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Am Anfang war das Murmeltier

Wie gelangen Vorstellungen von Gott und der Welt, die aus dem vorderen Orient stammen, in die Südtiroler Dolomiten? Im ladinischsprachigen Raum ist ein rätselhafter Mythenstoff überliefert, den Ulrike Kindl seit Jahren untersucht. Susanne Barta hat die Sagenforscherin an der Universität Venedig besucht und dabei den folgenden Monolog aufgezeichnet:

„Ich bin auf die Sagen von Fanes als Kind gestoßen, habe sie gelesen, zum Teil auch erzählt bekommen und war von Anfang an sehr fasziniert. Diese Geschichten standen für mich gleichwertig neben den großen Erzählungen der Ilias, der Odyssee, den germanischen Göttersagen und in einer Reihe mit den Grimm’schen Märchen. Dennoch hatte ich das Gefühl: Das ist eine andere Welt! Ich habe die Erzählung, wie sie von Karl Felix Wolff überliefert ist, sehr gerne gelesen. Mir wurde aber bald klar, dass Wolff, als er die Dolomitensagen aufschrieb und ab 1913 veröffentlichte, besonders an die germanische Überlieferung gedacht haben muss. Für die Sagen vom Reich der Fanes hatte er anscheinend das Nibelungenlied, Siegfrieds Geschichte vor Augen. Zwar spürte ich, dass diese Spur nicht stimmen kann, doch bis mir bewusst wurde, dass die Fanes-Sagen ja keine deutschsprachige Überlieferung sind, war ich schon um die zwanzig und hatte begonnen, mich mit Soziologie, mit Mythen- und Erzählforschung, mit Archäologie und Frauenforschung auseinanderzusetzen. Wir lesen diese Geschichten zwar in deutscher Sprache. Land, Leute, Sprache und Überlieferung im Kerngebiet der Dolomiten aber sind ladinisch. Das Sagen- und Märchengut Ladiniens wurde allerdings erst um 1900 auf Deutsch und Italienisch aufgezeichnet. Die gesamte Erfassung des ladinischen Überlieferungsgutes folgte also Kriterien, die nicht ladinischem Erzählverständnis entsprachen. Dennoch müssen wir Wolff sehr dankbar sein, denn er hat diesen Stoff im letzten Moment gerettet. Heute weiß kein Mensch mehr etwas darüber. Die Überlieferung ist verloren gegangen. Wolff hat die Geschichten im guten Glauben bearbeitet, aus seinem spezifischen kulturellen Hintergrund heraus. Unsere Aufgabe ist es nun, das wieder auseinanderzuklauben.

Die eigentlichen Inhaber dieser Überlieferung sind Romanen, Ladiner, die Dolomitenladiner. Die Ladiner sind bis ins 19. Jahrhundert hinein – vorsichtig ausgedrückt – ein geschichtsloses Volk im großen Zusammenhang der Donaumonarchie. Sie haben keine eigene schriftliche Tradition; diese taucht erst Mitte des 19. Jahrhunderts auf. In der isolierten Randlage konnte sich das alte Sagengut erhalten, doch liegt es uns in der Bearbeitung des frühen 20. Jahrhunderts vor. Natürlich sind diese Geschichten älter – aber wie alt sind sie wirklich? Geistesgeschichtliche Archäologie ist etwas vom schwierigsten überhaupt. Die klassische Archäologie hat Funde und kann sie auch genau verorten, die philologische Buddelei, wie wir sie betreiben, braucht Texte und wenn es die nicht gibt, kann man nur mit strukturaler Anthropologie arbeiten. Dieses Handwerk habe ich bei Claude Lévi-Strauss gelernt. Es ist sehr aufwändig. Man kann nicht einfach hergehen und sagen, das gehört in dieses Jahrhundert und das in jenes. Man muss sich Schicht für Schicht nach unten arbeiten. Und da kommt man bald in nicht indoeuropäische Kulturkreise. Die Ladiner sprechen zwar eine romanische Sprache, man muss aber in die Zeit vor der Romanisierung zurückgehen. Dabei stellt sich die Frage, woher mitten im Dolomitengebiet Vorstellungen herkommen, die wahrscheinlich aus dem vorderen Orient stammen, vielleicht auch aus Etrurien. Damit verbunden sind weitere Fragen, zum Beispiel: Wann und wo beginnt die Siedlungsgeschichte des Alpenraumes? Wie sind diese sehr frühen Vorstellungen zuerst ins Lateinische und dann ins Frühladinische gekommen? Hat es überhaupt eine Kulturkontinuität in den Alpen gegeben? Man hat keine Beweise, nur Hypothesen. Und die können zunächst einmal nur davon ausgehen, dass in Dolomitenladinien Motive auftauchen, die in Europa keine vergleichbare Basis haben. Sie sind zwar dort angesiedelt, können aber unmöglich an diesem Ort entstanden sein. Denn dazu braucht es große Kulturzentren und die gab es dort nicht. Die Motive wurden also auf irgendeine Weise dorthin gebracht und sind in Rückzugsgebieten isoliert erhalten geblieben.

Das Ursprungsmotiv ist das wichtigste im gesamten Sagenkreis: Die Stammmutter ist eine Tochter der Murmeltiere, sie stammt aus dem Murmeltiervolk. Es handelt sich also um eine genealogische Ursprungssage, die die Herkunft aus einer Tierlinie erklären soll. Nun ist das Murmeltier als emblematisches Tier, als Wappentier nicht bekannt. Als Wappentiere haben wir Löwen, Bären, Wölfe, Füchse, auch mythische Tiere wie das Einhorn, jedoch kein Murmeltier. Wenn wir aber ein Struktogramm anlegen, ergibt sich folgendes: Das Murmeltier ist ein Tier, das viele Monate im Jahr unter der Erde schläft, es ist also ein chthonisches Tier, ein Tier, das Verbindung mit der Erde hat. Es ist ein friedliches Tier, ein Grasfresser, ein sich zurückziehendes Tier und gleichzeitig auch ein Tier, das Männchen macht, also anthropomorph ist. Die Herleitung aus dieser Linie ist also nicht emblematisch, nicht über eine heraldische Identifikationsfigur zu deuten, sondern tatsächlich als Totem. Totemistische Vorstellungen hat es in Europa gegeben, sie sind aber sehr alt. Dass sich diese Vorstellungen in Dolomitenladinien erhalten haben, ist außerordentlich. Es handelt sich also um eine Ursprungssage des archaischen Europa, die in Richtung Asien weist. Zeitlich gehören totemistische Vorstellungen zu Jäger- und Hirtenvölkern. Trotz alledem würde ich nie sagen, dass es eine kontinuierliche, durchgehende Weitergabe dieser alten Vorstellungen am Ort gegeben hat. Es ist viel wahrscheinlicher, dass diese Vorstellungen damals sehr weit verbreitet waren und dann allmählich in kultureller Weitergabe überformt wurden.

Der Fanes-Sagenkomplex ist in seinem Grundkern also ein Ursprungsmythos – der da sagt: Am Anfang waren die Murmeltiere. Und die Murmeltiere haben sich angesiedelt und ein Reich gegründet. Dieses Reich war zunächst ein Reich des Friedens. Allmählich kommen Verfall, Krieg und Verrat in die Welt. Der älteste Kern der Fanes-Sage erzählt eine Geschichte wie sie auch die Bibel erzählt, natürlich in den viel einfacheren Worten der Sage: Es ist die Erzählung vom „Fall in die Zeit“, vom Verjagtwerden aus dem Paradies, vom Mysterium der Urschuld, der Erbschuld. Das Fanes-Reich ist groß und mächtig, doch dann heiratet die letzte Prinzessin einen fremden Prinzen, verschweigt ihm aber das Geheimnis der Murmeltier-Abstammung. Das war wohl die Erbschuld. Und damit beginnt der Verfall. Aber hinter dem Untergang steht immer die Verheißung. Die Fanes-Sagen sind eine mythische Erzählung von Leben und Tod, von Werden und Vergehen, von Anfang und Ende.

Die wichtigste Figur ist sicher Dolasilla. Die kriegerische Prinzessin, die gleichzeitig aber sehr weiblich ist. Die Gegenfigur ist Tsikuta, Herrin und Hüterin der Unterwelt. Das entspricht dem griechischen Mythos von Persephone, die ja eine Tochter der Demeter ist, der Göttin der fruchtbaren Erde. Dolasilla ist von Wolff gänzlich missverstanden worden. Er sieht in ihr Brünhilde, sieht die Walküre. Sie ist zwar mit einem undurchdringlichen Panzerhemd aus weißem Fell bekleidet, offiziell als Hermelin ausgewiesen, aber sie trägt natürlich das Kleid des Murmeltiers. Dolasilla ist die Personifizierung der Ahnengottheit. Artemis, die göttliche Jägerin, ist die Grundfigur, die dahintersteht. Dass Dolasilla Pfeil und Bogen trägt, hängt nicht mit ihrer Rolle als Kriegerin zusammen, sondern mit ihrer Artemis-Natur. Pfeil und Bogen waren in Europa nie Kriegswaffen, das waren Schwert und Lanze. Dolasilla trägt Pfeil und Bogen, weil sie eine Mondgottheit ist. Der Mond wird dargestellt als Sichel, also als Bogen, und die Pfeile beziehen sich darauf, dass sie Herrin über Leben und Tod, Gesundheit und Krankheit ist. Es sind Herrschaftsinsignien.

Dolasilla ist aber auch die helle, weiße Göttin, eine jungfräuliche, erwachsene Frau, die fruchtbar sein und Kinder bekommen muss, damit die Welt weitergeht. Der vorgeschriebene Übergang in die Rolle als Frau und Mutter gelingt ihr allerdings nicht. Da ist der fatale Bruch. Es wird erzählt, dass sie sich unglücklich verliebt, sie darf aber nicht heiraten und das führt ihren Tod herbei. Ihr leuchtendes Kleid wird schwarz, sie wird zur Todesgöttin. Es fehlt also die Umfärbung in die Farbe Rot, in die rote Gottheit der Fruchtbarwerdung. Diese Figur findet sich jedoch in der Tsikuta, sie hat die Mohnblumen der Demeter-Persephone in der Hand.
In der Rekonstruktion des Mythos gibt es natürlich Brüche. Wenn man aber die restliche Dolomitenüberlieferung mit einbezieht, wird klar, dass überall Splitter stecken, die man zu einem großen Weltbild zusammenziehen muss. Ein Mythos ist nie eine einzige, zusammengeschweißte Geschichte, es sind Motive, Sequenzen, die variiert werden. Also: Grundvorstellung und Variation. Nicht Motiv und Evolution. Das ist unser heutiges Weltbild.

Die Grundlage des Fanes-Sagenstoffes ist ein Ahninnenkult. Das Murmeltier ist im Ladinischen ein weibliches Tier, die Ahngottheit wird also weiblich imaginiert. Das sagt aber noch nichts über die soziale Organisation dieser frühen Gesellschaft aus. Normalerweise wird Herrschaft männlich imaginiert und Fruchtbarkeit weiblich. Meistens sind die Gottheiten ja doppelt, ein Zwillingspaar oder ein Ehepaar, eine männliche und eine weibliche Figur. Die männliche ist normalerweise der Herrschaftsträger, die weibliche die Inhaberin von Fruchtbarkeit und Segen. Dass wir hier eine ausgesprochene Betonung von weiblichen Gottheiten haben, weist darauf hin, dass wir es mit sehr alten Kulturen zu tun haben. Das heißt nicht, dass der Mann keine Rolle gespielt hätte. Er hatte auch in der Fanes-Welt die Macht in der Hand, aber dass er keinen Namen trägt, ist sehr bezeichnend. Einer der wenigen, der einen Namen hat, ist Ey-de-Net, der Geliebte Dolasillas. Was mich an dieser Figur immer sehr berührt hat und was mich schließlich auch auf die richtigen Spuren gebracht hat, ist seine Position zwischen Dolasilla und Soreghina, der Tochter der Sonne. Er liebt die zwei Seiten dieser weiblichen Imagination, die kriegerische Dolasilla und die weiche, feine, lichtvolle Soreghina. Ey-de-Net verliert beide, nicht aus eigenem Verschulden, sondern auf Grund schicksalhafter Zusammenhänge. Ey-de-Net ist für mich eine wirklich tragische Figur, die alles auf eine Karte setzt und verliert. Erstaunlicherweise ist es hier der Mann, der alles verliert. Ey-de-Net bekommt seinen Namen auf sehr merkwürdige Art und Weise: Er wird vom Zauberer Spina-de-Mul rituell mit diesem Namen bedacht. Der Name Ey-de-Net bedeutet soviel wie „Auge der Nacht“ und ist unschwer als eine Indikation des Mondes zu erkennen. Die Zuordnung zu Dolasilla ist damit schon klar. Die Verbindung zwischen den beiden ist auch keine Geschichte zwischen Mann und Frau, keine Liebesgeschichte, sondern die Geschichte eines Zwillingspaares. Die beiden sind eine doppelte Gottheit; dass die Frau als Ahnin im Vordergrund steht, ist bezeichnend, vor allem, wenn man diese Tatsache auch auf andere Figuren bezieht, auf Dindia, auch sie ist eine königliche Figur, oder die Wintergottheit Samblana. Die Imagination des Numinosen in Form von weiblichen Kräften ist sehr eindeutig.

Wie kam es dazu, dass dieser Mythos im Bereich der Hochalpe Fanes angesiedelt wurde? Man spricht in diesem Zusammenhang von einer Ökotypisierung, angeschwemmtes Erzählgut wird irgendwo verortet. Der Mythos wird immer an einem Ort verankert, der der einheimischen Bevölkerung entweder als unheimlich gilt, als göttlich oder als unzugänglich. Wenn man sich diese Hochalpe ansieht, dann ist klar, dass da oben auf 2700 m ü. d. M. kein blühendes Reich existiert hat. Der Mythos ist auch nicht dort entstanden, er wurde aber dort etwa um 1200 n. u. Z. endgültig verankert. Die Überlieferungen erzählen also ziemlich sicher nichts über die wirkliche Vergangenheit in den Dolomiten, aber sie erzählen recht genau, wie sich das Volk in den Dolomiten die Zeit vor der Gegenwart vorstellte.

Eine zentrale Figur in diesem Zusammenhang ist der schon erwähnte Spina-de-Mul. Er ist eine sehr vielschichtige Gottheit, alles andere als ein Sympathieträger. Er ist der Herr der Unterwelt, wird als halbverwestes Maultier dargestellt, als Zauberer, ist aber keine Personifizierung des Teufels. Auch das spricht für eine sehr alte Vorstellung von Sakralität: Sie unterteilte nicht in gut und böse, sondern kannte nur sacrum, das Numinose. Obwohl man es brauchte, war es immer mit Angst besetzt. Die Götter der Antike hatten negative Elemente, sie konnten geradezu böse sein, aber nicht im Sinne des moralisch Bösen, nicht als Teufel, sondern als Kräfte der Natur. Sie sind moralisch indifferent, weil sie Naturvorgänge darstellen. Diese alte Vorstellung steckt hinter Spina-de-Mul. Seine Beziehung zu den übrigen Figuren aber ist nicht ganz klar. Meine Vermutung ist, dass es sich dabei um den Priester handelt, um den eigentlichen Vertreter der Stammesreligion, um den Schamanen, wenn man es genau ausdrücken will.
Zu dieser Schamanenfigur gehört auch das Geheimnis um die Rajeta, den Strahlenstein, die ladinische Variante des gesamtalpinen Karfunkelsteins. Die Rajeta ist wahrscheinlich eine Schwundstufe des Steins der Weisen, des magischen Steins, des Kultobjektes, mit dem die Gottheiten gezwungen wurden, ihr Wissen herauszugeben.

Die Fanes-Sagen erreichen eine Dimension, wie man sie in anderen alpinen Sagen nicht findet, da diese meistens aus relativ später Zeit stammen und überwiegend aus nur einem Motiv bestehen. Die Erzählungen vom Reich der Fanes auf der gleichnamigen Hochalpe hingegen erreichen eine epische Wucht, die in die Nähe der klassischen Mythen gehört. Zur Entstehung von großen Epen braucht es allerdings irgendwann einmal einen Sänger, einen Hof, ein Gesellschaftssystem, das einen Sänger ernährt, der eben diese langen Geschichten erzählt. Den großen Dichter hat es in Ladinien nicht gegeben; die waren nur in den Stadtkulturen zu finden, auf dem Land in der Einsamkeit saß er eben nicht. Hätte im 14., 15. oder 16. Jahrhundert ein Hof existiert, wäre der Sprung in die schriftliche Form möglich gewesen. Wenn die Verschriftlichung der Sagenstoffe nicht rechtzeitig geschieht, sind sie weg. Bei den Fanes-Sagen wurde mit äußerster Mühe einiges herübergerettet. Karl Felix Wolff hat zwar viele Fehler gemacht, aber er hat wie gesagt im letzten Augenblick zugehört und aufgeschrieben.“

 

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