zurück zur Startseite

Landvermessung
No. 2, Sequenz 8
Vom Reschensee nach Müstair

Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: In Quart folgen unterschiedliche Autoren mit unterschiedlicher Kondition unterschiedlichen Linien (s. Übersichtskarte). Derzeit befinden wir uns am Ende einer Geraden, die von Garmisch-Partenkirchen Richtung Oberes Vinschgau führt. In der aktuellen Folge ist Ilija Trojanow der vorgegebenen Linie vom Reschensee Richtung Münstertal gefolgt. Reisebericht eines Vielgereisten: über Handelsströme, erzieherische Maßnahmen an der Natur und einen Prozess gegen Mäuse.

Eine schiefe Ebene.
Eine doppelte schiefe Ebene.
Nach Norden aufsteigend, nach Osten abfallend.
Eine Schneise, ein Durchgang.
Sitzt man auf einer Weide unterhalb des Glurnser Köpfls (so etwa ab 2700 Höhenmeter gelten Gipfel im Vinschgau als ausgewachsen und heißen Kopf) und blickt man nordwärts in Richtung Reschenpass, sieht man die Rinne, durch die das Wasser der Geschichte geflossen ist, im Hochsommer satt, dicht und zuversichtlich wie das grünste Gras.
Ein endloser Strom ist hier über die Alpen geflossen, ein Strom aus Gold und Salz, auf Mauleseln und auf Pferden, ein Strom aus Riten und Ruten, einst, im Zeitalter des Glaubens, weswegen der Tartscher Bühel geformt ist wie der Rücken einer alten Schildkröte, spürbar ein Ort der Kraft, ein Schnittpunkt von Energien, wo Sonnenkulte und Fruchtbarkeitsorgien gefeiert wurden. Schon 600 vor Christus war dieser Kultplatz besiedelt, ein respektgebietender Hügel, auf dem eine kleine Kirche steht, wie ein nachgereich-ter, aufgesetzter Gedanke (später wurden auf dem Bühel die Raubmörder hingerichtet, neuzeitlichere Menschenopfer auf dem Altar der herrschenden Ordnung).
Der Strom führte die Römer heran und hinüber, über ihre Via Claudia Augusta, die kaiserliche Staatsstraße, die von Altinum (der oberen Adria) nach Feltre, Trient und Bozen über den Reschen- und Fernpass ins Lechtal nach Füssen führte, dort floss sie weiter durch offenes Land, nach Augsburg und bis in die Donau. Der Ausbau dieser Straße war das strategische Anliegen von Kaiser Claudius, ordnete an, die urgeschichtlichen Wege zu verwenden. Also wurde die Rinne genutzt, die Erde bearbeitet, es wurde geebnet und ausgehoben und ausgegraben und drainiert, es wurde ausgefahren, eingefahren, es kam Geld ins Land und es blieb im Lande; es errichtete die tiefsten Fundamente. Die Römer vergingen, der Strom floss weiter, weniger ordentlich zeitweilig, weniger weltläufig, es entstanden Fürstentümer und Königshäuser, Lehen wurden vergeben, Zehnte wurden bezahlt, Kirchen und Klöster wurden errichtet, die Zeit des Glaubens schmolz mit der Zeit des Wissens, das Geld verlangte nach Zins und Zinspflicht, nach Schmalzzins und Restzins. Wo der Bankier ist, kann der Bürger nicht mehr weit sein. Und eine Stadt wie Glurns, dem Salz sei Dank, wird reich und frei. Das Salz kam aus Hall in Körben verpackt, zu Pferde und auf Ochsenkarren, unterwegs die Alpen zu überqueren. Aber an Glurns war kein Vorbeikommen. Das Salz musste gewogen und besteuert werden, es konnte verkauft werden. Oder getauscht werden gegen Wein aus Veltlin. Erst dann durfte man über die Etschbrücke, bergab Richtung Worms, also Bormio.
Ja, es ist schwer, die Bedeutung des Etschtales zu übertreiben. Hier sind die Epochen sichtbar, zumindest teilweise, wie beim halb überfluteten Grauner Turm im Reschensee, der von Österreich kommend den Reisenden mit einem Ausrufezeichen begrüßt. In den Tiefen des Sees schlummern die Märchen, ein Drache etwa, der den Turm unter Wasser bewacht und nur selten auftaucht – dann schimmert sein schuppiger Rücken über dem Spiegel des Sees.

Wer zu Fuß geht, muss sich Wege erdenken. Wer einer Linie zu folgen hat, muss besonders viele Umwege in Kauf nehmen. Von Nauders nach Schluderns nach Schlanders, das wäre eine passende Route für ein Motorrad oder ein Automobil, der Fußgänger hingegen ergeht sich andere Wege – einen Stundenweg, einen Psalmenweg, einen Eigenweg –, von Kloster zu Kloster etwa, vom Benediktinerstift Marienberg bei Burgeis zu den Benediktinerinnen von St. Johann in Müstair. Die Einheimischen nennen diesen Pfad auf halber Berghöhe seit alten Zeiten den Eselsweg, wohl weil er genutzt wurde von den Schleichhändlern, die einst Schmuggelware aus der Schweiz nachts an den Zöllnern im Tale vorbeischoben, vielleicht aber auch, weil der Sage nach ein reuiger Ritter, der sich mit einer Klosterstiftung reinwaschen wollte, seinen Esel hinauftrieb, entschlossen, dort den gesegneten Bau zu errichten, wo dieser stehen bliebe. Heute ist der Weg pädagogisch eingerichtet, durch regelmäßige Tafeln, aufgestellt von den wenigen verbliebenen Mönchen, um daran zu erinnern, dass „es andere Welten und Zeiten gibt neben unserer Gegenwart, die uns mehr und mehr festzuhalten versucht. Die Rhythmen der Natur, die Ereignisse der Geschichte, der Klang der Sprache, sie erweitern unsere Sicht.“

Das ist zweifellos wahr. Von oben herab, angeregt von den nachdenklichen Worten der Ordensbrüder, kann man sich besser an verlorene Landschaften erinnern. Von oben herab kann man eher die Spuren der Zeit dechiffrieren. Von oben herab erkennt man, wie sehr wir unsere Natur ausgerichtet haben. Wie wenig sie noch Natur ist. Keine neue Erkenntnis, selbstverständlich. Aber inmitten dieser überwältigend schönen Landschaft (ich bin viel herumgekommen, aber so etwas Schönes wie den Vinschgau habe ich selten gesehen) ist sie besonders erschütternd. Einst war überall Au, heute ist Altwasser – der Fluss begradigt, eine erzieherische Maßnahme, abgetrennt der Arm; Überflutungen sind also Phantomschmerzen, denn das Wasser steht, und das sollte Wasser niemals tun: stehen. Auen unterliegen der Dynamik des Wassers, das zerstört, neu erschafft, abträgt und aufschottert, entwurzelt und anlandet. Den Menschen galten Auen als wertloses Land. Da ungeordnet, fremd, unbetretbar. Heute ist im Tal fast alles nutzbar: trockengelegtes, gerodetes Land. In Ordnung gebracht. Verwendet, aber unbelebt. Und das Erbe der Auen: Apfelkulturen. Sortenbereinigte Apfelanlagen prägen die Landschaften entlang der Etsch. Interessanterweise wird nach der Bereinigung der Natur die Arbeit des Menschen rationalisiert. Für Reife und Farbe sorgt nunmehr die Chemie. Einst gab es einhundert Apfelsorten in Südtirol, von denen nur wenige den heutigen Normen gerecht werden würden, denn die Normen sind so formuliert, dass der Wildwuchs an ihnen scheitern muss. (Ein Bauer erzählte mir einmal, die leckerste Ernte seines Lebens sei ihm nicht abgenommen worden, weil die Größe und die Rundung der Früchte nicht den Normen der Supermärkte entsprochen habe.) Also wurde Vielfalt rechtzeitig entsorgt. In den sechziger Jahren erhielten die Bauern Geld, wenn sie ihre Apfelbäume mit einheimischen Sorten entwurzelten und an ihre Stelle Golden Delicious anpflanzten. Es ist einfältig, Vielfalt durch das Gitter der Nachfrage zu pressen. Daher ist es ein gesegneter Anblick, nach Überquerung des Melzbaches, unter sich – wie ein botanischer Garten, der zwischen den Blöcken und Reihen bestehen darf – die letzte erhaltene Aue der Region zu sehen: Saldurbach, Punibach und Etsch bilden die Schludernser Au (auf der Karte steht Biotop).

Daneben liegt Glurns, Südtirols kleinste Stadt. Aus der Entfernung könnte man ihre Mauern verwechseln mit Kulissen für ein mittelalterliches Schauspiel. Hier könnte man nachvollziehbar ein großes Drama aufführen:
„Der Mäuseprozeß“. Eine Wiederaufnahme aus dem Jahre 1519. Der Richter: Konradin von Spergser. Der Ankläger: ein Vertreter der Gemeinde Stilfs. Die Angeklagten: alle Feldmäuse (Lutmäuse) im Umfeld der Stadt. Der Verteidiger: ein Mäuseliebhaber. Und die Anklage lautet: die Mäuse haben zu großen Schaden angerichtet. Der Staatsanwalt fordert eine Art ethnischer Säuberung. Alle Mäuse sollten verbannt werden. Es folgt eine umfassende Beweisaufnahme. Die Schäden sind unbestritten, nicht so die Schuld der Nagetiere. Denn der Rechtsanwalt der Mäuse argumentiert, dass diese aufgrund ihrer Natur unschuldig seien. Trotzdem, das Urteil lautet: schuldig, und das Strafmaß: Vertreibung. In Anbetracht der besonderen Situation, nämlich der Vielzahl neugeborener und schwangerer Mäuse, wird ihnen zweimal eine Frist von 14 Tagen gewährt. Desweiteren wird ihnen freies Geleit in die Schludernser Leitn zugesichert. Wörtlich steht es in dem Urteilsspruch aus den Archiven der Stadt: „Es werde ihnen auch bei solchem Abzug ein frey sicher Geleit vor iren Feinden erteilt, es seyen Hund, Katzen oder andere ire Feind; er sey auch in Hoffnung, wenn aine schwanger wär, dass derselben Ziel und Tag geben werde, dass sie ir Frucht fürbringen und alsdann auch damit abziehen möge.“ Dieses Stück sollte in Glurns Jahr für Jahr aufgeführt werden, es würde nicht nur viele Touristen anziehen, sondern auch jenen Tag in Erinnerung bewahren, als die Natur endgültig gezähmt wurde, in dem selbst Tiere und Plagen Teil des Rechtssystems wurden.

Aber was fliegt, hat es offensichtlich offenhörig leichter zu bestehen, als das, was wächst und das, was fließt. Um uns das Gezirpe von Waldohreulen, Wiedehopfen, Rotkehlchen, Zaunkönigen, Schwanzmeisen, Orpheusspöttern, Gartenbaumläufern, Seidensängern, Kernbeißern und Kamingimpeln. Und vor unseren Augen die unglaublichste Pracht an Schmetterlingen. Dreitausend Arten soll es in Südtirol geben. Und in der näheren Umgebung allein, in Kuppen und Schluchten und Wäldern und Heiden und Felsen und Schutt, haben Untersuchungen der Europäischen Vereinigung zur Erforschung der Schmetterlinge über eintausend Arten gezählt. Der Fußgänger wird reichlich belohnt. Der Pfad führt nach Taufers, letzte Südtiroler Siedlung vor der Schweizer Grenze, führt oberhalb des Städtchens und dem Rambach direkt vorbei an der Ruine Rotunde und der Ruine Reichenberg.

Stichworte eines anderen menschlichen Wahns: Im Februar 1499 löste ein Überfall von Tiroler Truppen auf das Kloster Sankt Johann – mit einer in Südtirol einzigartigen Kirche, in der sich frühe byzantinische Kunst mit einem romanischen Grundriss aus dem 9. Jahrhundert paart – den sogenannten Schwabenkrieg aus: zwischen den Eidgenossen und den Drei Bünden sowie dem Haus Habsburg, das vom Schwäbischen Bund unterstützt wurde. Maximilian I., römischer König seit 1486, wollte das Münstertal erobern, weswegen Ende März seine Truppen plündernd bis in dieses Tal vorstießen und die Äbtissin des Klos-ters St. Johann und weitere 33 Engadiner als Geiseln nahmen. Die Habsburger Seite war siegessicher, man verfügte über ein Heer von 12000 Mann, man hatte zum Schutz des Heerlagers zwischen Taufers und Latsch eine Wehr errichtet, etwa dort, wo der Rambach aus dem Münstertal in das Etschtal fließt. Dieser Festungswall war mächtig gebaut und mit zahlreichen Geschützen bestückt. Doch der Gegner fand den richtigen Umweg. Mitten in der Nacht, auf Pfaden wie jenem von Kloster zu Kloster, schlichen die Bündner Soldaten, unterstützt von den Eidgenossen, hinter dem Rücken der vermeintlich so hervorragend verschanzten Habsburger Armee auf die andere Talseite und griffen den Gegner bei Tagesanbruch aus unerwarteter Richtung an. Panik brach in den Reihen des Feindes aus. Die Bündner verfolgten die Fliehenden bis weit in den Vinschgau hinunter. Zahlreiche Landsknechte kamen in den reißenden Schmelzwasserfluten der Etsch um, als die Brücken unter ihrem Gewicht zusammenbrachen. Über 5000 Mann aus Schwaben, Tirol und Italien sollen gefallen sein, demgegenüber nehmen sich die Bündner Opfer (ungefähr 2000 Tote) gering aus. Die Bündner plünderten das obere Etschtal und brannten die Dörfer Mals, Glurns und Latsch nieder. Alle männlichen Bewohner älter als zwölf Jahre wurden umgebracht. Zur Vergeltung wurden die 34 Geiseln aus St. Johann in Meran zu Tode gefoltert.

Heute spaziert man über die Grenze, die fast keine mehr ist, und kann sich schwer vorstellen, dass sich Tiroler und Eidgenossen gegenseitig erschlugen, ein unwiederholbarer Alptraum aus archaischen Zeiten, wäre das Etschtal nicht gezeichnet von schrecklichen Betonbauten, die in dieser Landschaft besonders ins Auge fallen, offenbar unverwüstliche Bunker aus dem Ersten Weltkrieg, von Jugendlichen zum Klettern genutzt, innen voller Müll, Mahnmale, die allein schon durch ihre Hässlichkeit überzeugen sollten.

Am Abend treffen sich Einheimische und Touristen (Deutschsprachige und Italiener halten sich die Waage) bei der Gelateria in Mals. Mit zwei Sorten Eis in der Waffel suche ich das Haus des größten Südtiroler Komponisten, des leider fast vergessenen Johann Rufinatscha. Obwohl mich ein Freund begleitet, ein Nachfahre des Komponisten, finden wir das Gebäude nicht. Es ist abgerissen worden. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als wenigstens einen Vinschgauer Tag mit seiner Musik ausklingen zu lassen, während das Tal sich immer weiter eindunkelt.

 

im Heft weiterblättern


Email

registrieren

Ihre Email-Adresse wurde bei uns registriert und zur Liste der Newsletter-Abonnenten hinzugefügt.
Sie erhalten in Kürze ein Bestätigung per Email.