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Brenner-Gespräch (4):
Der Baum ist rot.

So viele Leute fahren über die Alpen. Quart bittet herausragende Persönlichkeiten an den Straßenrand zu einer Jause mit Gespräch. Folge 4: Der Architekt Raimund Abraham führt die Autorin Johanna Bodenstab durch Raum und Zeit. Bei dieser Gelegenheit konnte sie mit ihm über sein Austrian Cultural Forum in New York sprechen und ließ sich erklären, warum Architektur nicht zwangsläufig mit Bauen zu tun hat.

Johanna Bodenstab: Sie haben einmal geschrieben: „Architecture is a project of desire.“ Wonach sehnt sich die Architektur?

Raimund Abraham: Architektur verlangt, physische Zwangsvorstellungen poetisch in Frage zu stellen. Zum Beispiel muss eine Baulücke – architektonischer Ausgangspunkt für den Bau des Austrian Cultural Forums in New York – zuerst als Metapher der Leere erkannt werden und nicht als Bauplatz eines bereits vorgeplanten Gebäudes. Es ist genau diese Leere einer Raumhülle, die das Gebäude erahnen lässt und durch dessen Abwesenheit sich das Bauwerk bestätigt, verborgen im Ort der Sehnsucht. Die Kraft dieser Sehnsucht ermöglicht die Verwandlung von Leere zum Raum, nicht ein Festklammern, sondern eine Verankerung, die wieder eine neue Sehsucht erwecken kann und muss.

B.: Für mich war interessant, dass sich beim Betrachten des Forums die Richtung der Fassade geändert hat. Zuerst kam sie in ihrer Neigung auf mich zu, also herunter. Aber dann hat sich das irgendwann umgedreht und die Dynamik ging nach oben, himmelwärts. Das ist ja auch eine unglaubliche Geste der Sehnsucht. Das Gegenteil von Festklammern. Und dann aber, bei der Begehung des Gebäudes, war die Berührung von Innen und Außen, an der Fassade entlang, faszinierend für mich. Es war, als ob das Außen immer stärker auf dieses Haus zukäme, als müsste der Innenraum von Stockwerk zu Stockwerk immer stärker dem Druck von Außen nachgeben.

A.: Ja, wunderbar! Aber ich bin mir dieser Phänomene überhaupt nicht bewusst. Das sind die Dinge, die Sie sehen, aber ich sehe sie vielleicht gar nicht. Und das ist ja gerade das Schöne. Durch die Arbeit kommuniziert man mit der Welt. Verstehen Sie? Wenn sich nur das, was ich selber in meine Arbeit hineinlesen kann, manifestieren würde, wäre das wie Zwang. Wenn ich baue, will ich den Benutzer nicht in eine vorgegebene Nutzung zwingen, sondern ich will Räume schaffen, die zu anderen Nutzungen anregen und auch zu anderen Vorstellungen. Wenn ich die konventionelle Definition eines Hauses akzeptiere, ergeben sich unweigerlich konventionelle Nutzungsbereiche – das heißt, es gibt einen Wohnraum, einen Eingangsraum, ein Schlafzimmer, ein Badezimmer, eine Küche. Oder ich denke eben nicht in dieser Konvention, sondern ich denke an Rituale, an Aktivitäten, an das Schlafen, an das Essen, an das Kochen, an das Baden. Und aufgrund meiner Auseinandersetzung mit der Frage, welche Räume ich diesen Aktivitäten, diesen Ritualen geben möchte, entsteht dann ein völlig anderes Konzept eines Hauses. Das heißt, ich habe das Problem anders definiert. Wenn ich nicht gewillt wäre, das Problem neu zu definieren, wäre ich in die Konvention eines bereits gelösten Problems gezwungen worden.

B.: Geht es Ihnen also darum, mit Denkgewohnheiten zu brechen und Widerstand gegen Konventionen zu leisten?

A.: Der Widerstand richtet sich immer gegen Umstände, in die man hineingeboren ist, die man nicht gewählt hat. Da fängt der Widerstand an. Gegen die Eltern, gegen den Ort, wo man geboren ist, gegen alles, was zur Gewohnheit wird, so dass man selber nicht mehr denken muss. Weil alle Umstände bereits von anderen bestimmt sind. Man braucht sie nur nachzuvollziehen. Oder man widersetzt sich dem und fragt sich: Vielleicht gibt es andere Möglichkeiten? Von dem Moment an, wo Sie überlegen, ob es andere Möglichkeiten gibt, von dem Moment an leisten Sie schon Widerstand. Wenn Kinder in den Kindergarten kommen, passiert es zum ersten Mal, dass jemand mit ihnen über ihre Zeichnungen spricht. Die Eltern sind meistens ja nicht interessiert, was die Kinder zeichnen. Ich rede nicht von der jetzigen Zeit – in meiner Kindheit war es so. Und dann ist es das erste Mal, dass der Lehrer, die Kindergartenlehrerin sagt: Der Baum ist nicht rot, der Baum ist grün. Und von 30 Kindern werden 29 wahrscheinlich sagen: Jaja, wenn der Lehrer das sagt, wird der Baum grün sein. So früh fängt das an. Und der Eine wird aber sagen: Nein, mein Baum ist rot. Und von diesem Moment an ist man dann klassifiziert als Troublemaker – wie sagt man im Deutschen?

B.: Ich weiß auch nicht – als Querulant?

A.: Querdenker ist besser. Man muss sich früh entscheiden, welches Leben man leben will, das eines Querdenkers oder das eines Opportunisten.

B.: Wenn Sie das sagen, fällt mir die Widmung zu Ihrem Werkkatalog „(UN)BUILT“ ein: „Für meinen Vater, der mich die Tugend des Arbeitens gelehrt hat“ – das klang mir gar nicht nach einem Querdenker.

A.: Zu der Widmung für meinen Vater gibt’s eine ganz einfache Geschichte: Mein Vater war Kellermeister, er hat Wein gemacht. Und ich war für meine Mutter, was man im Boxen the white hope nennen würde. Max Schmeling zum Beispiel war the white hope, weil das Schwergewichtsboxen eher von Schwarzen dominiert wurde. Ich war am Gymnasium und sollte studieren, für meine Mutter war ich die Hoffnung auf einen gehobeneren Gesellschaftsstatus. Einmal, während der Sommerferien, bat mich mein Vater, ich solle ihm helfen, ein Fass auf einem großen zweirädrigen Karren zum Bahnhof zu führen. Er hat absichtlich einen Weg gewählt, der durch die ganze Stadt ging. Und ich hab mich geschämt. Dann aber hab ich begriffen, dass er meine Hilfe gar nicht brauchte, sondern mir nur die Gelegenheit geben wollte zu zeigen, dass ich die Arbeit schätze. Das war wie eine Erleuchtung! Und ab diesem Jahr hab ich immer in den Ferien gearbeitet – zum Beispiel habe ich in der Straße, wo ich wohnte, als Hilfsarbeiter den neuen Kanal gegraben. Alle Leute sind vorbeigegangen und haben mich gesehen. Plötzlich war ich stolz darauf. Auf diese Geschichte geht die Würdigung meines Vaters in meinem Buch zurück. Eine Manifestation des Widerstands gegen mich selbst.

B.: Sie sind 1964 von Österreich in die USA ausgewandert und leben seit 1971 in New York. Würden Sie sagen, dass Ihre Herkunft in den über 40 Jahren Ihrer amerikanischen Existenz eine Konstante bildet?

A.: Ja, natürlich. Der eigenen Herkunft kann man sich doch nie entziehen, das will ich auch gar nicht. Allerdings gibt es eine so genannte Evolution der Gefühle. Bedingt durch neue Erfahrungen oder veränderte Umstände ändern sich auch die Gefühle. Und das heißt, dass mein jetziges Gefühl für Österreich anders ist als vielleicht vor 25 Jahren. Zum Beispiel mein Verhältnis zur Landschaft. Wenn ich nach Lienz fahre, wo ich geboren bin, wo ich alle Berge bestiegen habe, die man sieht, dann sind mir diese Berge inzwischen so fremd geworden, als ob ich nie dort oben gewesen wäre. In der Erinnerung ist mir diese Landschaft wohl sehr vertraut, aber mit den Gefühlen, die ich jetzt habe, hat sie wenig zu tun. Jetzt, in dieser Phase meines Lebens, ist mir eine Landschaft in Mexiko oder im Westen der USA, in Montana, Wyoming oder Arizona, wesentlich vertrauter; obwohl sie mir eigentlich neu ist und erst später in mein Leben kam. Meine Sensibilität gegenüber der Landschaft hat sich geändert. Sie ist größer geworden, so dass ich mich in der Landschaft, in die ich hineingeboren worden bin, jetzt beengter fühle …

B.: Die Landschaft der Erinnerung finden Sie heute also woanders.

A.: Ich habe ein Haus in Mexiko. Mexiko ist mir sehr nahe. In einer eigenartigen Weise erinnert es mich sehr an meine Kindheit. Wie sich dort zum Beispiel in kleinen Städten das Leben auf der Straße abgespielt hat. Wenn Sie jetzt in Österreich im Sommer durch eine kleine Stadt fahren oder einen kleinen Ort – der ist ausgestorben. Kein Mensch ist auf der Straße. Früher sind die Leute vor den Häusern gesessen, wir Kinder haben auf der Straße gespielt, das war unsere Welt. Europa ist mir fremd geworden. Vertraut und fremd zugleich. Ich sage immer, wenn einem das Vertraute fremd geworden ist, ist es fremder als alles andere.

B.: Was hat es für Sie bedeutet, das Kulturinstitut zu bauen, ein Gebäude, das Österreich in Manhattan repräsentiert?

A.: Das war mir nie bewusst. Ich wollte eher meiner Wahlheimat New York ein Geschenk machen. Für mich ein seltenes Privileg.

B.: Welche Überlegungen haben bei der Entwicklung dieses Projektes außerdem eine Rolle gespielt?

A.: Die bewusste Überlegung war, in einem absolut reduzierten physischen Raum ein vertikales Gebäude zu schaffen, das 7,5 m breit ist und 90 m hoch ist. Die eigentliche Herausforderung war für mich also die äußerst radikale Limitation des Projekts durch die vorgegebene Raumhülle. Und ich habe genau diese Raumhülle verwendet und deren Umriss geometrisch amplifiziert und dadurch eine völlig neue architektonische Sprache für die Fassade eines vertikalen Gebäudes geschaffen. Auch die Auseinandersetzung damit, wie man in diesem absolut begrenzten Raum eine Nutzung verwirklichen sollte, die im ersten Augenblick fast unmöglich erschien, war ein zentraler Aspekt. Und die Frage, wie ich alle Anforderungen der Bauordnung erfülle und die Nutzungspläne berücksichtige, war für mich genauso wichtig wie die formale Geste des Gebäudes. Tatsächlich war für mich der entscheidende Moment des ganzen Projekts die Idee der so genannten Scherenstiege – eine New Yorker Stiege, bei der man zwei getrennte Feuerstiegen in einem Stiegenhaus unterbringt, die sich zwischen jeder Etage kreuzen. Und das ist sich auf dieser Breite von 7,5 m auf 5 cm ausgegangen. Mit allen komplizierten Forderungen der Bauordnung – also wie viele Stufen man haben darf, wie schmal die Stiege sein darf – war es möglich, diese Stiege an der Rückseite des Gebäudes zu bauen und zwei Notausgänge von jedem Geschoß anzulegen. Der Moment, wo ich diese Lösung hatte, war dann wirklich die Befreiung für das Projekt. Denn sonst hätten allein die Stiegen so viel Raum eingenommen, dass für die Nutzung selbst kein Platz mehr übrig geblieben wäre. Wir haben jetzt trotz der Schmalheit des Gebäudes relativ großzügige Räume.

B.: Inwiefern ist die architektonische Sprache der Fassade neu?

A.: Ich sah die Fassade nie als Fassade, sondern als eine räumliche, vertikale Artikulierung einer Raumhülle als Gegenkraft zur Schwerkraft. Das gesamte Gebäude besteht aus drei elementaren Türmen: der Stiegenturm, das Skelett und der aufsteigende und zugleich fallende Glasturm. Im Größenverhältnis zu anderen vertikalen Gebäuden in New York ist ja das Kulturinstitut ein winzig kleiner Turm. Ich wollte eben eine Architektur schaffen, die durch ihre Präzision und eine neue Artikulierung der Sprache stärker wirkt als die anderen Türme in der Umgebung mit ihrer schieren Größe. Es gibt ein Foto, auf dem das Gebäude zwischen all diesen höheren Türmen steht und weit dominanter ist. Auch eine Art von Sehnsucht, dass die Kleinheit mächtiger ist als die Größe.

B.: Ich bin überrascht, wie fest die Arbeit, die Sie machen, letztlich doch auf der Erde steht.

A.: Jaja, das hat vielleicht schon damit zu tun, woher man kommt. Zum Beispiel ist mir im Rückblick klargeworden, dass ich sehr viel haptische Präzision beim Klettern gelernt habe. Beim Klettern hängt das Leben davon ab, wie gut man sieht. Wenn man irgendwo plötzlich nicht mehr weiterkann, muss man den nächsten Griff entdecken. Dieser existenzielle Druck verändert die Perzeption der physischen Wirklichkeit. Die Augen werden schärfer. Das heißt, die Augen sind an sich ein mechanischer Apparat. Es hängt von der Intensität ab, mit der man sieht, welche Bilder erzeugt werden. Ich glaube, wenn man das Auge schärft, nach außen zu sehen, schärft man auch die Vorstellung. Die Vorstellung ist ja eine Revision des Sehens.

B.: Welche Rolle spielt für Sie das Zeichnen?

A.: Ich ahne das Bauen voraus, wenn ich zeichne. Ich illustriere nicht, sondern ich konstruiere. Das heißt: Die Zeichnung entfaltet eine eigene Realität. Sie ist nicht Zwischenstufe zur gebauten Realität, sondern autonome Wirklichkeit der Architektur. Zeichnen heißt, die Abwesenheit von Körpern zu vermessen. Wenn man eine Idee zeichnet, übersetzt man diese Idee in Architektur wie in eine andere Sprache. Die Grammatik der Architektur aber ist die Geometrie. Und die Geometrie wird schon verletzt, wenn man sie zeichnet. Nehmen Sie zum Beispiel eine Tangente – die Tangente ist eine Gerade, die einen Kreisbogen an einem Punkt berührt. An einem Punkt. Selbst mit den präzisesten Werkzeugen ist es unmöglich, das zu zeichnen. Das bedeutet also, dass man schon durch das Zeichnen die Grammatik seiner eigenen Sprache verletzt. Es ist im gesamten Prozess des Bauens entscheidend, dass man sich das immer wieder ins Bewusstsein ruft, diese Limitation, aber auch diese Empfindlichkeit der verwendeten Sprache. Wenn es schon nicht möglich ist, die Berührung von Linie und Kurve in einem einzigen Punkt zu zeichnen, wie schwierig muss es dann sein, Präzision in der physischen Materialität umzusetzen, wo man einen Stein auf den anderen legt?

B.: Bisher hat sich unser Gespräch sehr an der Machbarkeit orientiert und ist immer wieder zum Realen, zur Materialität zurückgekehrt, vor der sich die Idee beweisen muss. Sie haben aber auch imaginäre Häuser gezeichnet, z. B. ein Haus mit einer Blumenwand oder das Haus mit den Vorhängen – Projekte, die gar nicht gedacht waren, überhaupt gebaut zu werden.

A.: Aber für mich sind sie gebaut! Gewisse Vorstellungen möchte ich gar nicht ins Gebaute umsetzen. Zum Beispiel das Haus mit den Vorhängen: Ich möchte gern, dass sich die Vorhänge ununterbrochen im Wind bewegen. Und wenn ich sie zeichne, kann ich diesen Zustand bewahrheiten. Wenn ich das Haus baue, dann hängen die Vorhänge, sobald kein Wind geht. Daran zeigt sich, dass es eben verschiedene Realitäten gibt. Es gibt nur eine Realität und das ist die gebaute. Das ist die Ansicht der Pragmatiker. Ich verdanke es den glücklichen Umständen meines Wiener Aufenthaltes in den 60er Jahren, dass ich mich von der Zwangsvorstellung, ein Architekt müsse bauen, befreien konnte. Deshalb habe ich wesentlich mehr gezeichnet als gebaut. Ich hab’s nicht aufs Bauen angelegt.
Um Architektur zu machen, braucht man an sich nur einen Bleistift und ein Blatt Papier. In der Poesie der Architektur ist die Zeichnung einfach eine andere Realität. Wenn ich mir etwa einen Raum eines Hauses vorstelle, der umgeben ist von Blumen, die im Lauf der Zeit zu Erde werden, dann habe ich natürlich ein Bedürfnis, diese Vorstellung zu visualisieren, sie zu zeichnen. Dabei ist es völlig nebensächlich für mich, das zu bauen. Die Zeichnung ist die Materialität, die notwendig ist, um diese Idee zu verifizieren. Projekte, die für einen spezifischen, identifizierbaren Ort bestimmt sind, möchte ich bauen. Wenn ich wirklich baue, zeichne ich wenig. Da bin ich zu ungeduldig und will sofort sehen, wie das gebaut wird. Es gibt gewisse Phasen, wo ich unmittelbar in die physische Realität eines Bauwerkes eintauche, und dann baue ich Modelle statt zu zeichnen.

B.: Anhand des Modells stellen Sie sich also gewissermaßen en miniature den Prozess des Bauens vor, während Sie im Zeichnen Vorstellungen von Architektur realisieren. Wie aber entwickeln sich neue Ideen?

A.: Nehmen Sie als Beispiel die Problematik des scheinbar einfachen Bauelements „Fenster“. Dafür gibt es bildliche Vorstellungen und Aufzeichnungen aller gebauten und gezeichneten Fenster. Doch nur, wenn Sie diese spezifische Erinnerung negieren und zum wirklichen Kern der Sache vordringen, nämlich in die Bereiche der Optik, der Belichtung und letztlich der Durchdringung einer Raumhülle, können Sie erhoffen, eine neue, bisher unbekannte Art und Form des Fensters zu erfinden.

B.: Beruht das Neue für Sie auf einem Vergessen?

A.: Im Gegenteil. Entscheidend ist, dass man nach den Wurzeln gräbt. Originalität heißt ja nichts anderes als die Suche nach dem Ursprung. Wenn man die Wurzeln freigelegt hat, kann man sie neu interpretieren. Darum geht’s mir. Das heißt, irgendwo ist bei mir immer eine archaische Wurzel zu spüren, weil ich immer zum Ursprung zurückgehen will. Originalität bedeutet eine andere Form von Neuheit, die nicht einfach nur neu ist, sondern wahrhaftig, weil sie um ihren Ursprung weiß und ihre Wurzeln in Frage stellt. New und true reimt sich ja im Englischen.

B.: Sie gehen also nach vorn, indem Sie zurückgreifen. Ich denke zum Beispiel an Ihren Wettbewerbsbeitrag für ein Denkmal am Ground Zero und an die Rolle, die der Lichteinfall dabei spielt. Mich hat das an die keltische Grabanlage von Newgrange in Irland erinnert, wo zur Wintersonnenwende ein Lichtstrahl durch eine winzige Öffnung über dem Eingang genau bis in die Grabkammer fällt …

A.: … und wo eben dann die physische Konfiguration die Abwesenheit des Lichtes bestätigt. Im Ground Zero-Denkmal gibt es vier Momente: Die zwei Flugzeuge sind in die beiden Türme des World Trade Center hineingeflogen, und die beiden Türme sind zusammengestürzt. Insgesamt handelt es sich also um vier Zeitelemente, die durch Schlitze manifestiert sind: Durch sie fällt das Licht genau zu der Tageszeit ein, als diese vier Momente am 11. September 2001 ursprünglich eingetreten sind. Es ist dasselbe Prinzip wie Stonehenge, nur ist es formal anders umgesetzt. Das Prinzip ist alt und meine Umsetzung ist neu.

B.: Aber es gibt wohl nicht nur die Wurzeln der Archi-
tektur selbst, oder auch die eigenen Wurzeln des Architekten. Der Ort, an dem gebaut wird, hat doch auch seine eigenen Wurzeln.

A.: Der Ort ist das Entscheidendste in der Architektur überhaupt. Die Sprachwurzel von Ort geht nach Heidegger aufs Germanische zurück und meint die Spitze einer Lanze. Diese Spitze der Lanze kann ich verschiedenartig interpretieren: Entweder indem ich sie ins Licht halte, dann wird die ganze Energie des Lichtes dort gebündelt und wieder befreit. Oder ich drehe die Lanze um, stoße sie in die Erde und nehme, indem ich den Punkt bestätige, den Ort in Besitz. Dabei beschädige ich ihn natürlich auch. Jede architektonische Manifestation ist eine Verletzung des Ortes. Jeder Ort hat ein gewisses Gleichgewicht und dieses Äquilibrium wird verletzt, wenn ich baue. In diesem Bewusstsein kann ich Architektur aber auch wie einen Versöhnungsprozess sehen, indem ich die Verletzung wieder heilen will. Das ist so ähnlich wie beim Kochen. Wenn man Tiere tötet, um sie zu essen, dann muss man sie dadurch ehren, dass man sie gut kocht. Schlechtes Kochen ist ein Sakrileg. Das heißt, im Ritual des Kochens sucht man Versöhnung für das Töten des Tieres. Und genauso ist es in der Architektur. Wenn man ein Loch in die Erde gräbt, verletzt man die Erde. Darum haben die Indianer, die die Erde als heilig betrachtet haben, ihre Tipis erfunden: Zelte verletzen die Erde nicht. Dieses Bewusstsein um die Verletzlichkeit der Erde sollte eine Sensibilität fordern, die die Architektur an sich entwickeln muss.

B.: Dabei hat mich die Gewalt, die aus manchen von Ihren Entwürfen spricht, beinahe erschreckt. Da gibt es das „Monument to Aviation“ (Denkmal der Luftfahrt), wo ein Flugzeug mit einer Wand kollidiert. Es gibt „Seven Gates to Eden“ (Sieben Tore ins Paradies), dieses Haus, das von verschiedenen Toren durchschlagen, zerschnitten, gevierteilt, hingerichtet wird. Sogar Ihr „Hinge-Chair“ (Scharnierstuhl) ist zuerst zersägt und dann mit einem Scharnier geflickt worden.

A.: Und das Scharnier versöhnt den Schnitt dann wieder. Aber nur durch den Schnitt kann der Sessel seinen Ursprung zeigen. Dieser Ursprung ist das Rückgrat des Sitzenden. Er wird durch den Schnitt freigelegt. Wenn man den Stuhl wieder zusammenbaut, wird dieser Ursprung wieder unsichtbar und unkenntlich.

B.: Aber Ihr „Monument to Aviation“ ist nicht versöhnlich. Es nimmt beinah vorweg, was am 11. September 2001 in New York passiert ist.

A.: Ja, das wurde so interpretiert. Aber ich wollte eigentlich einen Flieger für einen Moment zeitlich zum Stillstand bringen. Aus der Zeit kann man ja nicht aussteigen. Was aber interessant ist, ist die Manipulierbarkeit der Zeit. Zum Beispiel gibt es im amerikanischen Football oder auch im Basketball time-outs. Das heißt, an sich wird die Zeit künstlich unterbrochen. Es wird zwei Minuten lang nicht gespielt, dann läuft die Zeit wieder weiter. In Wirklichkeit ist die Zeit aber weitergegangen. Das heißt, es werden innerhalb der Unendlichkeit der Zeit und innerhalb der absoluten Kontinuität der Existenz Momente geschaffen, die in ihrer Künstlichkeit eine Unterbrechung ermöglichen. Und ohne eine solche Künstlichkeit könnten wir nicht überleben. Wenn wir bewusst der Unendlichkeit und der unendlichen Kontinuität der Zeit ausgesetzt wären, könnten wir nicht existieren. – Das „Monument to Aviation“ hat eine gemeinsame Wurzel mit der Architektur: Bevor sich Architektur formal manifestiert, ist sie ein Ereignis. Das Graben, das Aufschütten ist ein Ereignis. Auch das Flugzeug zum Stillstand zu bringen ist ein Ereignis. Um das physisch möglich zu machen, baut man eine Wand, in der das Flugzeug dann sozusagen gefangen ist. Am Ende manifestiert sich die Architektur physisch, doch zuerst muss sie sich als Ereignis bestätigen.

B.: Sie denken Architektur also nicht statisch, obwohl sie doch etwas ist, was da steht.

A.: Sie steht aber erst später da. Bevor es einen Sessel gibt, gibt’s das Sitzen. Man muss sich mit dem Sitzen auseinandersetzen. Mit dem Sitzen als Notwendigkeit und Sehnsucht.

B.: Und was gibt es, bevor’s die Architektur gibt?

A.: Da gibt’s nichts.

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