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Die Perspektive der Differenz

Heidrun Holzfeind hat den Umschlag dieser Ausgabe gestaltet und fünf Doppelseiten im Heftinneren: Sie zeigt den Marktplatz an sich – gealtert wirkende, tatsächlich aber aktuell aufgenommene Fotos vom Freitagsmarkt in Kairo. Nicht vergessen: Kaum ist die Unübersichtlichkeit ersichtlich, ist schon wieder Samstag. Ein Porträt der Künstlerin von Jorge Reynoso Pohlenz

In vielen Teilen der Welt werden regelmäßig fliegende Märkte installiert, die den Verlauf und die Wege der Stadt stören. Trotz der Beschwerden von Autofah-rern und der Interventionen von Stadtplanern passt sich der Markt den Anforderungen der offiziellen Gesellschaftsstruktur nicht an, sondern richtet sich vielmehr nach einer traditionellen Logik. Diese Logik brachte vielfach bereits lange vor der Gründung einer formalen Stadt die räumliche Anordnung des Marktes hervor. Jenseits vom „malerischen“ Erscheinungsbild, das sich dem fremden Blick darbietet, entspringt der vergängliche Raum des Marktes einer Aussöhnung zwischen Tradition und praktischer Notwendigkeit, die staatliche Normen missachtet und zwischen Händlern und Käufern Beziehungen ermöglicht, die nicht den Zoll- und Steuerrechten der formellen Ökonomie folgen. Die Spannungen zwischen dem Urbanismus, der formellen Ökonomie und dem scheinbaren Informalismus des Marktes sind durchaus nicht neu: Phönizische und mesopotamische Aufzeichnungen bekunden eine mehr als 3000-jährige Auseinandersetzung zwischen Regierungsinstitutionen und gesellschaftlichen Initiativen für fliegende Märkte. Obwohl der okzidentale Blick die islamische Welt zumeist als ungeteilten homogenen Block wahrnimmt, ist doch der Freitagsmarkt in Kairo, den die österreichische Künstlerin Heidrun Holzfeind (* 1972) zum Thema ihres jüngsten, für Quart geschaffenen Projekts FRIDAY MARKET macht, ein Beweis für die Mannigfaltigkeiten solcher Märkte und zugleich ein Hinweis auf lateinamerikanische oder ostasiatische Entsprechungen. Um das Jahr 640, kurz nach dem Tod Mohammeds, nimmt der arabische Islam Ägypten ein und errichtet in der künftigen Stadt Kairo ein Lager. Seitdem war Kairo arabisch, Teil der Almohaden-Dynastie, türkisch, französisch, britisch, sozialistisch, fundamentalistisch, tolerant, intolerant, touristisch, kriegerisch und friedlich. In Ägypten trafen über Jahrhunderte hinweg komplexe Beziehungen zwischen Europa, Asien und Afrika aufeinander. Der Freitagsmarkt ist zugleich Folge und Widerstand gegen diese historischen Übergänge und dabei ein Residuum, in dem sich Personen und Zeiten mischen. Viele dieser Aspekte von Holzfeinds Projekt FRIDAY MARKET ermöglichen einen Bezug zu ihren früheren Arbeiten.

Holzfeind gehört zu einer Generation von Künstlern, die durch die Mittel des Dokumentarismus breitgefächerte Zusammenhänge herstellt und so dem his-torischen und zeitgenössischen Kontext mehr spezifisches Gewicht verleiht. Der Dokumentarismus der Gegenwartskunst entwickelt sich zunehmend zu einer genreübergreifenden Verknüpfung unterschiedlicher Medien, Techniken und Strategien und verpflichtet die Künstler in kritischer Weise einer Realität, in der das Reale als Konstruktion von Subjektivitäten erkannt wird. In der Tendenz zum Dokumentarischen streben die Künstler nach einem intensiveren Gespräch mit dem Publikum und versuchen, über die Vorstellungen jenes Publikums der zeitgenössischen Kunst hinauszugehen, das die charakteristischen Formate und Sprachen von Museen und Galerien der Gegenwartskunst kennt und schätzt. Holzfeinds Projekte fordern das Publikum heraus, seine passive kontemplative Haltung aufzugeben, um sich aktiv an der Interpretation zu beteiligen. Die dokumentarische Untersuchung rettet überdies die Zeugnis ablegende Erzählung als unmittelbare Gesprächsform. Die audiovisuelle Aufzeichnung geht über das Pittoreske hinaus und ermöglicht dem Publikum eine engere Verbindung zu den Erfahrungen, die durch Künstlerin und Kunstraum vermittelt werden.

Ein wesentlicher Aspekt unterscheidet Holzfeinds Arbeit von ihren künstlerisch-dokumentarischen Vorläufern am Ende der 20er und zu Beginn der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. In der Zwischenkriegszeit waren die Tendenzen zu einer neuen Objektivität eine Antwort auf die kreativen und ideologischen Programme der Moderne. Ob diese Programme nun sozialistisch, faschistisch oder kapitalistisch waren, sie forderten von den Künstlern, ihre Vision der Welt den sozialen Erneuerungsprojekten einer wohltätigen, befreienden und letztlich die Differenzen homogenisierenden Moderne anzupassen. Die Standardisierung der sozialen Projekte sowie die vornehmlich okzidentale und männliche Sichtweise der Moderne haben eine Reihe historischer und sozialer Spuren hinterlassen, die in Holzfeinds Projekten auf vielfache Weise präsent sind.

Funktionalistische Architektur und Städtebau sowie die Ideen von moderner Standardisierung und sozialer Utopie (die vornehmlich auf den von Bauhaus und Le Corbusier formulierten Theorien gründen) waren seit dem Bevölkerungswachstum und der Zunahme der Migration nach 1945 eloquente, international wirksame Artikulationen. Holzfeind beschäftigt sich in mehreren Projekten mit Architektur und Urbanismus: So vereint etwa das Video CORVIALE, il serpentone (2001) Erzählungen und Aufzeichnungen von Bewohnern eines Gebäudekomplexes in der Nähe von Rom, einer niemals fertiggestellten Siedlung von 1972, in der die sozialen Randschichten einer fragmentierten europäischen Arbeiterklasse planlos untergebracht wurden. Corviale sollte die Theorien einer besseren Gegenwart und einer modellhaften Zukunft verwirklichen. Da es jedoch unvollendet blieb, wurde den Bewohnern die Gestaltung einer nicht nur in Lateinamerika oder Afrika aufgeschobenen Moderne überlassen. Die glanzvolle und saubere funktionalistische Utopie ist in Corviale weder mit der sozialen Dynamik noch mit den kulturellen Ausdrucksformen vereinbar. Es wird ein Handlungsspielraum geschaffen, der eine Marginalisierung zur Folge hat und zugleich eine kulturelle Bereicherung darstellt.

Auch in den Ländern des sozialistischen Blocks pros-
perierten Wohnsiedlungen, die vom Staat als Ausdruck von Fortschritt und sozialer Gerechtigkeit gepriesen wurden. Strikte polizeiliche Kontrolle und staatlicher Ansporn zu nachbarschaftlicher Spionage lösten in den Wohnanlagen des Sowjetblocks komplexe soziale Dynamiken aus, die eine Selbstmarginalisierung, Geheimniskrämerei und eine umfangreiche „unterirdische“ Kultur hervorbrachten, die sich für Künstler seit zwei Jahrzehnten als stimulierend erweist. ZA ZELAMA BRAMA („Hinter dem eisernen Vorhang“) ist ein im Prozess befindliches Projekt von Holzfeind über eine Wohnsiedlung in Warschau, die etwa zur selben Zeit wie Corviale errichtet wurde. Dieses Projekt veranschaulicht den komplexen Übergang von der Planwirtschaft zur freien Marktwirtschaft als einem System, das sogar in jene informellen Mikroökonomien eingreift, die im Sozialismus planlos wucherten.

Das Thema von Holzfeinds Diainstallation C.U. (Mexico City, August 2006), einer Doppelprojektion von Aufnahmen der Universitätsstadt C.U., ist die Ausprägung des Funktionalismus im mexikanischen Modernisierungsprojekt. Die nationale autonome Universität von Mexiko (UNAM) ist einer der ehrgeizigsten Architektur- und Bildungsprojekte Lateinamerikas, in dem öffentlich zugängliche Kunst (in Mexiko am Ende der 40er Jahre ein bedeutendes Thema) und funktionalistische Architektur zusammengebracht werden sollten. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach ihrer Errichtung wird die C.U. von hunderttausenden Studenten, Forschern und Akademikern in einer Weise bewohnt und benützt, die für die einstigen Gestalter unvorhersehbar war. Das ist ein Aspekt, den Holzfeind in ihren Diapositiven durch die schlichte Darstellung der Räume einer seltsam unbewohnten Universitätsstadt enthüllt. Sie zeigt damit das Phantasma, das über 50 Jahre lang den funktionalistischen Traum geprägt hat.
Die Installation wurde im Oktober 2008 in der Sala de Arte Público Siqueiros in Mexiko-Stadt in Verbindung mit dem Projekt Mexico 68 (2007–2008) präsentiert, einer Sammlung von Interviews, Dokumenten und Fotografien der Studentenbewegung im Vorfeld der mexikanischen Olympiade von 1968, die am 2. Oktober von der Regierung grausam niedergeschlagen wurde. Diese Bewegung ist nach 40 Jahren noch immer Anlass für Spekulation und Polemik, auch wenn Museen und Institutionen versuchen, eine vereinfachte und positive Perspektive von historischer Aussöhnung anzubieten. Holzfeinds intensive Recherche gewinnt der Studentenbewegung ihre Komplexitäten, Widersprüche und Nuancen zurück, was insbesondere in den Erzählungen der Frauen dieser Bewegung offenbar wird: Trotz der politischen Orientierung ihrer männlichen Gegenüber, die vorwiegend aus der extremen Linken kamen, war es üblich, den Frauen Aufgaben zuzuweisen, die den häuslichen und machistischen Kontext der mexikanischen Familien widerspiegelten. Da es andererseits aber schwieriger war, junge, akademisch gebildete Frauen der Mittelschicht zu verhaften, wurden sie bevorzugt auch mit dem Verteilen von Flugzetteln beauftragt.

Abseits von städtischen Komplexen und politischen Bewegungen gilt Holzfeinds Aufmerksamkeit der Mikrogeschichte, dem Verhältnis vom Familiären oder Individuellen zur Welt. Das Video DIE RUMÄNEN. Leben wie ein König (2002) zeigt die Sichtweise eines ehemaligen rumänischen Flüchtlings, der mit seiner Familie in Österreich wohnt. Paradoxerweise rühmt die zufriedene Familie das liberale, wohltätige System ihres Aufenthaltslandes und behält doch Gesten und kulturelle Traditionen Rumäniens bei, die im habsburgischen Imperium systematisch unterdrückt und in Ungarn während der Annexion Siebenbürgens missbilligt wurden. Der ungarische Komponist Béla Bartók beklagte vor mehr als 80 Jahren, die Nationalismen und Totalitarismen würden die kulturellen Besonderheiten Osteuropas homogenisieren. Die politischen und ökonomischen Veränderungen der Nachkriegszeit beschleunigten das Verschwinden von ländlichen Besonderheiten und verwandelten sie in marginale urbane und suburbane Exotismen, in kulturelle Residuen innerhalb einer „technologischen“ Gesellschaft. Das Verhältnis zwischen industrieller Modernisierung und Individuum wird in Holzfeinds Video EXPOSED (2005) radikalisiert: Es zeigt die Fallgeschichte einer Frau, die an multipler Chemikalienüberempfindlichkeit leidet. Diese Frau kämpft mit einer schweren chronischen Allergie gegen eine große Bandbreite von chemischen Produkten, die in der Umwelt verteilt sind. Das Video regt an zum Nachdenken über die biologische oder psychosomatische Natur dieser Krankheit sowie zur Reflexion über unser Vermögen, auf die Zustände der gegenwärtigen Welt zu reagieren oder sich ihnen anzupassen.

Abseits der Forderung nach Anpassung oder der Ausgrenzung Unangepasster könnte die Alternative in der Gestaltung von Räumen und Projekten bestehen, in denen Differenz mobilisiert und anerkannt wird. Im dichten transnationalen sozialen und ökonomischen Gewebe müssen Öffnungen gefunden werden, die eine Kritik an der Homologisierung ermöglichen. Obwohl Kunst zu institutioneller und kommerzieller Assimilation von Differenz tendiert, besitzt sie trotzdem die Fähigkeit, solche Öffnungen herzustellen. Holzfeind konzipiert seit 2002 das Wanderprogramm ALIEN als kuratorisches Projekt, das audiovisuelles Material über Migration, Arbeitsausbeutung, Rassismus sowie politische und individuelle Machtverhältnisse versammelt. Alien wurde in Italien, Holland, Belgien, Dänemark und in den Vereinigten Staaten gezeigt. LESERAUM (2007), dicht bei Alien angesiedelt, ist eine Art von bewohnbarer Skulptur, ein Zufluchtsort, der derzeit in Kärnten, nahe der italienischen Grenze installiert ist. Dieser Leseraum befindet sich hoch über dem Boden und parodiert in gewisser Weise die minimalistischen Skulpturen der 80er Jahre. Leseraum verbindet formal die Funktionen von Überwachungsstation und Zufluchtsstätte – man kann darin entweder die Landschaft betrachten oder die vorhandene Literatur heranziehen: Texte zu Feminismus, Globalisierung und Migration. Die bewohnbare Skulptur macht Holzfeinds kritische Nähe zur philosophischen und künstlerischen Tradition Mitteleuropas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlich. Das Werk und sein Umfeld unterscheiden sich kaum von der Zufluchtsstätte, die sich Gustav Mahler einrichtete, um im Sommer – von der Welt und seiner talentierten Frau abgewandt – zu komponieren, oder von den entlegenen Bibliotheken, die Nietzsche während seiner einsamen Reisen auf der Flucht vor dem deutschen Spießertum aufsuchte. In Zeiten großer Konflikte begriffen Künstler und Philosophen den Kurort oder das „Landhaus“ angesichts des politischen Wahnsinns der Zeit als eine Möglichkeit des politischen oder spirituellen Exils. Die von Holzfeind im Leseraum präsentierte Buchauswahl ist also Hommage und zugleich Parodie einer eremitischen Tradition: Es ist, als würde man den vor der schwarzen Pest Geflohenen in Bocaccios Decamerone Berichte über die schwarze Pest anbieten.

Kehren wir zum Freitagsmarkt in Kairo zurück, den Holzfeind mit kinematografischen Mitteln in raumgreifenden Kamerabewegungen und weitwinkeligen Ansichten dokumentiert. Die Ausarbeitung der Dias in Ägypten, bei der wohl zu lange gelagerte und deshalb schadhafte Chemikalien verwendet wurden, verursachte eine Tönung der Bilder, die an alte Fotografien erinnert. Die durch diesen Unfall „plötzlich gealterte“ zeitgenössische Aufzeichnung und der panoramische Blick erzielen einen epischen Effekt, der die in dieser Region unvermeidlichen Brüche zwischen sozialer Wirklichkeit und sozialem Projekt aufzeigt.

(Aus dem Spanischen frei übertragen von Birgit Mennel und Tom Waibel)

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