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Linke Seiten Nr. 13

Der Essayist Franz Schuh hat die Einladung der Redaktion angenommen, auf die Textbeiträge, die auf den rechten Seiten dieser Ausgabe abgedruckt sind, unmittelbar zu reagieren. Als erster Leser und auf seine eigene Weise. Schuh platzierte – angeregt durch die Lektüre – auf allen linken Seiten seine philosophischen Betrachtungen, Kommentare, Notate, Glossen. In Summe ergibt das ein Heft im Heft: Wenn Sie also Ihre Lektüre mit Franz Schuh beginnen wollen – stellen Sie das Heft auf den Kopf und lesen Sie von hinten nach vorne.



Vorläufige Notizen zum Künstler-ich

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Ja, wie anfangen – zwei Mottos. Canetti: „ich: das schnei-
dende Wort“; ein anderes von Dieter Bohlen: „Ich bin jeden Tag hundertprozent kreativ gefordert.“

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Also „Vermutungen über das Künstler-ich“ / und ein Tipp, warum nichts anderes geht als Vermutungen, und war-
um, was als Vermutung durchgeht, auch nur kaum geht – die Einheit der Kunst ist in zweierlei Hinsicht fraglich: Erstens hält keineswegs nur zu Unrecht ein jeder das für Kunst, was er dafür hält. Christian Demand dekonstruiert in diesem Sinn den Kunst-Begriff: „Es gibt so etwas wie die Kunst im Singular, eine durch bestimmte Eigenschaften definierte Menge von Artefakten, die Kunst sind, egal, ob wir persönlich sie für Kunst halten oder nicht. Als höchste Instanz für die Vergabe dieses Gütesiegels gelten in der Regel die Kunstgeschichte und das Museum – auch diese interessanterweise meist im Singular: ‚Kunst‘ ist – und war auch schon immer – ein Wertbegriff, das heißt ein Begriff, dessen Verwendung die Vorlieben und Abneigungen derer widerspiegelt, die ihn jeweils verwenden. Kunst ist somit schlichtweg alles, was wir so nennen, weil wir es, aus welchen Gründen jeweils auch immer, für interessant, aufregend, bereichernd oder beglückend halten. Da die Menschen aber erfahrungsgemäß sehr unterschiedliche Dinge für interessant, aufregend, bereichernd oder beglückend halten, ist die volkspädagogische Beschwörungsformel ‚Das ist Kunst!‘ entweder trivial (sofern sie nur darüber informiert, dass das fragliche Objekt beispielsweise im Museum ausgestellt wird) oder aber anmaßend (sofern sie unterstellt, dass, was ich persönlich für interessant halte, automatisch auch für alle anderen von Interesse zu sein hat).“

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Aber zweitens ist die Kunst (als Einheit) gegenüber den Künsten (als Vielheit) selbst fraglich. Ich habe einmal Markus Prachensky sagen hören: „Ich bin kein Künstler. Ich bin Maler.“ Und es ist klar, dass das Künstler-ich eines Malers sich unterscheiden muss von dem eines Dichters / und wenn man in der Theorie auf diesem weiten Feld Berührungspunkte einzeichnen kann, hat man schon Glück gehabt – vielleicht mehr Glück als Verstand. Dass im folgenden die Kunst vor allem als Literatur vorkommt, liegt an mir – aber vielleicht auch daran, dass die Sprachkunst gleichsam per se, von ihrer Berufung, semantisches Material zur Diskussion der Frage heranschafft. Und das ich selbst – vielleicht ist es selber nur illusionäre Vereinigung, eine Annahme, um von einer Einheit sprechen zu können. Ich glaub’s in keinem der Fälle – die Kunst ist mir ein Begriff und unter ich verstehe ich eine Art funktionierendes System. ich ist, unfrei nach Fichte, ein Setzen (eine Dynamik, also „das“ ich zu sagen, ist schon falsch), das ich ist das, was jeden in sich zusammensetzt, was sich vom Körper unterscheidet und diesen, der bei einem jeden allein und abgetrennt in der Welt herumsteht (man überschätze nicht die Nachhaltigkeit der Vereinigungsmöglichkeiten von menschlichen Körpern: von der Liebe bis zum Aufgehen in den Truppen- oder Orchesterkörper), also ich ist das, was sich vom vereinzelten Körper unterscheidet, diesem aber eine dazugehörige emotionelle und intellektuelle Einrahmung verpasst, damit die Einsamkeit noch größer, richtig unerträglich werden kann …

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ich-Skepsis gegen Egomanie (Ernst Mach)

Schwierigkeiten: Ich habe mich viel damit beschäftigt, mit dem ich, und zugleich viel zu wenig; ich weiß viel darüber: auch in dem Sinn von viel zu wenig / klugerweise habe ich nichts darüber publiziert. Aber ein unpublizierter Text (apropos Ernst Mach war Physiker, Psychologe und Philosoph, lebte von 1893–1916), ein unpublizierter Text von mir beginnt mit einer ernst, also analytisch gemeinten Parodie auf die Frage nach dem ich; er beginnt nämlich so: Es wird berichtet, dass an einem großen Tag der österreichischen Philosophen, einem Philosophentag, auch ein Streit stattgefunden habe, der dem ich bei Mach galt. Ein Anhänger des ichs bei Mach sei auf einen Gegner desselben gestoßen, was zu nichts Gutem führen konnte. Der Gegner des ichs bei Mach sei aber in besserer Form gewesen, sodass der Anhänger dieses ich sich nur dadurch retten konnte, indem er sich zurückhielt, und wohl versucht hatte, dieser Zurückhaltung den Anschein einer bedachten Geste zu verleihen. So weit so gut, und dennoch steckt in der berichteten altbekannten Szene ein Rätsel, ein Geheimnis. Bei dem Philosophen Mach gibt es ja kein ich, der Philosoph Mach soll seinerzeit ausgerufen haben: das ich ist unrettbar.

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Und schon wieder ein Motto: Das ich ist unrettbar – und das in einer Zeit, genannt anno dazumal, als Botschaft an uns. Liest man Mach im Original, so sieht man, es geht ihm darum, dass das ich zwar ein praktisches Postulat ist – wir behandeln uns selbst und die anderen wie Einheiten, aber primär ist nicht das ich, sondern „die Empfindungen“. Mach gesteht zu: „Die Zusammenfassung der mit Schmerz und Lust am nächsten zusammenhängenden Elemente zu einer ideellen denkökonomischen Einheit, dem ich, hat die höchste Bedeutung für den im Dienst des schmerzmeiden-
den und lustsuchenden Willens stehenden Intellekt.“ Aber wissenschaftlich untersucht ist diese Einheit nach Mach sekundär, sie hält nicht, und schon gar nicht, was sie verspricht. Die Vorstellung von einer Unveränderlichkeit und überhaupt Festigkeit des ich führt in die Irre – die Empfindungen, die „in Wahrheit“ das ich bilden, wechseln und wenn einer tot ist, empfindet er gar nichts, und wo ist dann das ich? ich kann (zumindest innerzeitlich) kein Fundament für irgendwas sein, wenn es mit dem Tod nicht mehr ist, nicht mehr in der Zeit ist, sondern das Zeitliche eben gesegnet hat. Um das ich zu retten, muss man dann wenigstens eine kleinere Spekulation auf sich nehmen, nämlich die Unsterblichkeit der Person …

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Aber das will ich gar nicht diskutieren. Wichtig ist Machs auf der Unrettbarkeit des ichs beruhende Ethik. Keineswegs wären nach Mach die Folgen der ich-Skepsis furchtbar, im Gegenteil: „Man wird dann auf das ich, welches schon während des individuellen Lebens vielfach variiert, ja beim Schlaf und bei Versunkenheit in eine Anschauung, in einen Gedanken, gerade in den glücklichsten Augenblicken, teilweise oder ganz fehlen kann, nicht mehr den hohen Wert legen. Man wird dann auf individuelle Unsterblichkeit gern verzichten und nicht auf das Nebensächliche mehr Wert legen als auf die Hauptsache. Man wird hierdurch zu einer freieren und verklärten Lebensauffassung gelangen, welche Missachtung des fremden ich und Überschätzung des eigenen ausschließt. Das ethische Ideal, welches sich auf dieselbe gründet, wird gleich weit entfernt sein vom Asketen, welches für diesen nicht haltbar ist, und zugleich mit seinem Untergang erlischt, wie von jenem des Nietzsche’schen frechen ‚Übermenschen‘, welches die Mitmenschen nicht dulden können, und nicht dulden werden.“
Das ist ein Beweis dafür, dass Denken, wenn es denn ein Denken ist, nicht umsonst sein muss. Die Konstruktion des Gegensatzes: der Asket, der an sich selbst zu Grunde geht einerseits / und anderseits der „Übermensch“, an dem die anderen zu Grunde gehen. Das hatte damals – aus der Sicht von heute prophetische Qualitäten, auch wenn der Prophet haarscharf an der Wahrheit vorüberging, die er selber sichtbar machte, dass sich nämlich die ichlinge unter der Kategorie der Herrenmenschen im Kollektiv versammeln werden. Aber immerhin wusste Mach, dass etwas nicht zu Duldendes vorlag. Außerdem ließ Machs Perspektive diesen Zusammenhang ahnen von scharf getrenntem ich und der Lust der Einzelnen, im Kollektiv, in ihrer Erlösung, zu landen: das Umkippen von überspitzter Identität ins identitätsvernichtende-aufhebende Kollektiv.

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ich-Verschlossenheit und Überempfindlichkeit des Künstler-ichs (eine der Fragestellungen, in denen Klischee und eventuelle Wirklichkeit untrennbar miteinander verflochten sind)

… und weil ich schon vom ich rede, kann ich auch von mir reden – ich habe mich auch viel mit Künstlern befasst, von denen ich erst recht viel zu wenig weiß. Ich weiß, es ist völlig irrelevant, in keinem Sinn repräsentativ, gar kein Problem – ja, eigentlich nicht einmal mein Problem, aber würde ich meine Erfahrungen mit Künstlerpersonen zusammenfassen, so müsste die Zusammenfassung parallel zu: Man liebt den Verrat und nicht die Verräter lauten, nämlich: Ich liebe die Kunst, aber die Künstler … ich, das schneidende Wort. Am Schlimmsten wird es, wenn ein Künstler-ich irgendeine bürokratische Fortsetzung gefunden hat, einen Wurmfortsatz in Form eines Managers oder einer Künstlersekretärin – die Fortsätze vertreten die Interessen ihrer Schützlinge gerne geifernd und eifernd: Kooperation ja, für ihren Vorteil, Kooperation nein, wenn’s nichts bringt oder gar was kostet.

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Ja, ich habe Ressentiments gegenüber der Branche, und ich erinnere mich zugleich vage und bestimmt an die Sim-
plicissimus-Karikaturen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs: Da sitzen im Bild ein paar Edel-Bohemiens grantig herum, die Weltgeschichte tobt sich blutig aus, und sie verhandeln selbstbezogen und mit größter Leidenschaft eines ihrer kunstbetrieblichen Anerkennungsprobleme. Mein Ressentiment läuft außer Konkurrenz, unsere Künstler lie-
ben wir doch, mein Ressentiment ist nichtssagend und
spricht nur gegen mich, aber was man an meinem Ressentiment vielleicht zur Diskussion stellen kann, ist die besondere, oder besser: ist meine Behauptung der besonderen Überempfindlichkeit und Überwertigkeit, mit der ein Künstler-ich (sowohl dem Klischee als auch der Karikatur entsprechend) auf der Welt ist. Egomanie als deformation professionelle, und das hieße auch, anders ging’s gar nicht – das, was sich als Kunst herauskristallisiert hat und als solche rezipiert wird, ginge gar nicht mit Leuten, die einsichtig, verhandlungsfähig, konsensbereit und so weiter wären …

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Aber sind nicht alle Menschen, der eine mehr, der andere weniger, ich-besessen / sei es weil sie Menschen sind oder sei es, weil sie in der kapitalistischen Kultur Menschen sind? Mag alles sein. Dennoch die These, das Künstler-ich betreffend, will auf einen entscheidenden Unterschied hinaus. Was immer auch die anderen sind – die Künstler- ich-Überempfindlichkeit unterscheidet sich von anderen Überempfindlichkeiten dadurch, dass die Künstler-ich-Überempfindlichkeit ein Produktionsmittel der Künstler ist. Sieht man einerseits von der Ideologie ab, dass Künstler-Überempfindlichkeit gar keine Über-Empfindlichkeit ist, sondern wahre Empfindlichkeit, sozusagen die Prolongierung von Stunden und noch mal Stunden wahrer Empfindung, die Nicht-Künstlern abgeht / sieht man anderseits davon ab, dass man nicht zu leicht zu einer Deklaration berechtigt sein kann, was drüber und was drunter liegt, was also Empfindlichkeit und Überempfindlichkeit ist, sieht man von alle dem ab, dann kann man ohne Zweifel sagen: Künstler arbeiten mit ihrer Reizbarkeit und Gereiztheit – sie verwandeln ihre Unerträglichkeit, ihre höchstpersönliche Unerträglichkeit in etwas sozial Akzeptierbares, ja geschätztes / ja Überschätztes: in Kunst (also in das, was andere für Kunst halten).

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Also bitte, hören Sie bitte folgendes (aus der Eröffnungsrede der Salzburger Festspiele): „… die Kunst ist ein rettendes Geländer. Die Poesie, die Musik rufen etwas in uns hervor, das uns verändert. Wir müssen das nur zulassen. Wir müssen Kunst und Kultur nicht als Ausfüllung von Freizeit begreifen, sondern als Seinsweise, wie das Atmen und das Essen. Wir müssen uns einlassen auf die Kunst, sie kann unseren Durst, unseren Hunger, unseren Kummer stillen, unsere Fragen beantworten, uns trösten. Uns retten … Wir dürfen die Kunst kritisieren, wir dürfen enttäuscht sein und uns zeitweise abwenden, aber: wir dürfen niemals zweifeln. Sie ist nicht in erster Linie gut oder schlecht, neu oder alt, gefällig oder strapaziös, sie ist. Ein Leben ohne Töne, Wörter, Bilder ist kein Leben. Die Kunst ist keine biochemische Formel und sie hat auch nichts zu tun mit einem dummen Apfel der Erkenntnis, sie schwingt sich über all das hinweg … Künstler legen ihr Herz in ihr Lebenswerk. Sie arbeiten nicht für den Augenblick. Sie arbeiten – ein großes Wort – für die Ewigkeit.“

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Tja, wer eine weiche Birne hat, lässt sich gerne mit dem dummen Apfel der Erkenntnis hören, und nach der Vertreibung aus dem Paradies hat der Schöngeist vor nichts mehr Angst, als aus dem selbst gebastelten Nachfolger-Paradies vertrieben zu werden. Unter den Insinuationen und den Forderungen der Kunstreligion würde allerdings jedes ich, besonders jedes Künstler-ich zusammenbrechen – würde man als ich, als Künstler wirklich glauben, was die Priester der Kunstreligion propagieren. Diese Propaganda, so meine These, ist umso kunstferner, je näher sie sich an die Kunst anschleicht; sie ist ein Reflex der Kulturindustrie, der Umwegrentabilitäten durch den Fremdenverkehr; ein Reflex einer gut planenden Industrie, die ihrer Geschäfte wegen ein schlechtes Gewissen hat und auf keinen Fall auf ihr kompensatorisches geistiges Unterfutter verzichten möchte. Würden die, die den Lärm der Klassik-Szene auf sich zu konzentrieren verstehen, wirklich an die stille glauben, von der sie schwärmen, sie würden stille halten. Aber auch wenn man nicht wirklich glaubt, so treten „Kulturschaffende“ doch alle im Reklamenebel an – im Weihrauch, mehr oder weniger davon benebelt. Sich für die Arbeit klar zu machen, sein ich dafür klar zu machen – das ist schon Kunst genug. Selbstsorge, sich selbst bewahren, ist Teil des künstlerischen Arbeitsprozesses.
Eine der Folgen professionell überempfindlicher Selbstbe-
zogenheit will ich nicht aussparen. Wenn es stimmt, dass das ich bei Künstlern eine deformation professionelle und zugleich ein Produktionsmittel ist, dann werden die biographischen Details dazu gebraucht, dazu einsatzfähig, um eine künstlerische Produktion nachzuzeichnen. Das
Privatleben wird Kunstgeschichte. Das partikuläre Künstler-ich wird verallgemeinert, stellvertretend für das Gesamtmenschliche oder für ein bestimmtes Zeitproblem. Also: Bachmann / Celan …, das tragische Gerangel wird in die Theorie der künstlerischen Produktivität eingearbeitet, nicht ohne pathetischen Tonfall, der eventuell verdeckt, dass das tragische Gerangel zumindest potentiell bei allen Menschen das gleiche ist, und deshalb auch bei Bachmann/Celan so verdammt ähnlich dem Tratsch klingt, dem man füreinander, ob gegenüber Künstlern oder Autoverkäufern, bereithält … (Also die – in den obszönen Augen der Betrachter – Ingeborg/Paul-Show: „Ingeborg wollte – als sie fast noch ein Mädchen war – den Existenzrahmen für beide schaffen …“ Oder: „Celan hat aus Bachmann etwas gemacht, das sie nicht war, wozu sie sich aber aus freien Stücken hergab …“). Künstler-ichs werden gehandelt, ihnen drohen die Deformationen der „Prominenz“.

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Aber, behaupte ich, die eigentliche Schwierigkeit der Behauptung von der ich-Verschlossenheit der Künstler ist, dass sie auf merkwürdige Art nur eine Halbwahrheit sein kann. Denn wer bitte beschäftigt sich in dieser Gesellschaft überhaupt mit dem Anderen und den Anderen. Als Kafkas Vater ihm vorwarf, er, der Sohn, wäre abnormal, erwiderte dieser schließlich zu Selbstbewußtsein – auch gegenüber dem Vater – gekommene Sohn, abnormal sei nicht das Schlechteste – normal ist der Weltkrieg! ich, das schneidende Wort. Aber nun doch ja – der Künstler, von Berufs wegen zum Egomanen deformiert, Ausnahmen halt ausgenommen (nicht weil ich glaube, dass es sie gibt, sondern, weil’s aus dem Begriff der Ausnahmen hervorgeht, eben dass sie ausgenommen sind), und das Publikum, das
sich darüber tröstet mit frommen Sprüchen a la Die wirklichen Stars sind ganz unkompliziert, / und sowas wie die Forschung, die den Skandal der spezifischen Egomanie ans Tageslicht bringt: Brecht war ein Ausbeuter, Canetti ein Dämon, Wolfgang Köppen ein Schwindler, der fast ein Leben lang immerhin (mit einem Manuskript, das nicht geschrieben war) den robusten Unseld hineingelegt hat, ihn an der Stange hielt …. Und dann doch: dieses Künstler-ich: es ist für das Andere und für den und die Andere auf der Welt – allerdings nicht, wie die Flüchtlingshelferin Ute Bock, für den realen Anderen, für das real Andere. Die Kunst arbeitet mit Fiktionen – und ich schwöre, als ich (um aus der Schule zu plaudern), als ich das Buch: „der stadtrat“ schrieb, als ich dafür eine fiktive Welt schaffen musste, mir Charaktere anverwandeln musste und auch die Gegen-Charaktere – da hatte das keine gute Wirkung auf mich als moralische Person in der (sozialen) Wirklichkeit, die einen Charakter fordert, der sich außerdem gut und richtig entscheiden soll / sprich: einen Charakter, der sich verwirklicht und der nicht im Element des Fiktiven sich ungebunden wähnt.

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Macht: Künstler-ich will Macht, das Künstler-ich möchte

Am Schreibtisch kann man alles hin und her schieben. Alles leistet dem Künstler am Schreibtisch Folge, er ist der
Chef – allein die Wirklichkeit, die am Schreibtisch so gefügig erscheint, ist in Wirklichkeit unerbittlich-eigengesetzlich. Werner Kofler hat in einem seiner großartigen Bücher, in „Am Schreibtisch“ zu dieser Frage nicht etwa einfach eine Position eingenommen, sondern der Text von „Am Schreibtisch“ arbeitetet grundsätzlich die Positionierung des Künstlers in der Macht/Ohnmacht-Dichotomie durch: „Kunst muss die Wirklichkeit zerstören, so ist es, die Wirklichkeit zerstören statt sich ihr unterwerfen, auch was das Schreiben anlangt …. Aber das Entsetzliche, müssen Sie wissen, das Entsetzliche ist: Die Wirklichkeit macht ungeniert weiter, die Wirklichkeit schert sich keinen Deut um die Zerstörung, die ihr in der Kunst zugefügt wird, die Wirklichkeit ist schamlos, schamlos und unverbesserlich …. Immer wieder sage ich: Komme her, Du Wirklichkeit, jetzt wird abgehandelt, ich traktiere sie auch, Sie wissen nicht, wie und doch: sie macht umso unverfrorener weiter.“

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Das kann man auch lesen als Schwäche der Fiktionen, als Schwäche eines Lebens, das sich am Schreibtisch dem Fiktiven zuwendet. In meiner Lesart konfrontiert Kofler diese Schwäche der Fiktion mit den Schreibtischtätern, die in der Tat vom Schreibtisch aus die Wirklichkeit, und sei es nur für eine Zeit, besiegt haben; es kommt nämlich in dem Phantasiegebilde von Koflers Text „Am Schreibtisch“ zu einer Führung durch eine Museumslandschaft, in der nicht zuletzt die Schreibtische der Täter seligen Angedenkens ausgestellt sind: „Hier der Schreibtisch eines Leutnants – der Führer mußte kurz nachdenken –, eines Leutnants oder Oberleutnants Waldheim, er ist gerade nicht da. Dieser Schreibtisch wiederum, ein besonders schönes Stück, gehört einem gewissen Lerch in Lublin, er vertritt allerdings im Augenblick seinen Kommandanten, der sich irgendwo außerhalb über den Baufortschritt eines Verbrennungsofens informiert. Der Schreibtisch des Kommandanten hat sich leider nicht erhalten, der Kommandant schrieb sich übrigens Globotschnigg, auch er ein Österreicher, erstaunlich, nicht wahr? – War das jener Globotschnigg, mein Lieblingsmassenmörder, wollte ich wissen. Das ist möglich, sagte der Kustos.“

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Diese Führung durch die Schreibtischabteilung des Museums wertet in meinen Augen das Fiktive wieder auf – gerade weil alle vom Schreibtisch aus aufgestellten Forderungen des ich-Erzählers sicher nicht erfüllt werden, und das ist, verglichen mit den erfüllten Forderungen, mit deren „Realismus“ human. Wie auch immer, Macht und Ohnmacht formt den Künstler / die Ohnmacht seiner Macht, die Macht seiner Ohnmacht. Das weltbeste Gedicht aller Zeiten: „Der Tabakladen“ von Fernando Pessoa beginnt daher so und nicht anders:

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„Ich bin nichts.
Ich werde nie etwas sein.
Ich kann nicht einmal etwas sein wollen.
Abgesehen davon, trage ich in mir alle Träume der Welt.“

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Das Gleiche, nur umgekehrt, also mit dem Akzent auf der Euphorie, alle Träume der Welt austragen zu können, fand ich in einem spiegel-Interview, das Leon de Winter, wie so schön heißt, „gab“; er schildert zunächst seine Lage, in der er versucht hatte, durch politische Artikel die Wirklichkeit zu beeinflussen – und dann das Glück, als er sich von solchen Versuchen befreit hat: „Sie können sich nicht vorstellen, wie herrlich, wie befreiend es ist, einen Roman zu schreiben …. Es ist eine Wohltat, die Wirklichkeit bestimmen zu können, statt von ihr veschlungen zu werden. In meinen Romanen bin ich Gott. Alles hört auf mein Kommando.“ Dieser metaphorische Gebrauch des Wortes „Gott“ (Gott oder Verschlungenwerden – das ist schon eine bezeichnende Daseinsalternative) hat einen vergessenen ideengeschichtlichen Hintergrund: In der Antike, für Aristoteles, war Kunst Nachahmung der Natur – also jedes Artefakt war so gemacht, wie die Natur es gemacht hätte, würde die Natur Artefakte machen. Künstler irrelevant, Vollzugsgehilfe. Für Plato war jedes Artefakt Abbild der Idee. Künstler irrelevant, Vollzugsgehilfe der Idee. Erst die christliche Theologie mit ihrem Begriff vom Schöpfer hat die Substitution Künstler/Gott plausibel machen können. Gibt’s auch modifiziert – in Form der „Inspiration“ – einem ursprünglich theologischen Begriff.

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Thomas Bernhard

Der Kulturkritiker muss uns über den Betrieb auch den Tratsch erzählen – denn so wie der Mensch, ich glaube, aus 90 % Wasser besteht, besteht die Kultur gewiss aus 90 % Tratsch. „Wir saßen“, so zitiert Reichensperger Karl Ignaz Hennetmair, Thomas Bernhards zeitweiligen Weggefährten, „gemeinsam vor dem Apparat, als die Meldung kam, dass Doderer gestorben sei. Wie elektrisiert sprang Thomas vom Sessel, klatschte in die Hände und rief erfreut: Der Doderer ist gestorben. Auf meine Frage, warum ihn das so freue, sagte er: Doderer war doch in Österreich das Renommierpferd, und solange der lebte, konnte keiner hochkommen. Jetzt ist die Bahn frei, jetzt komme ich.“

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Niemand komme mir mit einer Literaturgeschichte, das ist sie ja im Großen und im Ganzen!
Leiden: Kunst kommt aus dem Leiden des Künstlers, das leidende Künstler-ich

Phalaris, Tyrann von Agigent auf Sizilien, schon von Cicero in de republica und de officiis erwähnt als Urbild der Grausamkeit. Pindar erwähnt das berüchtigte Folterinstrument, den Stier, in dem der Tyrann Menschen rösten ließ. Näheres: 554 vor Christus ist er durch Volkserhebung gestürzt worden. Phalaris, willensstark und verhasst, förderte Künstler und Philosophen. Seine Grausamkeit war sprichwörtlich. Allen voran ist die Sage vom bronzenen (ehernen) Stier bekannt, den der Künstler Perilles für jenen Tyrannen hergestellt haben soll, um Fremdlinge und ihm verhasste Personen darin auf einem langsamen Feuer zu rösten, wobei ihre Schmerzensschreie wie das Brüllen eines Stieres klangen. Die Stierfigur deutet auf die Heimatstadt von Phalaris, Kreta, und auf das Stiergebilde des Dädalus hin, ebenso wie eine Verbindung zu dem nahen Karthago, mit dem Gott Moloch geschlagen werden kann, dem ebenfalls in glühender Stiergestalt Menschen geopfert wurden. Als erstes Opfer sperrte Phalaris den Künstler selbst in den Leib des Stieres. Der Witz der Foltervorrichtung besteht darin, dass die Umwandlung menschlicher Schmerzensschreie in ein Stiergebrüll in den Ohren des Tyrannen weniger schmerzlich klang. Die Vorrichtung erspart dem Tyrannen nicht nur die Schmerzensschreie seiner Opfer – sie klingen durch die Umleitung im Folterinstrument ganz gut. Und Kierkegaard hat in „Entweder-Oder“ dieses antike Bild für den Künstler verwendet, dessen Schmerzen niemand hört, weil die Kunst sie in Wunderschönes verwandelt hat: „Was ist ein Dichter? Ein unglücklicher Mensch, der heiße Schmerzen in seinem Herzen trägt, dessen Lippen aber so geartet sind, dass, während Seufzer und Geschrei ihnen entströmen, diese dem fremden Ohr wie schöne Musik ertönen. Es geht ihm, wie einst jenen Unglücklichen, die in Phalaris’ Stier durch ein sacht brennendes Feuer langsam gemartert wurden, deren Geschrei nicht bis zu den Ohren des Tyrannen dringen konnte, ihn zu erschrecken: ihm klangen sie wie heitere Musik. Und die Leute umschwirren den Dichter und sprechen zu ihm: ‚Sing uns bald wieder ein Lied;‘ das heißt: mögen neue Leiden deine Seele martern, und mögen deine Lippen bleiben, wie sie bisher gewesen; dein Schreien würde uns nur ängsten, aber die Musik, ja, die ist lieblich. Und die Rezensenten treten herzu und sprechen: So ist es richtig; so soll es gehen nach den Regeln der Ästhetik. Nun, das versteht sich, ein Rezensent gleicht einem Dichter auf ein Haar, nur dass er nicht die Pein im Herzen, nicht die Musik auf den Lippen hat. Siehe, darum will ich lieber Schweinehirte sein auf Amagerbro und von den Schweinen verstanden werden, als Dichter sein und von den Menschen mißverstanden werden.“

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(Hm, wer weiß, vielleicht kann man den modernen Künstler als einen verstehen, der sich sowas nicht mehr antut, kein Schöngesang, von Schmerzen dirigiert. Nie wieder! Das „Projekt der Moderne“, nämlich die Verbesserung aller Lebensbedingungen, hat auf den Künstler durchgeschlagen. Gewiß, der Künstler leidet – aber wie alle anderen, und während der Rezensent sich früher ganz nach dem Künstler kleidete, kostümiert der Künstler sich heute ganz nach dem Rezensenten, bis aufs Haar, und beide haben mit dem „Markt“ genug zu tun und zu leiden.)

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Die Kirche im Dorf
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Der Chauvinismus und die ihm angeschlossene Fremdenfeindlichkeit ist eine Quelle der Phanta-
sie. Menschen, die davon befallen sind und die ein Interesse haben, besser: die den Drang verspüren, ihre Haltung zu verbreiten, sind kreativ. Es ist unfair, die daraus resultierenden Kreationen zu melden, aber das Leben ist nicht fair und so zitiere ich eine dieser chauvinistischen Leistungen. Es ist der Klassiker, der sowohl von der Phantasie auch von ihrer Erdung berichtet.
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Der bzö-Politiker Westenthaler hatte im Sommer 2006 behauptet, dass „der spö-Integrationsbeauftragte“ Omar Al-Rawi („der spö-Integrationsbeauftragte“, was für ein Titel!) die Anbringung von Halbmonden anstelle von Kreuzen auf Berggipfeln gefordert hätte. Wenig später wurde bekannt, dass Westenthaler sich von der Phantasie einer Künstlergruppe hatte beflügeln lassen. Diese Gruppe hatte sich zutreffend ausgedacht, wie weit ein einschlägiger Politiker gehen würde, wenn man ihm so einen Happen vorwirft. Es war rührend, als der arme Westenthaler, obwohl alles allen schon klar war, immer noch den Halbmond auf den Berggipfeln erblickte.
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Ich will keinen Zweifel daran lassen, dass ich Westenthaler unter seinen Gesinnungsgenossen präferiere: Er ist der Wiener Strizzi in der Politik und seine amtsbekannten Verwicklungen, mit denen er sich allmählich selbst aus der Politik hinausdrängelte, sind nichts als standesgemäß. Mit ihm wird der Wiener Strizzi samt seiner zwanghaften Lust zur Wirtshausrauferei in der etablierten Politik wieder bedeutungslos oder er wird überhaupt aus ihr verschwinden. Aber der hinaufgekommene Strizzi Westenthaler, der Ingenieur, war am Ende doch zu komisch. Im gerichtlichen Vergleich verpflichteten er und das bzö sich seinerzeit, „die Verbreitung der Behauptung, der Kläger Omar Al-Rawi hätte die Anbringung von Halbmonden statt Gipfelkreuzen auf österreichischem Berggipfeln gefordert (…) ab sofort zu unterlassen“.
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Zusätzlich mussten Westenthaler und sein Bündnis 3000 Euro für „Jugend- und Sozialprojekte der Islamischen Glaubensgemeinschaft“ spenden, Al-Rawi durfte das Geld nach seinem Gutdünken verteilen. „Der spö-Integrationsbeauftragte“ beurteilte die erzielte Einigung positiv. Der erfolgte Vergleich hätte gezeigt, dass „man mit menschenverachtender Aufhusserei ohnedies nicht weit kommt“, sagte er. Nach erfolgter Überweisung der Spende übergab Al-Rawi einen Teil der 3000 Euro dem islamischen Kinderchor Hilal. „Hilal“ bedeutet „Halbmond“, und das war der sogenannte „Halbmondstreit“, und er war von einer solchen Komik, wie sie nur der tiefste Ernst ermöglicht.
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Dieser Ernst spricht auch aus geläufigen Äußerungen, die in erster Linie gar nichts mit der hohen Politik zu tun haben. Ich las zum Beispiel einen Leserbrief in der „Kronen-Zeitung“, aus dem in bemerkenswerter Weise hervorging, wie eine Dame genau aufgepasst hatte, was der Bundespräsident in seiner Neujahrsansprache zum Besten gab: „Es hat mich sehr gestört, dass der jetzige Bundespräsident in seiner Ansprache immer wieder sagte: ‚Sehr geehrte Damen und Herren.‘ Mit dieser Diktion schreibe ich an meine Versicherung oder meine Bank, wenn mir etwas missfällt. Denn da weiß man ja nicht, mit welcher Nationalität man es zu tun hat.“
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Ich bin ahnungslos, aber an dieser Stelle schwant mir, dass es um Österreichs immerwährende Neutralität geht. Der Neutralismus ist eine eingebürgerte Mentalität, mit der man stets fein raus ist. Aber er hat natürlich seine Grenzen, zum Beispiel zu Neujahr bei den „sehr geehrten Damen und Herren“, einer Floskel, die zu neutral gegenüber „unserer“ nationalen Herkunft erscheint: „Ein Präsident, den die Mehrzahl der Österreicher und Österreicherinnen gewählt haben (leider auch ich!), sollte mehr Fingerspitzengefühl haben.“
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Der Witz ist aber, dass dieser Präsident, Dr. Heinz Fischer, den ich auch gewählt habe, allerdings ohne es sonderlich zu bedauern, von Kopf bis Fuß aus Fingerspitzengefühl besteht. Ich glaube, er hat sogar bei sich zu Hause – im eigenen Haushalt in der Josefstadt – alle Ecken und Kanten entfernt, damit er nicht auf die Idee kommen muss, dass so etwas überhaupt existiert. Aber es könnte eben sein, dass ihn genau dieses Fingerspitzenspitzengefühl in den Augen der Leserbriefschreiberin zu Fall bringt: „Traut sich denn Herr Fischer nicht mehr, wie alle ihm leider vorangegangenen Bundespräsidenten zu sagen: ‚Liebe Österreicherinnen und Österreicher‘?“
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Ui jeh, das trifft mein patriotisches Gewissen, denn von allein wäre es mir nie aufgefallen, dass das Staatsoberhaupt die Österreicherinnen und Österreicher defätistisch mit „Sehr geehrte Damen und Herren“ anspricht. Ich muss wieder einmal zur Kenntnis nehmen, dass es mit meinem Patriotismus nicht weit her ist. Aber es liegt vielleicht auch daran, dass es mir gleichgültig ist, was der Bundespräsident in der Neujahrsansprache sagt. Mir ist überhaupt gleichgültig, was der Bundespräsident, solange er brav und gut ist, sagt. Zum Glück gibt es Menschen, die diesbezüglich sensibler sind: „Sind wir keine Nation mehr?“, fragt die aufgebrachte Dame in der „Krone“. Was soll ich sagen? Am Schluss, vor dem Post-Scriptum, kommt’s dann, worum es immer schon geht und was man deutlicher als die Hörerin der Neujahrsansprache kaum sagen kann: „Oder“, ruft sie rhetorisch aus, „fällt Herr Fischer vor den – nicht immer angepassten – Einwanderern auf die Knie, in dem er nur mehr von Damen und Herren redet!“
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Die Vision, mit der der Fremdenhass die für ihn anfälligen Österreicher glücklich macht, hat zwei Seiten: Einerseits sind die Fremden, die nicht weggehen, schlimm genug. Anderseits aber ist es noch schlimmer, dass die Eigenen, dass „wir“ gerade an der Führungsspitze Menschen ertragen müssen, Menschen, die „wir“ gewählt haben, die vor den Fremden, die weggehen, auf die Knie fallen: Verräter! Wenigstens die „nicht immer angepassten Einwanderer“ stehen zwischen Gedankenstrichen, also mache ich mir Gedanken: Es kommt nicht drauf an, aber es ist durchaus möglich, dass der von mir zitierte, mit „Maria Kremser, per E-Mail“ gezeichnete Brief (ein Brief, der also nur mit bescheidenen Insignien seiner Herkunft versehen ist) tatsächlich per E-Mail aus einer einschlägigen Parteizentrale kommt. Dafür spricht das Post-Scriptum, das so etwas explizit und nicht unangestrengt leugnet: „Ich bin weder ausländerfeindlich noch gehöre ich einem diesbezüglichen Lager an. Aber Herr Fischer sollte ‚die Kirche im Dorf lassen‘“.
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Das ist eine vertrackte Fassung einer doppelten Verneinung. Maria Kremser verneint per E-Mail, dass sie ausländerfeindlich ist, und ebenso, dass sie einem diesbezüglichen Lager angehört. Einfach wie ich bin, denke ich, dass jemand, der nicht ausländerfeindlich ist, sich auch nicht die Mühe zu machen braucht, vor Publikum zu verneinen, dass er einem diesbezüglichen Lager angehört. Verneint er das aber extra, hat er vielleicht diesbezüglich Dreck am Stecken, worauf es aber wirklich nicht ankommt, weil ja für sich spricht, was Maria Kremser per E-Mail schon vor dem Post-Scriptum zu sagen hat. Es wäre höchstens ein kleiner Trost, wenn Maria Kremser als Ausländerfeindin auch einem diesbezüglichen Lager angehörte. In dem Fall brauchte man nicht zu fragen, was denn die Leute aus dem diesbezüglichen Lager denken, wenn schon die, die ihm nicht angehören, so denken wie Maria Kremser.
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Merkwürdig ist aber das Hineinziehen der Kirche in diese ideologische Misere. Anders als unter Anführungszeichen scheint das selbst dieser Leserbriefschreiberin nicht möglich, die sich sonst phrasenhaft, aber doch immer direkt ausdrückt. Der Herr Bundespräsident ist, und auch hier hat er keine Kanten, bekanntlich ein Agnostiker, weil am Ende ja sein könnte, woran er jetzt noch nicht glaubt. Nichts liegt ihm ferner, als die Kirche nicht im Dorf zu lassen. Ich wette, er denkt, genau dort gehört sie hin. Das ist so sicher wie das Amen im Gebet. Wenn nun so ein Agnostiker in einer direkten Rede noch mehr Leute anspricht als die Österreicherinnen und Österreicher, nämlich alle sehr geehrten Damen und Herren, dann kann man nicht sagen, dass er „mit der Kirche ums Kreuz fährt“, auch nicht unter Anführungszeichen. Er meint halt – ohne Umwege und ganz direkt – jeden Menschen, der ihm zuhört. Deshalb will ich, sehr geehrte Damen und Herren, die Kirche im Dorf lassen und wähle etwas anderes zu meinem Post-Scriptum. „Ich hoffe sehr“, hieß es wiederum in einem Leserbrief an die „Krone“, „dass die ganze Familie Zogaj wieder dorthin geschickt wird, wo sie herkommt, denn man kann nicht einfach davon laufen, wenn einem etwas nicht passt.“
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Wie hart Menschen sind, die das Leben so weich geklopft hat, dass sie Entlastung finden, indem sie Leserbriefe an die „Krone“ schreiben. Glaube, Liebe, Hoffnung. Sie haben einen Hass auf Flüchtlinge, weil sie diese mit der Vorstellung identifizieren, solche Menschen würden, wenn ihnen etwas nicht passt, „einfach“ davon laufen. Da sind sie selber, die Leserbriefschreiber, anders, sie können ja nie weg, auch wenn ihnen gar nichts mehr passt.

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Nachwelt und Postmoderne // Das Wort „Nachwelt“ finde ich ungerecht behandelt, und selbst, wenn die Nachwelt nichts als ein Klischee wäre. „Natürlich“ kommt das in meinem Fall davon, dass ich die Epoche der Romantik und das Romantische aller Zeiten höher einschätze als alle ausgewogenen (oder dafür ausgegebenen) Perioden. Die romantischen Paradoxien, die (romantische) Vernunft, die an den seelischen Überhitzungen, an den neurotischen Deformationen einerseits Anteil hat und andererseits sich dabei als Vernunft selbst treu bleibt, scheint mir eine bewahrenswerte Utopie, paradoxerweise als eine Utopie des Realismus, der Realitätstüchtigkeit. Anders inspirierte Denkweisen, die ihre Rationalität vor sich hertragen, um damit gegen die Romantik ins Feld zu ziehen, verschleiern entweder – zum Beispiel durch demonstrierte Kälte und Härte, durch „Souveränität“ – ihre eigene Romantik. Oder solche unromantischen Denkweisen haben die Welt, die sie aufschlüsseln wollen, von vornherein „rationalisiert“ (ihr Rationalität unterstellt) – und dann müssen sie nur mehr die Züge des Rationalen, die sie der Welt unterstellt haben – nachzeichnen. Die Nachzeichner, die perfekt beweisen, wie all das Ungeheuerliche nicht ungeheuer ist, sondern auf einer von ihnen exklusiv durchschauten Rationalität beruht (der Irak-Kritik zum Beispiel auf den Ölinteressen einer amerikanischen Clique) übersehen, wie intensiv solche Interessen mit Romantizismen verbunden sind, und romantische Vernunft hat in meinen Augen ein Mensch, der dieses ungeheuerliche Gemisch aus rational nachvollziehbaren Interessen und den verrückten Energien, die dabei im bösen Spiel sind, begreifen und darstellen kann. Und für diese Darstellung ist eine Infektion mit der Verrücktheit nötig – bis zu einem gewissen Grad, ohne dass ich sagen könnte, wie hoch dieser Grad der Infektion sein sollte. Aber es ist klar, es gilt der Satz des Johann Gottlieb Fichte, eines Philosophen, der an der Romantik nicht unbeteiligt war: „Was für eine Philosophie man wählt, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist.“ // Das Wort „Nachwelt“ drückt ein Verhältnis zur Zeit aus; es ist ein Verhältnis zur Zeit, in dem eine noch nicht eingetroffene Zeit jetzt schon zur Instanz gemacht wird. Diese in die Zukunft versetzte Instanz soll jetzt schon entscheidend sein und darüber bestimmen, was eigentlich von Wert, was also von bleibendem Wert ist. Davon später, zunächst aber ein paar Bemerkungen zur Zeit, aus persönlicher Sicht, denn ich hatte es mit der Zeit immer schon schwer. „Geschichte“ zum Beispiel ist meine Schwäche, für die ich – verzeihen Sie den Kalauer – keine Schwäche habe (sonst bin ich, weiß Gott für alle Schwächen zu haben). Ich sehe ein, wie wichtig Geschichte ist, aber Geschichte ist auch ein Wichtigmacher. Vergangene Zeiten haben eine Macht über uns, aber Historiker (aller Art), die diese Macht über uns ausspielen wollen, machen sich nur wichtig. Die komplizierte Dialektik, die in der Frage steckt: „Können wir aus der Geschichte lernen?“ ist mir bekannt, aber ich beantworte sie hier undialektisch: Nein, wir können aus der Geschichte nichts lernen. Das schränke ich ebenso undialektisch ein: Aus der Geschichte spezifisch können wir nichts lernen, denn aus der Geschichte können wir (für die Praxis) genauso viel lernen wie aus anderen Disziplinen, aus der Geographie zum Beispiel oder gar aus dem mathematischen Denken, mit dem man manche riskante Entscheidungssituationen, die sich unter Menschen ergeben, in die sich Menschen begeben, fast besser aufschlüsseln kann als durch Intuition. Aber manchmal lernt man eben auch aus der Geschichte – es ist nur nie zwingend, dass einem die Geschichte eine Lehre erteilt, geschweige denn die richtige. Die falschen Lehren, die aus der Geschichte gezogen wurden, sind dagegen Legion. In Anbetracht dieser Lage nimmt es sich seltsam aus, wenn man „die Nachwelt“ als Instanz wählt – von der „Nachwelt“ weiß man per se weniger als von der Vergangenheit. // Die „Nachwelt“ ist besonders für den polemischen Einsatz geeignet. Man kann sie – mehr oder weniger eitel – gegen die Gegenwart mobilisieren, die einem verständnislos und stumpf erscheint. Aber in der Nachwelt steckt auch dies (romantisch) Schöne: Eine Gegenwart, die die Menschen, aus denen sie besteht, fesselt, in ihren Bann schlägt, sie blind macht (betriebsblind), eine solche Gegenwart wird in der Vorstellung von „der Nachwelt“ erlöst. In der Vorstellung von „der Nachwelt“, die jetzt schon eine entscheidende Instanz sein soll, traut man den Menschen zu, dass ihre Verblendung nur in der Gegenwart gilt; es werden andere kommen, die den vergangenen Unverstand nicht mehr haben. Es ist nicht schwer, spöttisch anzunehmen, dass dies eine fromme Hoffnung ist, zumal ja „Nachwelt“ behauptet, die auserwählten Eliten einer Gegenwart werden in der Zukunft die Welt bilden, also von einer Mehrheit verstanden werden. Es gibt historische Erfahrungen, dass es so kommen kann, und es gibt historische Erfahrungen, dass es nicht so gekommen ist. Aber in jedem Fall muss man gegen meine bisher gemütlichen Vorstellungen von der „Nachwelt“ eine verschärfte Variante ins Treffen führen: Zu Zeiten kann die Welt so unerträglich sein, dass sich die ganze Hoffnung darauf richtet, dass sie endlich untergeht und der „Nachwelt“ Platz macht. Dann hat der Topos eine humane Funktion; mit seiner Hilfe kompensiert man das Inhumane einer Gegenwart und hält es für möglich, dass es eines Tages verschwunden sein wird: „Die Nachwelt“ ist dann ein vorbereitendes Zeichen für die Wiederkehr des Humanen, ein Zeichen dafür, dass man selbst in den „Letzten Tagen der Menschheit“ die Menschen nicht aufgeben will. Ich sehe darin diese Verknüpfung von Romantik und Realismus, die einem das Leben nicht nur erträglich, sondern auch verständlich macht. // Nun zu etwas ganz Anderem: Ich überlege, warum ich in wesentlichen Punkten, ja im Grundsätzlichen der von meinem Heftnachbarn vorgebrachten Kritik an der Esoterik der Musik zustimme, ohne aber, wenn ich das so sagen darf, sein Problem zu haben. Ich glaube, es liegt daran, dass ich viele Seiten der populären Kultur so sehr schätze und mich mit ihnen so sehr beschäftige, dass ich nicht wünschen muss, andere Sparten der Kultur sollten auch populär sein. Zu den vielen wichtigen, manchmal auch quälenden Erfahrungen, die ich in Schloss Wiepersdorf hatte – Wiepersdorf ist eine „Künstlerkolonie“, eine nicht nur unpeinliche Ansiedlung von Kunst-Stipendiaten in Brandenburg –, gehört auch das Gespräch mit einem Komponisten elektronischer Musik aus Amerika. Ich, der ich die eigenen Ohren davor stets in Sicherheit brachte, habe ihn gefragt, wer denn überhaupt elektronische Musik höre. Er antwortete lachend, ohne die geringste Bitterkeit, sondern mit Freude an der Sache: „Elektronische Musik hören nur Leute, die selber elektronische Musik machen.“ // Das ist eine im Prinzip richtige Übertreibung. Ich nehme an, dass der amerikanische Komponist gar nichts dagegen hatte, würde er mit einem seiner Werke populär; ich bin aber sicher, dass er eine solche Popularität niemals seiner nun einmal unpopulären Art zu komponieren vorziehen würde. Bleibt die Utopie, einer Kunst die Treue zu halten und vielleicht gerade dadurch, Nachwelt hin oder her, eine Gegenwart zu haben, die sich sehen oder hören lassen kann. Dieser Eventualität gegenüber bin ich skeptisch. Nein, ausschließen sollte man das Populärwerden des Außerordentlichen nicht (auch weil ein solcher Ausschluss wie eine self-fulfilling prophecy wirkt). Aber ich denke, dass die Grenzen, die sich die Künste in ihrer Entwicklung eingehandelt haben, nicht einfach, vor allem nicht ohne Rückschritte, zu überschreiten sind. Dass im deutschen Sprachbereich das Problem besonders akut erscheint, ist keine willkürliche Setzung, der man erst mit einem Willensakt beikommen könnte. Mir kommt vor, dass im deutschen Sprachbereich der schlichte Wechsel ins Populäre besonders trostlos wäre. Die deutsche Populärkultur, in der Dieter Bohlen ein „Pop-Titan“ ist, meidet man zurecht. Da ist mir die Hochkultur, und sei sie auch steril, lieber. // Der eingebürgerte, für mich kaum aufzuhebende Gegensatz von „u und e“, der in diversen Reklamesprachen geleugnet wird, und der in der Tat unglücklich ist, bewirkt, dass man schwerlich ohne Obszönität mit einer Kunst populär werden kann. Das ist in angelsächsischen Ländern leichter. Und das wiederum erscheint mir als ein Beweis dafür, dass die Gesellschaft dort stärker emanzipiert ist: Wenn das Unterhaltende auf einem Niveau stattfindet, das die elitäre Kultur in ihrem Kunstanspruch einholt (und dadurch zugleich bestätigt), wenn in einer Gesellschaft so etwas möglich ist, dann kann man es als Zeichen geistiger Freiheit nehmen. Raymond Chandler ist ein Sprachkünstler gewesen und ein Schriftsteller der Hochkultur wie Philip Roth schlampt – scheinbar – manche Passagen seiner Romane so hin, als wär’s ein Schundroman. Der deutschen Kritik, geschult an einem nicht selten äußerlichen Perfektionismus, wird das gelegentlich zu bunt. j. m. Coetzee zaubert in seinem ganz großen Buch „Elizabeth Costello“ ein paar Übergänge auf eine Art hin, dass man als deutschsprachiger Leser sagt: „Na bitte.“ Und selbst der unglaubliche Gemeinplatz, den Coetzee seiner Hauptfigur in den Mund legt: „Swift ist für mich ein faszinierender Schriftsteller“, macht rein gar nichts. // Ich weiß, das angestrebte Populäre ist nicht das Nachlässige. Aber dass ein Schriftsteller wie Coetzee, der die „höchsten“ Themen, die ersten und die letzten Fragwürdigkeiten der Humanität, adäquat abhandelt, dabei auch lässig agiert, zeugt von einer kulturellen Geborgenheit, in der man das Hohe und das Niedrige nicht gegeneinander ausspielen muss. So ein Schriftsteller tut sich nichts an, macht sich keine Umstände, wenn er gleich zum Wesentlichen kommen will. Aber die Kunst zur Ordnung zu rufen, sie möge die elitären Attitüden sein lassen und populär werden, ist eine alte Übung. Zuletzt hat sie – mit einem richtigen Slogan – Leslie Fiedler vorgeführt: „Cross the Border – Close the Gap.“ Gut, ich bin dabei, aber bei Fiedler, der seinerzeit die „Postmoderne“ ausrief, wird der hohe Preis der Abwertung der Moderne bezahlt. Das kann sich, glaube ich, in meiner Heimat, in der die Moderne sich nie so durchgesetzt hat, dass sie heute historisch wäre, keiner leisten. // Ich bin 1947 geboren (Zeit!) und die Klänge, die meine Zeit erfüllt haben, kamen von der angelsächsischen Pop-Musik. Diedrich Diederichsen hat diese Musik dadurch charakterisiert, dass ihr Format auf eigene Weise Öffentlichkeit herstellte, „indem es Bereiche des sozialen Lebens, der Sinnlichkeit, der politischen Ideen in hoher Geschwindigkeit und ungewöhnlicher Dichte miteinander verknüpft. In der Pop-Musik waren das Kritische, Anspruchsvolle, Radikale und der Massengeschmack, die Kulturindustrie und der Populismus einander in einer Weise nahe, wie es die ausdifferenzierte, parzellierte und kulturell in zahllose Milieus zerfallene postindustrielle Gesellschaft sonst nicht kennt. Das Durcheinander der Niveaus, der Medien, der Disziplinen und der sozialen Herkunft der Beteiligten lässt die Kultur der Pop-Musik in ihren interessanteren Phasen aussehen, wie einen Lehrversuch künftiger Gesellschaft.“ // Das war einmal und außerdem eh nur „in den interessanteren Phasen“. Aber es ist ein Modell dafür, dass eine Kunst über sich selbst hinauswachsen muss, die Musik über das Musikalische, wenn sie die nun einmal ausdifferenzierten Grenzen und Unterscheidungen der eigenen Branche überschreiten möchte.

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Gegen die Unangepasstheit

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Was ich in den letzten Jahren mit Hass erlebt habe, ohne mich zu rühren, es duldend und ständig vorhersehend (manchen sehe ich es an der Nasenspitze an, dass sie gleich damit herausplatzen werden), ist die Redewendung: „Passt!“ „Passt!“, dieser Aufschrei aus einer sprachlichen Bastelwelt, in der man irgendeine Materie gefügig gemacht hat, um dann aufzuschreien: „Passt!“ „Passt“ ist wohl ein Austriazismus, Signal in einem Lande, in dem es so vielen von uns so gut passt, es ist das Faustische in uns („Uns ist ganz kannibalisch wohl, / Als wie fünfhundert Säuen!“), und das Service, das dem Gast hier geleistet wird (und das sich dieser gefallen lassen muss, denn das heißt „Fremdenverkehr“), ist von der Frage begleitet: „Hat’s gepasst?“

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Dagegen lob ich mir „unangepasst“. Also ich hatte einmal, bevor diese Knieprobleme akut wurden (bei denen man nicht weiß, soll man sie durch Operation beseitigen oder nicht, es könnte ja die Operation erst recht ein Problem sein oder eines nach sich ziehen), also damals, als ich noch unbesorgt ausschritt, vor mich hinging, besaß ich ein paar Schuhe, die nicht nur nicht passten, sondern die auch unangepasst waren. Das heißt: Eigentlich sollten sie angepasst worden sein, dafür hatte ich ja bezahlt, aber im entscheidenden Moment war der Schuster wohl unpässlich gewesen, und ich hatte am Ende ein paar Schuhe, die zwar handgemacht waren, die aber überhaupt nicht zueinander, geschweige denn mir passten.

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Er, der Schuster, hatte sie meinen Füßen nicht angepasst und so hatte ich eben zwei Schuhe, die mir jeweils nicht nur nicht passten, sondern die auch ganz und gar unangepasst waren. Besonders unangepasst war der rechte Schuh: Während mein Fuß im linken Schuh wackelte, keinen Halt fand, umschloss der rechte, der rechte Schuh, den Fuß so eng, dass ich das schmerzliche Gefühl hatte, den Abschluss meiner Beine, die ground control, bildete keineswegs ein Fuß, sondern ein heißer Klumpen.

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Ich leide heute noch an der Nachwirkung dieser Unangepasstheit: Der große Zeh war so eingezwängt, dass über kurz oder lang der Nagel von ihm abfiel und ein hässlich gerötetes Nagelbett entstand, auf das eine Zeit lang überhaupt kein Schuh mehr passte. Diesen Abfall meines Zehennagels habe ich bis heute noch nicht überwunden, seelisch schon, seelisch ist mir so etwas doch vollkommen gleichgültig, aber körperlich, also gleichsam physisch, habe ich einen verkrüppelten rechten großen Zeh. Ich nehm’s nicht tragisch, auch wenn die sozialen Folgen nicht ohne waren: Dem Schuster führte ich meinen Zeh vor Augen und ich musste mitansehen, wie ihm dieses physische Unheil, die von ihm verursachte Verkrüppelung, gar nichts bedeutete. Nichts davon, so sagte er, hätte mit seinen Bemühungen, mir Schuhe anzupassen zu tun. Vielmehr hatten meine Füße sozusagen von Natur aus diese unmögliche Passform mitgebracht. Aber auf keinen Fall wären seine Schuhe unangepasst, ich sollte überhaupt zu keinem Schuster wie ihm gehen, Maßschuhe passten ja zu mir überhaupt nicht. „Humanic“, schlug er mir vor, „gehen Sie zu Humanic, heißen eh Franz.“

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Na gut, seit mich diese Sache mit den Knien beherrscht, trage ich eh nur Camper, diese Super-Schuhe mit der tellerartigen Rundung an der Spitze, ich kauf’ sie bei „Humanic“ und sie passen mir wie angegossen.

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Fragment über böhmische Dörfer

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Ich verwende das Wort „böhmisch“ unabhängig von der dichterischen Wendung, ganz Böhmen sei einst am Meer gelegen; es gibt die alte umgangssprachliche Metapher von den „böhmischen Dörfern“ – ich fürchte vom Ursprung her ist diese Metapher mit einer Geringschätzung der Österreich angrenzenden Fremde verbunden. Ich besaß einmal das Buch „Lauter böhmische Dörfer. Wie die Wörter zu ihrer Bedeutung kamen“, der Autor heißt Christoph Gutknecht, und er ist auch der Verfasser von: „Lauter blühender Unsinn: Erstaunliche Wortgeschichten von Aberwitz bis Wischiwaschi“, und das ist eine Provokation, es selber zu versuchen, ganz ohne die Hilfe von Christoph Gutknecht, zumal sein Buch über die böhmischen Dörfer unter meinen Sachen verschwunden ist wie so vieles andere. Ich glaube, die Bedeutung der böhmischen Dörfer kommt daher, dass sie tschechische Namen tragen, und das heißt, sie klingen für ein von der deutschen Sprache eingeschultes Ohr unverständlich. Aber darauf kommt es nicht an, sondern darauf, dass ich mich noch erinnern kann, wie das „das Böhmische“ zumindest in Wien einen ambivalenten Ruf hatte: Er erschallte einerseits in einer lieblichen, aber unterschwellig verächtlichen Folklore, andererseits als plumpe soziale Diskriminierung: Ein Herrenvolk fixierte seine Diener.

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Der böhmische Schneider, wie ich ihn noch kannte, hatte kein hohes Sozialprestige gepachtet, und das Letzte an Geltung, das ihm sprichwörtlich oder in Liedern des Heinz Conrads noch zugestanden wurde („Wie Behmen noch bei Öst’reich war, bei Öst’reich war“), nahm ihm die Kleiderindustrie mit ihrem Billiggewand. Der soziale Typus des böhmischen Schneiders war funktionslos geworden; „da Behm“, wie der Wiener zugleich geringschätzig und abstandslos sagt, hatte seine Schuldigkeit getan. Jetzt denke ich an einen „Behm“, und als Kind – das heißt in dem Zustand, in dem ich vom Sterben keine Ahnung hatte – als Kind hatte ich den alten, den sehr alten Herren oft gesehen. Er sprach dem Alkohol zu, aber er konnte nicht viel zusprechen, weil er nur wenig Geld hatte. Dafür hatte er eine strenge Frau, vor der er manchmal fliehen musste, und da saß er nicht selten auf einer Bank in dem Gemeindebau, in dem meine Eltern und ich untergebracht waren. Wie müde musste er gewesen sein vom Leben im zwanzigsten Jahrhundert, und als es sozialpartnerschaftlich aufwärts ging, war er zu alt, um für sich selbst noch etwas zu erwarten. Ich weiß es nicht, aber ich glaube, er hieß „Mandi“ – Mandi ist eine Koseform von Manfred. Er stand oft Stunden und Stunden vor seinem ausrangierten Geschäft, dem funktionslos gewordenen Laden; es schien nur, als hätte er nichts zu tun. Das war eine Täuschung, denn er war vollkommen mit dem Warten auf den Tod beschäftigt.

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Es ist das Gegenteil von Geringschätzung, das ich mit den „böhmischen Dörfern“ im Sinne habe; etwas bleibe einem ein „böhmisches Dorf“ will ja sagen, in diesem Dorf kenne man sich nicht aus.
Nur ein Dummkopf, der seine eigene Ordnung und nur sie fest umrissen im Kopf hat, wertet alles ab, worin er sich nicht auskennt. Die Ordnung, gleichgültig nach welchen Prinzipien sie hergestellt wird, übt auf manche Menschen eine Faszination aus. Die Faszination kommt aus meiner Sicht aus der Übersichtlichkeit, die einem eine Ordnung einräumt, und die Übersichtlichkeit wiederum gewährt Eingriffsmöglichkeiten. Kontrolle: Eine Einheit, die man auf Dauer identifizieren kann, durchsetzen gegen den Pluralismus der Erscheinungen. Zentralperspektiven bis zur Zentralmatura, also einheitliche Fragen zur gleichen Zeit für alle Kandidaten, die, wenn sie bestanden haben, durch einen uniformen Geist miteinander verbunden bleiben können. Aber ich will hier keine Schulreform dramatisieren, ich habe nur in meinem Leibblatt gelesen, es ginge bei der Zentralmatura um das „Sprießen von Bildung“. Da kann man nichts machen, aber die in der Zeitung darauffolgende Generalisierung ist blühender Unsinn: „Und wer dafür einheitliche Standards sät, wird ausgezeichneten Erfolg ernten.“

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Für andere mag der ästhetische Reiz der Unübersichtlichkeit groß sein: So ein Dorf, dessen Gesetz und Organisation sich nicht dem ersten Blick anbietet (und sich anbieten ist eine allgemein durchgesetzte Strategie), so ein Dorf kann schon deshalb als schön erscheinen. Schönheit hat etwas mit dem Nicht-Durchschauen zu tun, damit, dass man sich Eindrücken ausliefert. Sie entsteht dadurch, dass der Blick sich dem schönen Schein zuwendet, von ihm gefesselt, hingehalten, sein will und ihn gerade nicht durchdringen möchte. Deshalb hat Schönheit, falls sie sich unserem Blick überhaupt noch zeigt, auch niemals das letzte Wort. Irgendeiner will immer – auch mit Blicken – durchdringen, auf den Grund kommen. Die Institution der Kunst, die einst – neben dem Naturschönen – für die Produktion von Schönheit zuständig war, hat das bitter gelernt – zuerst mit der Konsequenz, mit der sie das Hässliche inkorporiert hat und dann, indem sie’s überhaupt sein ließ und sich allmählich gegenüber schön/unschön neutral, gleichgültig verhielt, sehr zum Hass einiger Schönheitsanbeter, einiger Schönheitsberater der Gesellschaft, die sich von der Kunst, die sie die „moderne Kunst“ nennen, zu wenig bedient fühlen und die daher gegen das ihnen „modisch“ erscheinende Kunstleben einen Kanon des Altmodischen aufstellen, der sich dadurch auszeichnet, dass man sich darin auskennt und dass er nichts verzeichnet, was irritierend, also gegen den ordnenden Schönheitsbegriff wäre. „Ah, wie schön!“ ist ja eine Wiedererkennungsparole. Aber die Schönheit, die einen ergreift, der man ausgeliefert ist wie dem Erhabenen der Natur oder dem Kunstwerk seines Lebens, wenn man es zum ersten Mal sieht, will man nicht durchschauen, man kommt gar nicht auf die Idee. Später lernt man, das Phänomen zu erforschen, ohne dabei den ersten Eindruck aufs Spiel zu setzen. Diese besagte Neutralisierung, dieses Gleichgültig-Werden der Kunst gegenüber der Schönheit erscheint mir dennoch als ein unaufhaltsamer Prozess, und zum Beispiel Stifters ungeheure Anstrengung, das Naturschöne und das Kunstschöne jenseits einschlägiger Idyllen in einem Werk zusammenzuzwingen, hatte nicht „umsonst“ den bekannten Preis der zerklüfteten Autorenexistenz zur Voraussetzung und zur Folge.

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Ein böhmisches Dorf ist also für mich schön, besser: schön genug, weil die Wirrnis, die die zum Nicht-Zurechtfinden gehörende Ästhetik erzeugt, produktiv sein kann, zum Beispiel gerade in dem entgegengesetzten Sinn, dass sie Vorstellungen produziert, „Orientierungsleistungen“, und seien es solche, die – wie im folgenden – das Dorf böhmisch sein lassen oder das Böhmische im Dorf lassen, die also das Unbekannte als Orientierungspunkt nehmen (oder, polemisch gesagt, die das Unbekannte als Orientierungspunkt verkaufen). Solche Verkaufsanstrengungen sind durchaus nicht originell, ganz große, weltberühmte Theorien stehen dahinter, stehen dafür ein, dass es Steuerungen gibt, die – wenngleich in Kraft – unbekannt bleiben, und zwar in erster Linie denen, die von ihnen gelenkt werden, also denen, die’s eigentlich besser wissen müssten. Die Kraft dieser Steuerungen resultiert daraus, dass sie’s eben nicht wissen, und es ist, sagt man, keine geringe Kraft. Ebenso sagt man, der beste Weg damit zu Rande zu kommen, sei es, sich dessen, was man nicht weiß, bewusst zu werden; das sei seelisch heilsam.

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Ich meine, unter Fachleuten der Psychologie herrscht anscheinend (und wenn, dann gewiss mit Recht) eine große Angst vor dem Unbekannten der Triebkräfte und der Verletzungsgründe. Erst wenn man sich auskennt, wenn es bewusst geworden ist, herrscht angeblich Ruhe, zumindest halbwegs Ruhe. Deshalb können die Erlebnisberichte von Psychoanalytikern auch derartig aussehen: „Nach Kriegsende hatte eine Patientin, sie war damals drei Jahre alt gewesen, gesehen, wie ihre Mutter von Soldaten vergewaltigt worden ist. Die Frau habe sich bewusst nicht mehr daran erinnern können, auch ihre Mutter habe über das Erlebnis nicht mehr gesprochen. Die Patientin hatte die ganze Zeit über Schwierigkeiten, eine lustvolle Sexualität zu erleben. Mit einer Psychoanalyse konnte das Erlebnis schließlich aufgearbeitet werden. Heute ist die Frau wieder verliebt.

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Heute ist die Frau wieder verliebt. Dieser Schematismus einer Heilsgeschichte wurde von der Psychoanalytikerin Marianne Leuzinger-Bohleber, einer geschäftsführenden Direktorin am Sigmund Freud Institut in Frankfurt am Main, der Zeitschrift welt kompakt, dem Fluglinienblatt der Air Berlin weitergegeben, und das in der Zeit, da die Air Berlin ihren Börsengang verschieben musste, weil die Nachfrage nach den Papieren dieser zweitgrößten Luftlinie Deutschlands zu gering war. Aber es gibt viele Papiere mit glatt gegangenen Heilsgeschichten, sie bilden nahezu eine eigene Literaturgattung, deren wesentliches Merkmal eben sein soll, dass jedes Trauma, einmal bewusst gemacht, schon abzuschreiben wäre: Das erkannte Unbekannte hat über uns Leidende keine Macht mehr. Erkenne dich selbst, Patient, mit Hilfe deiner Ärzte, und schon bist du gesund. Aber der Konnex, der Zusammenhang von Erkanntem und Unbekanntem ist in solchen Geschichten zu einfach, nämlich propagandistisch gestrickt. Das Erkannte löst das Unbekannte ab, setzt sich an dessen Stelle, und diese Transubstantiation wirkt im Betroffenen als Erlösung.

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Ich denke, diesbezüglich hat man es in der Welt mit zwei gegenläufigen Irrläufern zu tun: Die einen lassen das Unbekannte lieber unbekannt, rühren nicht daran und verteidigen ihre böhmischen Dörfer, wenn’s sein muss mit aller Gewalt. Andere glauben, diese Dörfer wie nichts schleifen zu können – sie sind Kontrollfreaks, die das Wort „bewusst“ auf ihre Fahnen geschrieben haben. Es scheint aber mit den menschlichen Wissensmöglichkeiten so zu sein, dass in vielen Fällen das Unbekannte, das Nicht-Gewusste und das Wissen komplizierter ineinander verschlungen, miteinander verklammert sind, als unsere Schulweisheit es sich träumen lässt. Ich rede dem Unbekannten, dem Undurchsichtigen nicht das Wort – kein romantischer Schauder diesmal, im Gegenteil, ein Plädoyer für das rationale Kalkül, welches besagt, dass das Unbekannte auf viele Arten, die alle nicht zu seiner Auflösung führen, unserer Erkenntnis zuarbeiten kann; ein Beispiel, das das klarstellt, stammt von dem Dirigenten Nikolaus Harnoncourt. „Es ist doch merkwürdig“, sagte dieser über musikalisch bespielte Häuser, „dass alle Häuser, die gebaut worden sind, bevor es Akustiker gab, akustisch gut sind. Wenn ich weiß, dass ein Saal im 19. Jahrhundert gebaut wurde, muss ich mir keine Sorgen machen.“

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Ich verwende diese ehrenwerte Ansicht, um zu behaupten, dass das Wissen nicht naturgemäß ein Teil der Lösung, geschweige denn der Erlösung sein muss. Es gibt Formen von Erfahrungen, die nicht in den Stand der Bewusstheit erhoben sind, zum Beispiel akustische Erfahrungen, die nicht die Höhe einer systematisch ausgearbeiteten Akustik haben, die aber dennoch (oder gerade deswegen) Orientierungspunkte abgeben, die in der Praxis sicherer sein können als wissenschaftlich nachweisbare Gewissheiten. Daraus darf man freilich keine Ideologie machen, weil es weder allein um das eine noch allein um das andere geht, also weder um das schlicht Bewusste einerseits, noch um das verrätselt Nicht-Bewusste andererseits – es geht um den Zusammenhang, der, wie schon gesagt, nicht einzig und allein einer des reinen, erledigenden Aufdeckens auf Kosten des Nicht-Bewussten sein kann. Das Nicht-Wissen erzeugt ja nicht bloß den Trieb zu wissen, um damit ein für alle Mal erledigt zu sein – sondern es kooperiert; es leistet – in einer Art von Übersetzungsarbeit – dem Noch-Nicht-Gewussten Schützenhilfe, indem es Momente der eigenen Aufhebung darbietet.

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Kulturimperialismus

Ich glaube, dass alle Schweizer Schriftsteller in einer großen Gefahr existieren. Umso größer ist die Gefahr, als es unsicher ist, ob die Schweizer Schriftsteller sich in dieser Gefahr nicht wohlfühlen, ob sie sich nicht gerade in dieser Gefahr selbst lieben – die Gefahr ein Aphrodisiakum. Habe ich nicht oft gesagt, habe ich es nicht auf den höchsten Bergen meiner Heimat, zum Beispiel auf der Spitze des Großglockners, ausgerufen: Ich liebe die Schweiz! Die Schweiz ist die Antwort auf Fragen, die Österreich stellt! Himmel, vielleicht ist es gar keine Schweizer Gefahr, sondern zum Schluss nichts als eine persönliche Bedrängnis, verallgemeinert (und die Schweizer sind immer unschuldig) auf Unschuldige, die mir zum Selbstschutz in Bedrängnis erscheinen. // Sehen Sie sich bitte, sehr verehrte Leserinnen und Leser, einmal, ein einziges Mal nur, den Umschlag meines Buches „Schreibkräfte“ an. Ich muss das Buch aus dem Gedächtnis beschwören, ich besitze kein Exemplar mehr. Aber damals hat ein deutscher Verlag, gewiss ohne mich zu fragen, ein fotografisches Gemälde, ein Sittenbild auf den Umschlag machen lassen: Man sieht einen grauhaarigen Herrn, groß gewachsen, aber spürbar subaltern; er ist offensichtlich ein Kellner, ein in Österreich sogenannter „Ober“, der serviert, und das ist, so weit ein Bild eine solche Interpretation zulässt, durchaus auch im übertragenen Sinn gemeint: Der graumelierte rüstige Alte in seiner historisch längst überholten, in seiner nostalgischen Eleganz tischt auf meinem Buchumschlag etwas auf. Dabei hat er in meinen Augen den sympathischen Zug, mit seinem Dienstverhältnis nicht deckungsgleich zu sein, er wirkt vielmehr autonom („wie aus einer anderen Welt“), wenngleich eben andererseits die Routine des Servierens in ihn eingegangen ist. Er kann seine Subordination perfekt verkörpern, ohne von ihr beeindruckt zu sein – er ist also nicht zuletzt durch diese Ambivalenz ein „echter Wiener“ Oberkellner. // Ich wundere mich, ja, es nimmt mich Wunder, dass mich so ein Kellner in seiner Funktion als titelgebendes Bild auf dem Umschlag stört. Ich lege doch auf Wiener Traditionen Wert, darunter nicht zuletzt auf solche, die ich zu „vertreten“ gar nicht zu beanspruchen wage, und „Vertreten“ tut sie ein Kellner dieser Art ja auch. Ach, jederzeit wäre ich mit der Kellnerfigur am Umschlag zufrieden, hieße das Buch nicht „Schreibkräfte“, und mit Schreibkräften hat die Figur nun gar nichts zu tun. Das Bild ist dem Buch angeklebt wie man in einer Schulklasse dem Klassentrottel eine Inschrift mit einer fragwürdigen Behauptung anklebt: „Ich bin ein Depperter!“ Mir klebt eben ein deutscher Verlag, bevor irgendwer noch ein Wort von mir vernommen hat, „Wiener“ an. Und ein „Wiener“ ist im deutschen Sprachraum ein noch billigerer Exot als ein Schweizer. // Das ist die Gefahr, in der ich Schweizer Schriftsteller leben sehe: dass ihre Herkunft ein Etikett ist, ein Markenzeichen im Literaturgeschäft, und dass alle, die sich unter dieses Etikett subsumieren lassen (müssen), eine Fraktion bilden, einen übersichtlichen Sektor, den die Aufsichtsbehörde, also der deutsche Literaturbetrieb, im Griff zu haben wähnt. Ja, wenn ich jetzt schon so weit gegangen bin, veröffentliche ich hier auch den kurzen Sinn der langen Rede: Ich glaube, es gibt so was wie einen deutschen Kulturimperialismus. // Gewiss, diese Behauptung ist zwiespältig, schon allein, weil man sie schwerlich ohne Ressentiment äußert. Quod erat demonstrandum. Aber der aufgeklärte Ressentimentale kennt die Antwort auf solche Anwürfe: Erst unterdrücken sie einen und dann, wenn sie einen hässlich und klein gemacht haben, werfen sie einem vor, dass man hässlich und klein ist, also Ressentiments hat. Damit ist man mit
seinem Ressentiment fein raus, allerdings nur fürs erste, denn es gibt zweitens ein Argument, mit dem man den ressentimentgeladenen Protest in den Schatten stellt; es lautet: Dem Tüchtigen gehört die Welt, also auch die literarische. Wer hindert denn wen daran, so feine Verlage wie Hanser oder Suhrkamp zu gründen, um dann über die literarische Welt zu bestimmen? Niemand, es gibt kein Hindernis außer der eigenen Schwäche. Mir fällt als Antwort, und das passt ja zum Ressentiment, nichts als eine Art von Mitleidston ein: Kleines Land und so … // Aber selbst, wenn der Mächtige, dieser tüchtige Betreiber der guten Geschäfte, im Recht ist, gehört es doch zur zivilisierten Auseinandersetzung mit ihm, dass man sein Recht in Frage stellt. Ich zum Beispiel bin in einem österreichischen Verlag, der einem deutschen gehört, und wie der deutsche Inhaber entscheidet, kommt einem Degradierungsritual gleich, das unausgesprochen von den Beteiligten hingenommen und zugleich verdrängt wird. Der deutsche Inhaber, es ist der wunderbare Michael Krüger, hat sich mit Deuticke und dem Zsolnay Verlag einen kleinen Pool österreichischer Schriftsteller zugelegt. Aus dem Pool fischt er dann gelegentlich einen heraus, den er für den deutschen Markt – im Hanser Verlag – groß herausbringt. Wen er für eine solche Größe nicht geeignet hält, der darf sich, wenn er Glück hat, im einheimischen Pool weitertummeln. Wen er rausfischt, der bekommt eine Chance, im wahren Element des Schriftstellers, im deutschen Literaturbetrieb, herumzuschwimmen. // Aber ach, wie ambivalent ist doch alles: Ich bin mit Zsolnay glücklich und verachte reinen Herzens nicht wenig am deutschen Betrieb. Keine sauren Trauben, auch deshalb nicht, weil ich ja gar kein Fuchs bin – der deutsche Literaturbetrieb, der im deutschsprachigen Raum der maßgebliche ist, kommt mir gespenstisch starr vor. Bei Tellkamps Buch „Der Turm“ habe ich ein paar hundert Seiten der Lektüre benötigt, um dann doch einzusehen, dass das Ganze nicht ausschließlich eine Einreichung für den Buchpreis der Frankfurter Buchmesse ist. Die Art und Weise, wie das deutsche Fernsehen literarische Angelegenheiten verhandelt, routiniert und anödend, und so leidenschaftlich (ach, die Protagonisten treten ja so entschieden für Lektüre ein), das lässt mich den diesbezüglichen Dilettantismus des österreichischen Fernsehens lieben: Da werden unwillig irgendwann einmal im Jahr ein paar Literatursendungen aus dem Boden gestampft, Mahnmale des Desinteresses, die auf eine fast schon künstlerische Weise jeder Literaturbeflissenheit Hohn sprechen. Das ist halt das Erbe des großartigen österreichischen Aktionismus, in dessen Rahmen man einst im Hörsaal I der Wiener Universität, und zwar mit Recht, auf das Podium gackte. Wenn man genau hinsieht, erkennt man im österreichischen Geistes-Fernsehen diesen alten Aktionismus und seine Scheiße wieder. Sie hat einen verschämten, etwas hygienischeren Anschein angenommen, während der deutsche Literaturbetrieb seine unverschämten Rituale („Das Literarische Quartett“, „Literatur im Foyer“, „Lesen!“) zum Maß der Dinge erklärt. Es ist die Ritualisierung, diese permanente Wiederkehr des Gleichen und der Gleichen, die mir den deutschen Literaturmarkt zum Graus macht. Gewiss, der Mensch benötigt Rituale, aber nicht alles, womit sie einem kommen, ist zu brauchen, bloß weil es auch ein Ritual ist. Dies wollte ich nur gesagt haben, sollte mir eines Tages jemand Peter Bichsel als „Schweizer Schriftsteller“ vorstellen.

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