirklich besser gewesen, alles wäre abgerissen und von Mies van der Rohe neu gebaut worden? Dass aber die Rettung der Welt ein ästhetisches Problem ist, wie wir damals glaubten, das bezweifle ich inzwischen doch sehr.

S.: Wir hatten damals die Idee, dass Ästhetik schon etwas bewirkt. Und wir reden hier nicht von Purismus, sondern von Ästhetik, das darf man nicht verwechseln. Das war für uns Mies van der Rohe, das war das Bauhaus. Und wir hatten auch den Citroën 2CV, der gehörte dazu! Das ist kein schönes Auto gewesen, nie. Der 2CV ist ein typisches Waldrapp-Auto, eine Ente …

B.: Und wir waren uns sicher, dass ein Besitzer eines Braun-Plattenspielers, dass der Liebhaber von Jazzmusik ganz sicher keine rechtsradikale Partei wählt, sondern ziemlich sicher eine Neigung zur Sozialdemokratie hat. Wir hatten insofern Vertrauen in die Ästhetik, dass die Ästhetik anständige Menschen um sich versammelt. Und vielleicht hat es damals sogar ein bisschen gestimmt. 1968 reichte uns diese leichte Neigung zum Sozialismus nicht mehr. Wir wollten es wissen! Und dabei sind mir dann schon die Augen aufgegangen. Viele Sachen, die ich vorher als Zufälle erkannte, nahm ich plötzlich nicht mehr als solche wahr. Ich musste feststellen: Das ist so gewollt. Das ist so organisiert.

S.: Ich pflichte dem bei, bin aber nicht so pessimis-tisch. Der Wunsch nach mehr Freiheit wird immer in den Menschen sein und dafür stehen sie auch ein. 1968 – das war eben nicht nur Paris oder Deutschland oder der Studentenverein. In der Tschechoslowakei zum Beispiel war das keine lustige Revolution, da ging niemand aus Spaß ein bisschen auf die Straße und das Fernsehen filmte Mädchen in kurzen Röcken mit Slogans. Die Leute hatten wahnsinnige Angst, sich zu exponieren. Und Alexander Dubcˇek war ein naiver Politiker …

B.: … er hat an die Anständigkeit der Menschen geglaubt!

S.: … er hat – sagen wir es so – an Mies van der Rohe geglaubt, an die Ästhetik. Er war naiv, naiv wie wir. Das ist kein Grund stolz zu sein. Auch kein Grund, sich zu ärgern. Jedenfalls kam der 21. August, Dubcˇek wurde mit seinem ganzen Stab verhaftet. Er hat seinen Bürodiener gebeten: Bitte achten Sie auf diese Tasche, es sind wichtige Dokumente darin! Er wusste aber nicht, dass eben dieser Bürodiener schon die Schlüssel an die Gegenseite ausgeliefert hatte, also ein Spitzel war. Während dieser ganzen Zeit der Revolution war der Kommunismus sowjetischer Prägung bereits im Hintergrund aktiv und hat alles überwacht. Das hat mich geprägt im 68er Jahr. All diese irrsinnigen Geschichten …

R.: Welche Geschichten? Erzählen Sie uns eine!

S.: Zum Beispiel die Geschichte des Stalindenkmals, die ein polnischer Journalist aufgeschrieben hat. Der größte Stalin, den es je gab, stand in Prag. Es gab nie einen größeren, nie einen schwereren; ich weiß nicht, wie viele Tonnen er wog. Um es zu sprengen brauchte es – glaube ich – 7000 Sprengladungen. Es erging der Befehl an den Sprengmeister, er solle das Denkmal mit Würde sprengen. Spreng einmal etwas mit Würde! Wie macht man das? Diese Aufgabe ist unlösbar. Er wurde nachher übrigens in ein Irrenhaus gebracht. Das Ideal einer Partei stellt sich als Kitsch und Schund heraus – das ist eine große Enttäuschung, eine Verstörung.

R.: Wenn Sie zurückschauen – sind Sie mit Ihrem Engagement im Großen und Ganzen zufrieden?

B.: Man hat schon hie und da den Eindruck, man kann sich engagieren, wo man will, man wird immer enttäuscht. Aber – man verstehe mich nicht falsch – ich bin für Engagement, man kann ja doch nicht anders. Ich leide nicht so sehr an meiner Biografie, aber immer mehr an den Biografien derer, denen ich zuschauen muss.

S.: Ich bin eigentlich nicht zufrieden. Die Frage ist doch immer: Was bleibt? Nun ja: Man muss sich beim Rasieren ins Gesicht schauen, das tue ich mit wachsender Unruhe. Und dann gibt es eben Tage, an denen rasiere ich mich nicht.

 

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