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Berühmt werden – jetzt!

„Die Nachwelt wird’s verstehen!“ Der Komponist und Pianist Moritz Eggert polemisiert gegen die weit-verbreitete Meinung, dass der wirkliche Künstler seiner Zeit voraus sei. Und liefert damit zugleich einen Zustandsbericht über das Musikdenken von heute – aus der Sicht eines Eingeweihten.

Wenn ich über Komponisten zeitgenössischer Musik spreche, vergleiche ich sie manchmal mit Kühen. Irgendwann findet eine Kuh eine besonders saftige Stelle auf der Weide, sofort zieht es auch die anderen Kühe dorthin, und schon bald grasen alle an derselben Stelle, grasen und grasen bis auch nicht mehr der kleinste Grashalm übrig ist. Aber weil sie sich schon einmal dafür entschieden haben, an genau dieser Stelle zu grasen, macht es ihnen nichts aus, immer mehr in die nackte Erde zu beißen, und alles, was sie wiederkäuen, ist zunehmend Kies und ihr eigener Abfall.
Ungefähr so steht es mit der Neuen Musik.
Alle grasen und schaben auf ihren kleinen Fleckchen – und zwar immer genau dort, wo sie es sich gemütlich eingerichtet haben. Bei dem einen mag dieses Fleckchen „New Complexity“ heißen, bei dem anderen nennt es sich noch „Avantgarde“ (oder aus Modegründen auch „Zweite Moderne“), der andere wiederum hat es sich im mystischen Minimalismus bequem gemacht und bedient die allgemeine Sehnsucht nach Esoterik. Grasen tun sie alle. Und mitkriegen tut man davon im Allgemeinen nicht viel – in den Feuilletons muss man inzwischen fast mit der Lupe nach Berichten über Uraufführungen suchen, und sogar die lange stiefmütterlich behandelte moderne Lyrik führt im Vergleich zur Neuen Musik geradezu ein Leben im Rampenlicht.
Was als eine notwendige Überwindung von bestimmten musikalischen Topoi begann, die schon in den 50er Jahren muffig anmutete, ist nun – noch mal 60 Jahre später – in eine Art fröhliche Grüppchenbildung umgeschlagen, die sich jeweils eifrig ihres kleinen Freundeskreises vergewissert.
Ich muss gestehen, dass mich diese Situation traurig macht, vor allem, wenn man sie in einen historischen Kontext bringt. Ich finde weder, dass heutige Neue Musik schlechter ist, noch dass ihre Protagonisten weniger können als früher. Wahrscheinlich ist sogar das Gegenteil der Fall – noch nie gab es z. B. so viele hervorragende Interpreten und Ensembles Neuer Musik und Gelegenheiten, neue Werke aufzuführen.
Dennoch gibt es untrügliche Anzeichen dafür, dass etwas nicht in Ordnung ist. Seit einem Jahr schreibe ich die Kolumne „Neues vom Bad Boy“ in der Neuen Musikzeitung (NMZ), in der ich versuche, der Rätselhaftigkeit der Neuen Musikszene polemisch und humorvoll auf den Grund zu gehen. Seitdem ist mein Posteingang zuverlässig mit zornigen Emails meiner Zunft gefüllt. Es herrscht eine latente Humorlosigkeit in der Szene – während früher Debatten leidenschaftlich wie auch polemisch sein durften, ruft heute jeglicher Ansatz von ironischer Selbstkritik sofort die Inquisition auf den Plan.

Ein weiteres Anzeichen ist der in der letzten Dekade lauter gewordene Ruf nach der dringend notwendigen „Vermittlung“ Neuer Musik. Was gibt es inzwischen nicht alles an Projekten: Neue Musik für Kinder, für soziale Randgruppen, für Strafgefangene; alles davon natürlich ehrenhaft und förderungswürdig. Man geht davon aus, dass eine zunehmende Vernetzung und Konfrontation neue Publikumsschichten erschließen kann, die dann später die Konzerte füllen sollen. Manche Festivals liefern inzwischen äußerst geschickt eine ganze Fülle solcher Angebote, die quasi hinter den Kulissen ablaufen und für einen guten Publikumsstrom sorgen – honi soit qui mal y pense. Hinter dieser Flut aus „Education Projects“ steht aber auch die bittere Wahrheit, dass es zunehmend schwieriger geworden ist, die staatlichen (und notwendigen) Subventionen für zeitgenössische Musik mit der Musik an sich zu rechtfertigen, und dass man daher neue Vermittlungswege bemühen muss, um den Geldgebern ein gutes Gewissen zu machen.

Nicht dass wir uns falsch verstehen – ich finde auch, dass hier vieles in der Vergangenheit versäumt wurde, vor allem was Neue Musik für Kinder betrifft. Diese Projekte sind sicherlich gut und wichtig, nur suchen sie die Schuld an der fehlenden Kanonbildung von Neuer Musik allein in der Vermittlung, nicht in der Musik selber. Will sagen: Die Komponisten von heute fassen sich nicht genug an die eigene Nase, wenn sie über das Problem nachdenken, warum ihre Musik nicht mehr von selbst – also ohne Anstoß und hochspezifische Förderung – über die Rampe kommt.

Ich muss hier erklären, was ich mit Kanonbildung meine.
Anfang des 20. Jahrhunderts fanden vieldiskutierte Uraufführungen zweier sehr unterschiedlicher Komponisten statt: Arnold Schönberg und Richard Strauss. Über den einen schrieb ein zeitgenössischer Kritiker: „Seine hypermoderne Schule verwirft den Wohlklang, den hauptsächlichen Bestandteil des Musikalisch-Schönen und seine Lehre ist auf Kakophonie und Dissonanz begründet.“
Und nein, damit war nicht Schönberg, sondern Strauss gemeint, über dessen „Elektra“-Uraufführung genau dies von einem zeitgenössischen Kritiker geschrieben wurde. Natürlich gab es auch Kritiken ähnlichen Inhalts über Schönberg, dennoch gibt es einen Unterschied: Schon wenige Jahre später wurden die Opern von Richard Strauss von Opernhäusern auf der ganzen Welt gespielt (und das auch in den Provinztheatern), während sich die Werke von Schönberg bis heute im Konzertleben relativ schwer tun. Im Gegensatz zu Schönberg fand also bei Strauss – der zuerst auf die Zeitgenossen ebenso radikal wirkte wie Schönberg – eine Kanonbildung statt, also eine Umdeutung des vormals als hässlich Wahrgenommenen in etwas, das große Attraktivität für den Hörer hat.

Ich will hier keineswegs die beiden Komponisten gegeneinander ausspielen (ich liebe sie beide), aber die Theorie aufstellen, dass klassische Musik immer in gewisser Weise zum Überleben das benötigt hat, was ich als „kulturellen Durchsatz“ bezeichnen würde. Damit meine ich jenen Moment, in dem sich Inventionen der Hochkultur plötzlich im kulturellen Gedächtnis festsetzen und dadurch eine dauerhaftere Wirkung erzeugen, die man gerne etwas pathetisch als „unsterblich“ bezeichnet.
So steht es ohne Zweifel fest, dass dies Stücken wie „Für Elise“ oder dem Finale der 9. Symphonie in großem Maße gelungen ist. Das C-Dur-Präludium von Bach war sicherlich wichtiger für seine Breitenwahrnehmung als „Die Kunst der Fuge“, die „Kleine Nachtmusik“ wichtiger für die Verbreitung von Mozart als zum Beispiel sein wunderschönes Bläserquartett mit Klavier KV 452, und auch Claude Debussy wäre ohne seinen Hit „Clair de Lune“ nicht der Debussy, den die Allgemeinheit kennt.
Natürlich handelt es sich hierbei nicht um die wirklich wichtigsten Werke dieser Komponisten. Diese Stücke mit „kulturellem Durchsatz“ ermöglichen aber einem Neugierigen, sie als Schlüssel zur wunderbaren Welt ihrer restlichen Musik zu benutzen. Und das sollte man nicht unterschätzen, schließlich gibt es dieses Phänomen der „Schlüsselwerke“ auch in anderen Künsten, von der „Mona Lisa“ bis hin zu „Über allen Gipfeln ist Ruh“. Und weder da Vinci noch Goethe müssen sich dafür schämen.

Wenn wir nun die Musik des 20. Jahrhunderts in ihrer Gesamtheit betrachten, so stellen wir fest, dass es einen seltsamen Widerspruch gibt. Auf der einen Seite stehen Komponisten wie Strauss, Stravinsky oder Schostakowitsch, denen durchaus das mit Erfolg gelungen ist, was ich als „kulturellen Durchsatz“ bezeichnet habe. Schon 1940 entschied sich Walt Disney, große Teile aus dem „Sacre du Printemps“ für seinen Film „Fantasia“ zu verwenden, immerhin einem der bedeutendsten Werke der Filmgeschichte, hier untermalt durch eines der bedeutendsten Werke der Musikgeschichte. Das ist keineswegs eine schlechte Kombination. Auch „Tea for Two“ oder der „Walzer“ von Schostakowitsch sind als Melodien so präsent, dass auch Laien sie sofort erkennen, selbst wenn ihnen dann nicht unbedingt sofort der Komponistenname einfällt.
Auf der anderen Seite sind die Komponisten, die das Selbstverständnis der „Neuen Musik“ nach Adorno prägen, eben z. B. Schönberg, Webern, später Stockhausen oder Boulez. Alles hervorragende Künstler, die aber mehr oder weniger ihr ganzes Leben damit verbracht haben, tunlichst alles zu vermeiden, was auf oben beschriebene Weise „zu populär“ werden könnte.

Ich muss noch einmal betonen, dass es mir in keiner Weise darum geht, diese beiden Seiten gegeneinander auszuspielen. Man ist nicht unbedingt ein besserer oder interessanterer Komponist, wenn einem der „kulturelle Durchsatz“ gelingt, bei manchen hat das ja auch mal ein paar Jährchen länger gedauert, wie man weiß. Bei manchen Guten gelingt es auch nie, und sie sind trotzdem gut, keine Frage.
Man ist aber auch kein besserer oder interessanterer Komponist, wenn man sich der Möglichkeit, auch einmal etwas Unangestrengtes und sofort Zugängli-ches zu schaffen, sein Leben lang bewusst verweigert.

Und das ist wirklich ein vollkommen neues Problem, das nur das 20. Jahrhundert (und leider auch noch das 21.) kennt: Komponisten, die sich dem verweigern, was eigentlich alle Komponisten bis dahin maßgeblich motiviert hatte: nämlich Musik zu schaffen, die einen jeden Menschen begeistern kann, ohne dass sich dieser vorher in irgendeiner Weise speziell dafür bilden muss. Und diese Verweigerung wird nicht nur von großen Teilen des Neue-Musik-Establishments eilfertig vollzogen, sondern auch noch als Stärke ausgelegt, denn schließlich handelt es sich ja um einen „Akt des Widerstands“, man will sich halt nicht mehr von Populismus und Kommerz gängeln lassen (auch wenn diese beiden Begriffe eigentlich bei der Herstellung von wirklich guter Musik ohnehin nie eine Rolle gespielt haben). Und man verharrt in dieser Haltung, koste es, was es wolle.

Um diese Linie durchzuhalten, muss eines der abgestandensten und entsetzlichsten Klischees der Romantik bemüht werden (zumindest still im Geiste, damit man nachts ruhiger schlafen kann): Die Vorstellung vom „Nachruhm“. Man sei halt seiner Zeit voraus, und erst kommende Generationen würden zu schätzen wissen, was man geleistet habe. Dass dieses Klischee z. B. für Schönberg sehr wichtig war, kann man leicht aus seinen Äußerungen herauslesen: Bekannt sind seine Sätze über die Sicherung der Vorherrschaft der Deutschen Musik bis auf die nächsten 100 Jahre. (Man mag es dem guten Arnold verzeihen, dass sein Enthusiasmus für seine Erfindungen ihn hier solch hochtrabende Worte finden ließ.)
Inzwischen weiß man aber, dass die sogenannte Nachwelt nach wie vor vieles, ja eigentlich fast alles, was die Neue Musik im 20. Jahrhundert theoretisch geprägt hat, immer noch nicht verstanden hat. Und sie macht auch keine Anstalten es zu tun. Mehr als 100 Jahre hatte die „Nachwelt“ Zeit dafür, und es sieht nicht so aus, als würde morgen der große Verständnisdurchbruch kommen, eher das Gegenteil ist der Fall. Man muss sich das klar machen: So lange hat es noch nie in der Musikgeschichte gedauert, bis man verstanden hat, dass etwas doch gut ist, was man anfänglich als „shocking“ empfunden hat. Und wir leben in wesentlich schnelllebigeren Zeiten als früher.
Und da eben nach wie vor ganz klar zwischen „guten“ (unpopulären aber würdigen) und „schlechten“ (populären und unwürdigen) Komponisten unterschieden wird, haben wir also eine offizielle „Neue Musik-Szene“ (ohnehin ein schreckliches Wort), in der es nach wie vor als unglaublich gewagt gilt, auch mal die Leistungen von Janacek oder Sibelius als einen wichtigen Beitrag zur Musik des 20. Jahrhunderts anzuerkennen.
Diese Schieflage korrigiert sich zuweilen von selbst, wenn nicht heute, dann eben zunehmend auch durch die viel zitierten „kommenden Generationen“, denen diese ganzen Abgrenzungsrituale nur ein Achselzucken entlocken wird, da sie die klingende Musik eines ganzen Jahrhunderts gelassen in ihrer Gesamtheit betrachten können und nicht nur einen kleinen Ausschnitt davon.

Heißt denn radikal und „neu“ zu sein wirklich auch automatisch, kein größeres Publikum ansprechen zu dürfen als einen kleinen Kreis von Experten? Wenn man z. B. ins 19. Jahrhundert schaut, kann man kaum einen radikaleren und experimentelleren musikalischen Ansatz finden, als den von Richard Wagner. Hier hat jemand eine ureigene Vision und verfolgt diese mit absoluter und gelegentlich auch unsympathischer Unerbittlichkeit. Dennoch handelt es sich hier nie um die übliche Komplexitätsmasturbation, wie sie heute so oft bei Neue Musik-Festivals zu hören ist – nein, Wagner lag eindeutig viel daran, durch genaueste Kontrolle der theatralischen Mittel einen überwältigenden Gesamteindruck zu erzeugen, der absolut jeden dafür offenen Menschen zu faszinieren vermag, egal welche Vorbildung dieser besitzt. Der relativ niedrige Durchschnitts-IQ der meisten heutigen Bayreuth-Besucher ist dafür der beste Beweis. Seine Musik wurde zu seinen Lebzeiten zwar von vielen als kontrovers empfunden, letztlich konnte man sich aber dem Bann nicht entziehen. Man kann sogar argumentieren, dass z. B. gerade seine Arbeit mit Leitmotiven genau diesen Zweck erfüllt, nämlich auch „Nicht-Experten“ den Zugang durch simple Repetition einfacher Themen zu ermöglichen. Das mag einem gefallen oder nicht, aber hinter der Anwendung dieser Mittel steht der Wunsch, ein Publikum direkt als Gegenüber anzusprechen. Und wenn der inzwischen vollkommen abgedroschene Walkürenritt mal wieder bei irgendeinem Kinofilm erklingt, weiß man, dass auch ein Wagner den „kulturellen Durchsatz“ erreicht hat. Ob dies auch seinem größten Nacheiferer im 20. Jahrhundert – Karlheinz Stockhausen – mit den Mitteln seiner Ästhetik gelungen ist, mag bezweifelt werden.

Die Situation ist aber noch komplizierter. Denn was ich beschreibe, ist inzwischen fast ausschließlich ein Problem des deutschsprachigen Kulturraums, in dem sich die Szene zunehmend wie ein kleines gallisches Dorf geriert, das gegen die imaginierte Gesamtverflachung der Welt Widerstand leisten muss. Der Rest der Welt kann unsere ästhetischen Probleme kaum noch nachvollziehen. Wird daher wirklich alles flacher? Ist nicht das Warnen vor der zunehmenden Verflachung der Kultur so alt wie Kultur selbst? Ich bin sicher, dass schon zu Carl Philipp Emmanuel Bachs Zeiten manch alter Kontrapunktiker mahnend gegen die neue „simplere“ Musik der Jungen den Finger erhoben hat.
Mir fällt es zugegebenermaßen auch schwer, manch heutigen angloamerikanischen Retrokitsch oder asiatischen Exotismus als einen gangbaren Weg für die Zukunft zu empfinden. Die dortigen Komponisten mögen mehr Freiheit beim Komponieren haben, besser sind sie dadurch auch nicht unbedingt. Was alles momentan en vogue ist, ist ja letztlich nicht so wichtig wie das, was am Ende die Besten unserer Zunft – egal wo – daraus machen. Und wenn es einem von diesen Besten gerade hier – weil ihnen nur hier der Zeigefinger entgegengestreckt wird – gelänge, den Graben der Eitelkeiten zu überspringen und einen Funken zu entzünden, der länger hält als zwei Zeilen einer Feuilletonkritik: Es wäre unendlich viel gewonnen.

 

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