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Versteckte Ermittlungen

Hier geht es um ein Museum ohne Öffnungszeiten; es gibt keine Hinweistafeln, kein Logo, keine Kritiker, keine Klimaanlage, keine Museumspädagogen, kein Aufsichtspersonal, keine Eintrittspreise. Der Kulturhistoriker, Schriftsteller und Konzeptkünstler Bernhard Kathan betreibt das „Hidden Museum“. Erika Wimmer hat es besucht.

Kuhfotografie:* Eine Kuh schaut neugierig in die Linse, im Hintergrund gelbes Herbstgras vor tiefblauem Himmel. Eine Kuh hat den Kopf nach hinten gedreht und starrt in die Luft. Eine Kuh steht mit dunklem Blick, gestreckten Beinen und angespanntem Rücken unter Felsen, Nebel zieht über den Grat. Die Kühe liegen ineinander geschoben im Gras – ein Körper. Harmlos sei die Kuh, heißt es. Kühe besitzen einen Charakter, sagt Bernhard Kathan. Kühe sind klug, eigenwillig und mitunter zornig. Sie sind eine Kulturleistung der Bauern. Aber wo sind diese Kühe? Häufiger als eine Kuh, die diesen Namen verdient, findet man ein Großstalltier mit Produktionspluspunkten. Schöne neue Kuhstallwelt.

Das „Hidden Museum“ kristallisierte sich in den späten 90er Jahren heraus, als ein überregionales Landschaftsprojekt am Sandjoch, das der in Innsbruck lebende Bernhard Kathan organisieren sollte, nicht realisiert wurde und Geld übrig war. Darum gibt es heute einen konkreten Ort: ein kleines Haus, ein steiles Grundstück in der Nähe von Fraxern, Vorarlberg. In einem schlichten Raum, nicht größer als ein Wohnzimmer, finden Ausstellungen statt, auch der Außenbereich – Garten, Sträucher, Bäume – wird einbezogen. Die Vernissagen unterscheiden sich von den üblichen grundlegend. Man trägt feste Schuhe und Windjacken, man ist auf dem Land. Kein Smalltalk, kein Kunstgeflunker. Die Gäste sind persönlich geladen, immer gerade so viele wie an einem Tisch Platz haben. Die Gastgeber kochen eigenhändig und tischen auf. Einen Galeristen, einen Sammler gibt es hier nicht.

Essmuseum: Es handelt sich um eine Kredenz, in deren Schubladen Texte und Bilder arrangiert sind. Man zieht eine Lade auf, schaut, liest, unterhält sich darüber und öffnet die nächste Lade. Die Kredenz gibt Auskunft über die Küche der kleinen Bauern: Was früher gegessen wurde ist aufgrund veränderter Arbeitsbedingungen weitgehend überholt. Bär, Wildschwein, Fischotter, Krähen, Wachteln und andere Tiere sind aus den Kochbüchern verschwunden. Daher gibt es ein entsprechendes Kochbuch, in dem das Tier und seine Eigenheiten die Hauptsache sind. Wie man die jetzt verschwundenen und seltenen Gäste der Speisekarten einst ins Jenseits beförderte, dafür gab es genaue Anweisungen. Zwischen der Erfindung der Tierliebe und der Einführung von Geflügelschlachtscheren besteht ein direkter Zusammenhang. Die zunehmende Perfektionierung des Schlachtens verlangte nach dem entsprechenden Gegengewicht auf emotionaler Ebene. Überhaupt, das Schlachten, überhaupt, das Blut. Das Thema bewegt sich auf dem schmalen Grat zwischen Genuss und Ekel und schreit nach Humor. Kunst-Würste und Wurst-Künste, eine bunt gemischte und üppige Motivgeschichte der Wurst, lässt den Leser in Sinnlichkeit baden und mit einem Augenzwinkern die Grenze zwischen Ekstase und Grausen ausloten.
Anders das Hörstück Eins ist Gott, eine Montage von Tötungsanweisungen, die sich allesamt sehr sachgerecht anhören. Dieser Text ist so geschliffen wie das Messer, von dem immer wieder die Rede ist. Die Reglementierung von Schlachtungsvorgängen ist in ihrer prinzipiellen Struktur nicht etwa überholt, sondern auf merkwürdige Weise und trotz moderner Technik immer noch aktuell. Der mitschwingende Ton, diese entschlossene Kälte, hört sich mehr als bekannt an: Das kalkulierte, sogenannt schonende Töten (von Tieren?) ist gleichzeitig banal wie erschreckend. Es enthüllt totalitäres Denken. Acht Bücher behaupten das tierschutzgerechte Töten, aber Eins ist das Kalkül.

www.hiddenmuseum.net leistet die Nachbearbeitung dessen, was in Fraxern über die Bühne gegangen ist. Zielsetzungen und Inhalte der Ausstellungen werden mit den anderweitig verfolgten Buch- und Radioprojekten verknüpft. Im Museum werden nicht nur Bilder, Fotos, Objekte gezeigt; realisiert werden auch Toninstallationen, Filmarbeiten, Happenings, Lesungen. Kathan lädt Künstlerinnen und Künstler, mit denen er sich verwandt fühlt, zum Austausch ein. Die Internetseite dokumentiert das Geschehen nicht einfach, sie bildet nicht ab, sie zeichnet nicht nach. Sie denkt weiter, ist eine Reflexions-Werkstatt auf hohem Niveau. Eine Künstlergalerie sucht man vergebens, Leistungsschau und Personenkult bleiben aus, Geschäfte werden nicht gemacht. Die meisten Projekte finanzieren sich durch die eigene Arbeit der Beteiligten, einige private Förderer schießen gelegentlich zu.
Die Essensgewohnheiten verschiedener Zeiten interessieren, alles, was damit zusammenhängt, spielt eine wichtige Rolle im Gesamtbild. Hungerkünstler, eine Klanginstallation Kathans, bringt unter anderem Ess-phantasien von hungernden Schriftstellern zu Gehör. Die neun Texte sind Destillate aus neun Gesamtwerken europäischer Literatur: Gogol, Pirosmani, Vallejo, Charms, Weil, Scheerbart, Panizza, Katharina von Siena, Kafka – sie alle sind real verhungert, entweder aus Armut oder krankheitsbedingt oder im Streik. Kafka litt an Kehlkopftuberkulose und konnte nichts mehr schlucken, Panizza verkam in einer Irrenanstalt und Charms sehnte den Tod herbei, um seinem Elend zu entrinnen. Das Hörstück enthält keinerlei soziale Anklage. In Kathans Montagen steht der sprachliche Gestus im Vordergrund, Gedankenmuster werden auf deren Untergrund hin untersucht, verborgene Obsessionen offengelegt. Die Not der Künstler schwingt freilich mit. Kunst, Kunst und Leben, Wirtschaft und Kunst. Und immer wieder Autoren und ihre Bücher, Tagebücher, Briefe. Schriftzeugen unterschiedlicher Herkunft und Zeit sind eine unverzichtbare Quelle des „Hidden Museum“. Die Literatur, die wichtig ist, ist oft eine, die gerade wieder vergessen wird. Oder eine, die es immer nur im Verborgenen gegeben hat, weil es sie nicht geben durfte. Das eine hängt mit dem anderen zusammen.

Zur neuen Porträtmalerei: Das Museum ist erst im Aufbau begriffen und installiert aus aktuellem Anlass eine Kamera mit Bewegungssensor. Fotografiert werden all jene, die ihre Neugierde über das neue Unternehmen nicht bändigen können, in Abwesenheit des Museumsbetreibers das Grundstück betreten und durch die Scheibe ins Innere des Raumes blicken. Etwas später wird über www.hiddenmuseum.net und unter dem Titel Bankraub die nachträgliche Publikation der so Porträtierten angekündigt, was vor Ort einen Sturm der Entrüstung auslöst. Freilich werden in Wahrheit die Fotos echter Bankräuber, aufgenommen von echten Überwachungskameras, gemeinsam mit den gestellten Aufnahmen von Freunden (neugierig durch die Museumsscheibe blickend) ausgestellt. Die subtile Ironie des Projekts, Ende 2008 übrigens zu allerhöchster Aktualität gelangt, wird übertönt: Wir sind alle potentielle Bankräuber [wobei weiterhin offen bleiben wird, wer wen ausraubt]. Doch dem Museum geht es nicht eigentlich um Provokation, sondern um das Bewusstmachen einander überlappender Muster. Die gute alte Porträtmalerei wurde endgültig von der Fotografie abgelöst und kommt allenfalls noch in Form polizeilicher Phantombilder zur Anwendung. Parallel dazu betrachte man die heutige Reproduktionsmedizin, die hochwertigste Zuchtmütter sammelt und gesunde und schöne Menschen züchtet. Repro Tech zwei, die entsprechende Versuchsanordnung des „Hidden Museum“, wird als System umfassender Kontrolle vorgeführt, das auf die Frage, ob Widerspenstigkeit, Eigensinn, Aufbegehren unter den Zuchtmüttern nicht vorkomme, antwortet: Das kommt vor und wird sich nie ganz vermeiden lassen. Das gab es auch in den Klöstern früherer Zeiten [...]. Von der Organisation der Klöster lässt sich viel lernen. Aber wir betreiben kein Kloster. Als gewinnorientiertes Unternehmen haben wir nicht nur an unsere Kunden, sondern vor allem an unsere Aktionäre zu denken. So schließt sich der Kreis.

Wer berührt, stirbt. Das Hörstück verarbeitet das Thema Aids anhand alter Texte, die Siechtum und Verfall, den damit verbundenen Ekel und mögliche Ansteckungsgefahren miteinander verbinden. Was berührt wen und wer berührt nicht? Pestbeulen, Eiterbeulen, Wundbinden, Wundgestank, Blut und Aderlass. Ein ungewöhnlicher Aspekt schiebt sich in das bekannte Bild: Es gab lebensmüde Menschen, die, aus Verzweiflung darüber, dass ihre gesamte Familie gestorben war, unbedingt angesteckt werden wollten. Sie wickelten sich in von Pest verseuchte Tücher, erkrankten aber nicht. Andere flohen aus Angst, wurden aber in kurzer Zeit von der Seuche eingeholt. Berührungsangst wirkt anziehend und häufig stirbt nicht, wer berührt. In seiner kulturhistorischen Arbeit zum Elend der ärztlichen Kunst kontrapunktiert Kathan die stets hervorgekehrte Erfolgsgeschichte der Medizin, die mit ihrer punktgenauen Technisierung in der Diagnostik, mit der Transplantation von Organen und Gliedmaßen und mit gentechnisch hergestellter Medikation einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Ohne zu denunzieren erzählt er eine andere Geschichte. Er zeigt die zunehmende Abwehr und Abgrenzung in der Heilkunst und dokumentiert die Symbolik von Näheverlust und Distanzierungsdrang, Furcht vor Beteiligung und Berührung. Die Medizin hat in ihrer 500-jährigen Geschichte ein Arsenal an Techniken zur Heilung entwickelt, damit aber eine Fragmentierung des Patienten in Körperteile und Einzelsymptome vorgenommen. Die Zersplitterung des zu heilenden Menschen dient der Abschottung vor dessen Leid, das immer auch das Leid des Arztes als Mensch ist. In der genauen Messung durch technische Geräte aber liegt mitunter die größte Fehlerquelle. Zahlreiche Patienten sind so zu Opfern einer exakten Medizin geworden.

Stall und Haus / Heimat oder Religion / Körper und Tod: Um diese zentralen Themen und die damit bzw. untereinander verknüpften Identifizierungen kreist Bernhard Kathans konzeptionelle Arbeit, die sich in Summe einer Verfeinerung und weitestmöglichen Klärung verschrieben zu haben scheint. Die Arbeitsweise gleicht jener eines Röntgenapparates. Oberflächenstrukturen allein geben dem Kulturhistoriker wie dem Künstler keine ausreichenden Antworten auf seine Fragen, es gilt, in die Tiefenstruktur einzudringen und brauchbare Möglichkeiten zur Erfassung und Beschreibung des Vorgefundenen zu entwickeln. Die so entstandenen (Röntgen-)Bilder verweisen auf nächstliegende oder entgegengesetzte Phänomene, die ihrerseits wiederum rückverweisen und weiterführen. Die Kreisbewegung sucht ein Gesamtbild, eine Wirklichkeit, wie sie sich kaum je offen zeigt. Doch dieses Röntgenauge ist nicht kalt, auch dann nicht, wenn es sich äußerster Kälte stellt. Der Vorgang des Durchleuchtens geht von der Mitte aus, von jenem Ort, wo die Voraussetzung zum Mitgefühl, das Einfühlungsvermögen, bereits entwickelt ist. Ein Detail der Gründungsgeschichte des „Hidden Museum“ scheint darüber Auskunft zu geben: Eigentlich ein Zufall. Ich habe meinen Vater in seinen letzten Lebensjahren oft besucht. Er brauchte damals dringend eine Beschäftigung, die seinem Leben wieder einen Sinn gab. Da es an Baumaterialien nicht mangelte, begann ich, mit ihm ein kleines Gebäude im Gebirge zu errichten. Das hat uns beiden Spaß gemacht.

Betrachtungsübung: Während der Irakkrieg angezettelt wird, sammelt Kathan den Kaffeesatz einer onkologischen Station, trocknet ihn und stellt das schwarze Pulver in schön gereihten weißen Schalen aus. Herrgottswinkel: Der zentrale Ort in der Bauernstube ist ein Winkel aus Wand + Wand + Plafond. Siderofile Neigungen: Moderne Wiedergänger stellen ihre Körpersubstanzen zur weiteren Luxusverwendung zur Verfügung (aus dem Eisengehalt im Blut eines Menschen etwa können Ringe geformt werden). Museumsgarten: Erde von E. T. A. Hoffmann und Kurt Schwitters, Eicheln von Gabriele Münter, Sämereien von Rudolf Borchardt, Unkraut der Brüder Grimm und Lorbeerfrucht von Pasolini – die Gräber bedeutender Geister liefern das Grundmaterial für Weiteres. Untergang eines Dorfes: Die Schauplätze eines vergangenen Verbrechens, festgehalten in Fotografien von heute – und schon passt nichts mehr zusammen.
Jedes einzelne von Kathans kleineren oder größeren Projekten wirft einen neuen Blick auf diese unsere Welt. Indem Vergangenes gehoben und umkreist wird, geht es doch nur um die Gegenwart, die im selben Moment ihrer Behauptung schon wieder Geschichte wird. Alt/Neu – für Kathan sind dies letztlich uninteressante Pole, deren saubere Scheidung kaum je einen Sinn ergibt. Mit seinem „Hidden Museum“ spürt er vielmehr den subtilen Regelverletzungen, Verschiebungen und Bruchlinien entlang gewohnter Muster nach. Genau darin nämlich fließen Vergangenheit und Gegenwart zusammen.

Der gefräßige Garten: Direkter Anblick von der großen Fensteröffnung des Ausstellungsraumes, der Museumsgarten ist ein Bauerngarten mit hohen Stauden, unordentlich dastehenden und ineinander sich rankenden Gewächsen, die Blüten nicht farblich aufeinander abgestimmt. Von der ausgelesenen, halb im Erdreich vor sich hin rottenden Zeitung über die an Bäumen und Sträuchern hängenden getrockneten Kuhohren bis hin zum Kaffeesatz jener onkologischen Station – dieser Garten einverleibt sich die Dinge und verarbeitet sie vor aller Augen bis zu ihrem völligen Verschwinden. Doch dies ist nur ein Oberflächenbild, denn die Wahrheit ist, nichts hinterlässt keine Spuren oder, wie der Titel eines der zuletzt erschienenen Bücher Bernhard Kathans lautet: Nichts geht verloren.

*   Kursiv Gesetztes verweist auf Titel von Projekten oder auf direkte Zitate Bernhard Kathans.

 

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