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Leben ohne Hilfsverben

Jens Harzer spielte bei der Bühnenadaptierung von Dostojewskijs Jahrhundertroman „Verbrechen und Strafe“ die Hauptfigur Raskolnikow, uraufgeführt 2008 im Rahmen der Salzburger Festspiele. Swetlana Geier wurde berühmt für ihre Neuübertragung von Dostojewskijs Romanen ins Deutsche. Der Schauspieler besuchte im Auftrag von Quart die Grande Dame der Übersetzungskunst zu Hause in Freiburg im Breisgau. Gegen Ende eines großzügigen Mahles kam das Aufnahmegerät zum Einsatz:

Jens Harzer: Wie muss man sich das genau vorstellen – das Übersetzen? Sie beschreiben es in dem Buch, das kürzlich erschienen ist*, als innere Inbesitznahme des Stoffes. Aber wie ist der konkrete Vorgang? Sie schreiben Ihre Übersetzung ja nicht selbst nieder –

Swetlana Geier: Eigentlich hat es vor 78 Jahren angefangen. Ich hatte eine Deutschlehrerin, die eine Ostpreußin war, eigentlich eine wenig gebildete Frau. Aber sie wusste, was Ordnung ist. Man sprach ein Gedicht, man wurde die Vokabeln abgefragt, man las einen Aufzug aus „Wallenstein“ oder etwas anderes. Und das, was man gelesen hatte, musste man übersetzen. Sie saß neben mir und sagte: „Nase hoch beim Übersetzen!“ Ich habe sie gehasst. Aber es ist vollkommen richtig: So muss man übersetzen! Nase hoch. Darum schreibe ich auch nicht selbst beim Übersetzen. Ich sehe einfach nicht gerne, was ich schreibe. Bei den ersten Büchern – zum Beispiel bei „August Vierzehn“ von Alexander Solschenizyn – hab ich alles selbst mit der Maschine geschrieben, weil es unmöglich war zu diktieren. Und dann ist ein Freund gestorben, und ich habe seine Frau so gerne gehabt und habe ihm versprochen, dass ich sie und die Kinder nie aus den Augen verlieren würde. Aber ich konnte nicht jeden Tag mit ihr Kaffee trinken! Also hab ich sie gefragt: „Können Sie schreiben?“ Daraufhin kam sie vier- oder fünfmal in der Woche zu mir an die Uni. Ich hatte von acht bis halb zehn Vorlesung und dann tranken wir Tee. Ich hatte ei-nen dänischen Plunder in der Länge durchgeschnitten. Und dann weinte sie. Und dann hab ich diktiert. Das ging viele Jahre so. Bis sie Osteoporose in den Armen bekam.

H.: Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, dass sie eine Vorstellung haben von dem zu übersetzenden Buch, dass sie sagen, jetzt kann’s losgehen, dann sitzt …

G.: … dann sitzt sie (zeigt auf ihre Mitarbeiterin)

H.: … dann sitzt sie da und tippt – oder? Ja? Und Sie sitzen mit dem Original da?

G.: Ja. Ja.

H.: Ohne …

G.: … ohne Hilfe (lacht).

H.: Ohne Hilfe! Sie übersetzen eigentlich, was aus Ihnen …

G.: … mhm … dann kommt was aus mir.

H.: Das ist unglaublich! Und wieviel schaffen Sie in einer Sitzung?

G.: Drei, vier Seiten. Ich bin vom Schicksal wahnsinnig verwöhnt, denn ich hab jemanden, der schreibt. Das ist für mich notwendig. Ich selbst würde nicht über eine Seite pro Tag hinauskommen, weil ich sofort anfange zu verbessern. Jedenfalls bleiben die drei, vier Seiten, die wir jeden Tag machen, mehrere Wochen liegen. Dann kommt ein Freund des Hauses, der ist Musiker von Beruf – und Leser. Und er liest mir kommentarlos mit unbeteiligter Stimme …

H.: … das alles vor! Und hören Sie zu oder lesen Sie mit? Beides?

G.: Nein, ich überlege mit. Manchmal gibt es Stellen, an denen ich entsetzlich leide. Vor meiner Mitarbeiterin geniere ich mich nicht. Wenn ich diktiere, stehe ich sozusagen nackt da. Das macht mir aber nichts. Wenn hingegen der Musiker liest, ist das ein anderes Bewusstsein – jemand anderer, der das liest. Da wird mir schon ein wenig unbehaglich. Aber wir praktizieren das seit mindestens 50 Jahren.

H.: Und dann nehmen Sie Ihre Korrekturen vor. Muss es danach noch jemand lesen?

G.: Dann korrigier ich das und manchmal, so wie gestern, steh ich in der Nacht auf und überprüfe noch einmal, ob ich auch alles richtig korrigiert habe. Dann schreibt meine Mitarbeiterin die Übersetzung noch einmal ab. Und ich lese sie wieder. Meistens tut das der Musiker auch. Schließlich schick ich das Ganze weg. Das ist der Moment, wo Hans-Jürgen Balmes ins Spiel kommt …

H.: … Ihr Lektor, der Ihnen schon beim Ammann-Verlag ewige Treue geschworen hat.

G.: Er war mit Schuld daran, dass ich „die fünf Elefanten“ – also die fünf großen Romane von Dostojewskij – für den Ammann-Verlag neu übersetzt habe. „Verbrechen und Strafe“ und „Der Idiot“ waren bereits erschienen und ich arbeitete an den „Bösen Geistern“. Da hörte ich, dass Herr Balmes von Ammann weggehen wolle. Und ich rief ihn an und sagte: „Was soll denn das? Wer soll Ihnen nun Rindfleisch mit Meerrettichsauce kochen?“ Nicht einmal dieses Druckmittel half. Er hielt es bei Ammann nicht aus und wechselte schließlich zum Fischer-Verlag, wo er große Karriere machte. Mir blieb er allerdings als Lektor erhalten, denn der Fischer-Verlag wurde Gesellschafter bei Ammann. Und so kommt Herr Balmes immer noch alle zwei Jahre für zwei Tage nach Freiburg und isst Rindfleisch mit Meerrettichsauce.

H.: Am meisten fasziniert mich, dass der neue Ton, den Sie für Dostojewskij gefunden haben, nicht am Schreibtisch enstanden ist. Übersetzen ist bei Ihnen ein Vorgang, der durch Sie hindurchläuft.

G.: Das hat sich einfach so gefügt. Meine Arbeitsweise ergab sich, da ich unabhängig war. Ich arbeitete an der Uni. Man konnte mich nicht erpressen. Nicht mit Terminen und nicht mit Geld. Und – ich genier mich, das zu sagen – ich bin unordentlich mit meinen Verträgen. Ich habe noch nie irgendwelche Gespräche über Honorare geführt. Das Übersetzen ist so schwer, dass ich nicht noch darüber verhandeln kann, ob ich zwei oder drei Euro mehr pro Seite bekomme. Ich weiß, das ist nicht richtig, das ist falsch. Aber man kann nicht Dostojewskij übersetzen und sich mit solchem Zeug herumschlagen.
(Kurzes Schweigen.)
Ich erlebe so schöne Sachen. Wir sind vorgestern abends mit einem Taxi zu meiner ältesten Tochter gefahren, die wohnt hier in der Nähe. Ich sollte das Zimmer meines Urenkels bewundern – ein fabelhafter pädagogischer Effekt. Und dann beim Nachhausekommen: Ich bezahle den Taxichauffeur, gebe ihm ein Trinkgeld und er wirft mir das Trinkgeld zurück ins Portemonnaie und sagt: „Nein, es war eine Freude für mich, Frau Geier, Sie zu fahren.“ Das sagt ein Taxichauffeur! Ich hab ihn in der Dunkelheit gar nicht besonders betrachtet … Jetzt gibt es zum Nachtisch entweder Eis mit einer selbst eingelegten Cognacpflaume oder einen noch nicht ganz kalten französischen Apfelkuchen, gebacken von meiner englischen Schwiegertochter.

H.: Ich nehm’ gerne den Kuchen.

G.: Oder wollen Sie Eis mit Kuchen?

H.: Das überlass ich ganz Ihnen, wie Sie das gestalten … Was mir aufgefallen ist: Wie nahe Ihr Begriff vom Übersetzen – diese Mischung aus höchster Kenntnis und einer lotenden Intuition – dem Übersetzungs-vorgang des Schauspielers ist. Auch er ist einer, der etwas schon existierendes Schöpferisches auf seine Weise nachvollziehen muss.

G.: Novalis sagt: „Am Ende ist jede Poesie Übersetzung.“ Und unter Poësie – mit zwei Pünktchen auf dem e – verstand Novalis Kunst. Am Ende ist jede Kunst eine Übersetzung.

H.: Man muss in sich einen dichterischen Vorgang in Bewegung setzen, um die Dichtung nachvollziehen zu können.

G.: Novalis sagt, man muss ein Dichter des Dichters sein … Gibt es eigentlich unter den großen alten Schauspielern, die auch ein so unerfahrener Mensch wie ich kennt, jemanden, der für Sie prägend war?

H.: Ja, die gab es. Aus Ihrer Generation zum Beispiel Rolf Boysen.

G.: Den kenn ich sogar. Für mich war ja das prägende Theatererlebnis, wie ich in einem vollkommen zerbombten Düsseldorf den jungen Gustaf Gründgens als Hamlet gesehen habe. Daraufhin hab ich drei Nächte nicht geschlafen. Ich bin sogar einmal ins Kino gegangen wegen Gründgens. Und er hat wunderbar gesprochen. Aber er hatte – ich rede jetzt auf Dienstmädchen-Niveau – so neue Kunstzähne. Und wenn er sprach, musste ich immer auf diese strahlenden Zähne gucken. Das war furchtbar. Ich konnte den Film gar nicht genießen … Was ist das Allerschönste für Sie, was Sie jemals auf einer Bühne gesprochen haben? Einen Text, den Sie jeden Tag, bis an Ihr Lebensende spielen möchten?

H.: Den hab ich noch nicht. Mein innerer Hausdichter ist Kleist.

S.: Ach!

H.: Ja. Und zuletzt hatte ich zwei Begegnungen mit russischer Literatur. Vor Dostojewskijs „Verbrechen und Strafe“ in Salzburg hab ich in Berlin bei Tschechows „Onkel Wanja“ mitgespielt …

G.: Wenn mir doch jemand erklären könnte, was die Deutschen mit Tschechow haben!

H.: Mögen Sie ihn nicht?

G.: Diese Begeisterung kann ich nicht verstehen! Wenn ich vor dem Regal stehe und ich habe gar nichts zu lesen, Tschechow würde ich trotzdem nicht nehmen.

H.: Können Sie sagen, warum?

G.: Vielleicht weil bei den Tschechow-Dramen zwischen der Bühne und dem Zuschauerraum der einzige Unterschied darin besteht, dass die Leute auf der Bühne viel besser erzogen und rücksichtsvoller sind als die im Zuschauerraum. Ansonsten ist es genau dasselbe. Aus meiner Sicht ist der Sprung zur Kunst, zur Poesie, bei Tschechow nicht vorhanden. Ich finde, dieser Taxichauffeur, der mir das Geld zurück ins Portemonnaie gesteckt hat, ist viel besser als alle Dramen von Tschechow. Kennen Sie seine berühmte Erzählung „Die Dame mit dem Hündchen“?

H.: Ja.

G.: Da kommen nur so gut erzogene Leute vor! Und dann frag ich mich, ob sich denn der ganze Aufwand lohnt? Verstehen Sie?

H.: (lacht) Kann sein, ja.

G.: (theatralisch) Dieses andauernde „Nach Moskau, nach Moskau!“ – Und dann kommt man nach Moskau. Und dann ruft man: „Nach Petersburg! Nach Petersburg!“ Da geht’s ja zu wie im Hühnerstall. Moskau, Petersburg – es ist doch genau dasselbe, der Umzug lohnt sich doch gar nicht.

H.: Würden Sie noch einmal nach Russland zurückgehen?

G.: Ich halte Russland für ein nicht zu betretendes Land. Ich liebe die russische Sprache, da sie im Gegensatz zu der deutschen keinen römischen Hintergrund hat. Das Deutsche ist immer noch ein Haus mit Streben – ein Fachwerkhaus mit einem festen Gerüst, die Zwischenräume sind mit irgendeinem Konglomerat aus Stein ausgefüllt. Und die russische Spracharchitektur? Eine Erdhöhle! Ich lebe in einer Erdhöhle. Im Deutschen gibt es wie im Lateinischen die Hilfsverben, wobei das Hilfsverb „haben“ als Synonym für „besitzen“ gebraucht wird. Das gibt es in Russland nicht. Auf deutsch sage ich: Ich habe eine Schwiegertochter. Was heißt hier haben? Ich habe einen Löffel oder eine Gabel, ich habe Kaffee in der Tasse, aber ich habe nicht meine Schwiegertochter. „Ich habe eine Schwiegertochter“ ist ein klassischer Hauptsatz – Subjekt, Prädikat, Objekt. Das Subjekt steht immer im Nominativ; das bezeichnete, geliebte Objekt ist ein Akkusativ. Und was mach ich als Russin, wenn ich eine Schwiegertochter habe und kein Hilfsverb? Ich tausche mit meiner Schwiegertochter den Platz. Sie sitzt hier und ich sitze da. Der entsprechende Satz im Russischen bedeutet wörtlich übersetzt: Sie ist bei mir. Ich verliere den Nominativ und „sie“ behält ihre Souveränität. Ist das nicht fantastisch?

H.: Ja.

G.: Werden Sie Russe, es ist ein ganz anderes Leben. Allerdings – die Lebensbedingungen sind einfach miserabel. Das hat man davon, wenn man keine Hilfsverben hat. Das Leben ist nicht organisiert. Und es ist nicht organisierbar. Das hat seinen Charme, ist aber wahnsinnig schwierig. Und ein Mensch kann allein nicht durchkommen. Der Sohn arbeitet, die Schwiegertochter arbeitet, die Kinder gehen zur Schule und die Großmutter zieht Tomaten auf dem Balkon. Einmal hat in einer Russisch-Einführungsvorlesung ein Student gesagt: „Damit es in Russland endlich Ruhe gibt, muss man die Sprache ändern.“ Er hat’s verstanden!

H.: Wie hat Ihnen eigentlich die Aufführung von „Verbrechen und Strafe“ in Salzburg gefallen?

G.: Für mich war wichtig an der Aufführung in Salzburg, dass wir nicht mehr in Petersburg waren; es war der Versuch, die Handlung in ein Nirgends reizustellen. Ödipus, Parzival, Don Quijote, Faust, Raskolnikow – sie alle handeln ja nicht in Spanien oder in Petersburg oder sonstwo. Sie handeln in der menschlichen Geschichte. Jede Frage oder jedes Problem in diesem Roman ist eigentlich losgelöst von der russischen Folklore oder russischen Spezialitäten und russischem Leben zu betrachten. Es geht um das Bewusstsein. Und zwar um ein typisches Bewusstsein. Weltliteratur ist Literatur, die das Nationale zum Typischen erhebt. Die Voraussetzungen bei Raskolnikow sind natürlich russisch, aber wichtig ist sein Bewusstsein in einer bestimmten Situation: Er will aus eigener Kraft entscheiden, ob es Ziele gibt, die kriminelles Handeln rechtfertigen – eine Frage unseres Jahrhunderts.

H.: Das war meine Grundhaltung zu der Figur – jemand, der einfach zu viel Bewusstsein hat, der sich so sehr beim Leben und Denken zuschaut, dass er beschließt, sich selber zum Gegenstand eines Experi-ments zu machen.

G.: Ja, natürlich. Das ist Raskolnikow … (spricht russisch:) „Ich habe für mich selbst gemordet. Einzig und allein um meinetwillen.“

H.: Allerdings finde ich, dass wir die Theorien Raskolnikows in der Rezeption nicht überbewerten dürfen. Unter welchen Umständen darf ich wie Napoleon eine Grenze überschreiten und der Überzeugung sein, menschliches Leben wiege nicht mehr als das einer Laus? – All diese Fragen sind wichtig für das Verständnis der Figur, aber sie greifen zu kurz. Raskolnikow ist viel zu klug – oder viel zu ahnend klug – und durchschaut schon von Anfang an selbst alles, was ihm nicht gelingen wird.

G.: Und vor allem weiß er, wie ein Dichter geboren wird. Man kann kein Dichter werden. Man kann erleben, was man will, man wird nicht zum Dichter. Auch nicht zum Genie. Goethe hat es die „dämonische Persönlichkeit“ genannt … Ich finde, wir essen jetzt ein Stück Kuchen.

H.: Der Kuchen ist ganz hervorragend.

G.: Ja, schnell essen. Wir haben genug da, Sie haben noch viel zu tun! Und es gibt noch etwas Wichtiges zu sagen: Im russischen Märchen gibt es eine Gestalt, die im deutschen Märchen nicht vorkommt. In Osteuropa haben wir keine Hexe, keine Frau Holle, aber wir haben die Baba-Jaga. Was „Jaga“ heißt, weiß man nicht, das ist vielleicht nur ein Reimwort. Die Baba-Jaga bewegt sich in einem Mörser voran, den Stößel benutzt sie wie ein Ruder und wischt die Spur hinter sich mit einem Reisigbesen aus. Sie wohnt am Rande des Waldes, ist Herrin über die Tiere und über die Planeten. Sie ist die Hüterin des Goldes. Und wenn man mit ihr umzugehen weiß, verrät sie einem, wie man zum Gold kommt. Wenn nicht, landet der Kopf auf einem Zaunpfahl vor ihrem Haus. Sie wohnt in einem Haus, das auf Hühnerbeinen steht. Und bei Dostojewskij gibt es die Stelle … ich weiß nicht, ob ich das so schnell finde …

H.: Was suchen Sie?

G.: Die Alte, wenn Raskolnikow zu ihr kommt und sie das erste Mal genau beschrieben ist … (sucht)

H.: Hier hab ich’s! … (liest) „Die Alte stand schweigend vor ihm und sah ihn fragend an. Es war ein winziges dürres Weiblein, etwa 60 Jahre alt, mit stechenden und bösen Augen und einer kleinen spitzen Nase. Ihr unbedecktes weißblondes, kaum ergrautes Haar war reichlich eingeölt. Um den dünnen langen Hals, der an ein Hühnerbein erinnerte, –

G.: (lacht) Ist das gut, nicht?

H.: – war ein Flanellfetzen gewickelt und um die Schultern schlotterte ungeachtet der Hitze eine völlig abgetragene und vergilbte Pelzweste.“

G.: Ja. Die Herrin des Waldes. Das ist die Baba-Jaga. Das finde ich so wahnsinnig interessant, dass die Figuren bei Dostojewskij mythische Wurzeln haben. Die führen uns in die russischen Märchen hinein. Bis jetzt hat das niemand entdeckt – außer Ihrer Verehrerin Frau Geier … Bitte essen Sie noch Kuchen!

H.: Ich habe schon zwei Stück gegessen. Danke.

G.: Wir haben nicht gezählt! Außerdem ist die Zwei die erste gerade Zahl und Sie müssen noch eine ungerade erreichen.

H.: Meinen Sie? Wenn noch Zeit bleibt … ich schau mal kurz, wann der nächste Zug fährt. Ist heute Freitag? 18:57 Uhr, das sollte ich schaffen. Wenn ich um halb sieben mit dem Taxi fahre, müsste das reichen?

G.: Seien Sie nicht so vertrauensselig! Ich fahre während des Semesters jeden Mittwoch um 3 Minuten vor und bestell das Taxi immer auf 20 nach … Fahren Sie Auto? Fahren Sie ganz vorsichtig! …

(Kurzes Schweigen. Daraufhin rezitiert G. ein russisches Gedicht.)

H.: Da klingt schön! Irgendwas mit Schnee haben Sie gesagt, stimmt’s?

G.: Ja, das gebe ich Ihnen mit auf Ihren Nachhauseweg. Es ist ein spätes Gedicht von Puschkin, für Dostojewskij war es der wichtigste Text seines Lebens. Als er in der letzten Nacht vor seiner geplanten Hinrichtung einen Abschiedsbrief an seinen Bruder schrieb, schloss er mit diesem Gedicht. Das hat mich immer tief berührt. Ich dachte: Mein Gott, da ist einer so sprachgewaltig wie Dostojewskij, aber für den Abschied reichen ihm die eigenen Worte nicht. Er überlässt sie Puschkin. Und bei „Die Brüder Karamasow“, wenn Aljoscha und Iwan über den Großinqui-sitor reden, werden dieselben Worte als das letzte Argument für die Gnade und Wohltat des Lebens zitiert. Auf Deutsch heißt es:
„Und bald an der lockigen Birke sich die klebrigen Blättchen entfalten. Noch wehen die kalten Winde und bringen den morgendlichen Frost. Aber auf den vom Schnee befreiten Stellen entfalten sich die ersten Blümchen. Und aus dem wunderbaren Wachsreich, auch der duftenden Honigzelle, kam das erste Bienchen geflogen und flog zu den ersten Blümchen, um zu schauen, ob bald der teure Gast kommt. Ob bald die Wiesen grün werden. Ob bald an der lockigen Birke sich die klebrigen Blättchen entfalten.“ Das find ich alles so wahnsinnig schön.

*   Swetlana Geier – Leben ist Übersetzen: Gespräche mit Lerke von Saalfeld. Zürich 2008

 

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