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Geschmack von Kindheit

Nahezu alle Eisverkäufer zwischen Zürich, Hamburg und Wien kommen aus einem kleinen Dolomitental. Zu Besuch bei den Eismachern im Val di Zoldo. Von Susanne Schaber

„GEFRORENES!“ Sonne. Die Luft – ein Biskuit.
Beschlagen das Glas voll von eiskaltem Wasser.
Und hin zu den milchigen Alpenterrassen –
Ins Land der Schokolade: unser Traum,
wie er fliegt.“
(Ossip Mandelstam)


Koffer. Überall Koffer. Sie liegen unterm Bett, sie stehen im Flur, griffbereit. Wir sind wie die Schwalben, lacht Silvio Molin Pradel, wie die rondini: suchen im Frühling das Weite, kommen im Herbst zurück.

Silvio Molin Pradel ist Eismacher. Einer von vielen gelatieri aus dem Val di Zoldo, die dem Rhythmus der Vögel folgen: Ende Februar ziehen sie in ihre Eisdielen in Göteborg, Hamburg oder Wien, um im Oktober wieder heimzukehren und in ihrer Heimat zu überwintern, in Forno di Zoldo oder in einem der ungezählten Weiler von Zoldo Alto. Oder in Zoppè di Cadore, hoch über dem Tal. Von hier oben aus, so wird berichtet, habe sich vor gut hundertfünfzig Jahren das Handwerk des gelatiere im Val di Zoldo verbreitet und von dort aus in Europa, ja mehr noch: in der ganzen Welt. Ein Tal hängt am Eis, an cioccolato, vaniglia und limone, an fragole, fiocco und nocciolone.

Das Val di Zoldo ist ein Hochtal in den östlichen Dolomiten. Cortina d’Ampezzo liegt hinter der Bergkette, auch Belluno ist nicht weit. Bei Longarone der Wegweiser: Zoldo. Felswände auf beiden Seiten des Flusses Maè. Dichte Wälder ziehen die Abhänge hinauf, ein paar Gehöfte erzählen von Kälte und Einsamkeit, von langen Wintern ohne Sonne. Entlang der Straße, die sich in Kurven nach oben windet, sind Netze gespannt. Man hat Angst vor Steinschlag. Erst bei Forno di Zoldo wird es lichter. Das Tal öffnet sich, der Blick zieht hinauf zum Monte Pelmo, der wie ein Wachhund über den Dörfern thront, zu den Zacken und Zinnen von Sassolungo di Cibiana, Bosconero und Civetta. Auf den Dächern der Häuser türmt sich der Schnee.
Allein das helle Blau des Himmels lässt den Frühling erahnen. Unruhe liegt in der Luft, Ungeduld. Es ist wieder Zeit, sich auf den Weg zu machen, aufzubrechen in die großen Städte Italiens, nach Österreich, Deutschland und Frankreich. Auch bei den Molin Pradels steht das Gepäck bereit. Zusammen mit seiner Frau Deborah führt Silvio in Wien den „Eissalon am Schwedenplatz“, den vor ihm schon Vater, Großvater und Urgroßvater betrieben haben. Im Frühjahr 1992 hat er ihn übernommen, gerade einmal 30 Jahre alt. Kein leichter Job. Um sieben Uhr früh fährt der Milchwagen vor, kurz darauf laufen die Eismaschinen an. Milch, Sahne, Joghurt oder auch Topfen gehen mit Früchten und Gewürzen bekannte, aber auch neue Verbindungen ein. Wenn um zehn Uhr die ersten Gäste eintreffen, stehen 25 der insgesamt über 100 Sorten in ihren Boxen bereit. Bis elf Uhr abends läuft das Geschäft, sieben Tage in der Woche.
Ende September schließt der Salon. Kofferpacken, rein ins Auto und auf die Autobahn gen Süden. Bei Tolmezzo klopft das Herz schneller, hinter dem Mauria-Pass tauchen die Dolomiten auf. Calalzo, Pieve di Cadore, Longarone. Noch zwanzig Kilometer. Endlich zuhause. „Wir brauchen oft drei bis vier Wochen, um uns zu regenerieren“, erzählt Deborah Molin Pradel. Es dauert, bis der Kopf frei und der Körper wieder leichtfüßig wird. Endlich Zeit haben, Zeit für die Kinder, für die Eltern und Freunde, die man fast sieben Monate lang nicht gesehen hat.

Mit den Eismachern kehrt Leben in die Dörfer zurück. Viele der Häuser stehen den Frühling und Sommer über leer, etwa 40 Prozent der 4000 Zoldani pendeln. Daheim bleibt nur, wer Arbeit am Bau gefunden hat, im Forst oder in den nahe gelegenen Fabriken von Luxottica, dem weltweit größten Brillenhersteller. Im Herbst warten alle auf die Autos mit den ausländischen Kennzeichen, auf die Geschichten aus den fernen Sommern. Nun wird es gemütlich. Schon bald nach dem Frühstück treffen sich die ersten im „Tana de l’Ors“, der Bärenhöhle, wie die Osteria im Herzen von Forno di Zoldo heißt. Ein kleiner Prosecco am Vormittag, Valdobbiadene ist nicht weit. Es kann auch ein Merlot sein oder ein Pinot Grigio. Oder auch tschechisches Bier. Das kommt im „L’Insonnia“ auf den Tisch, dem Schlupfwinkel der Schlaflosen. Man muss ihn finden: Le Bocole ist ein Flecken jenseits der Maè, unweit eines Campingplatzes. Ein altes Steinhaus mit kleinen Fenstern und einer doppelten Holztür duckt sich an den Hang. Schon um zehn Uhr früh stehen die Autos auf dem Parkplatz. HA, DLG, RD. Hagen, Dillingen an der Donau, Rendsburg-Eckernförde. Am Nachmittag stoßen die Liftangestellten, Maurer und Forstarbeiter zu den Eismachern. Jeder kennt jeden. Männer allen Alters, keine einzige Frau. In einer Kammer neben der Schank der fogher, ein offener Herd. Auf den Bänken rund um das Feuer lagern die Raucher.
Ab und zu kreuzen ein paar Touristen auf, das „L’Insonnia“ gilt als Geheimtipp. Die Dolce & Gabbana-Jacken hängen auf den Ständern des kleinen Speisesaals, der erst vor ein paar Jahren dazugebaut wurde. Dort ist alles neu, poliert, proper. Auf jedem Tisch eine Flasche Hauswein und eine Karaffe mit Wasser. Speisekarte gibt es keine. Nicht nötig, das Menü ist bekannt: eine große Schüssel mit Krautsalat, eine zweite mit dicken Bohnen, in einem leichten Essigsud gegart. Dann rollt ein hölzerner Servierwagen aus der Küche, darauf ein riesiges Stück Polenta, gut fünf Zentimeter dick. Ein ordentlicher Batzen davon landet auf dem Teller. Der Auftakt für ein Menü, wie es Holzfällern und Bergleuten schmeckt. Es beginnt mit einem spezzatino, einer Art Kalbsgulasch, gefolgt von einer dicken Scheibe kross gebratener Wurst, dem musetto. Schließlich der pastin, eine Spezialität dieser Gegend: Wurstbrät von der Salami, über Holzkohlen gegrillt. Zum Abschluss noch ein ordentliches Stück in Mehl frittierter Käse, wieder mit Polenta, wie alle Gänge. Die cucina à la Val di Zoldo macht satt und glücklich. Ohne Grappa geht gar nichts. Die Abende werden lang.

Im Sommer sei hier weniger los als im Winter, erzählen die Zoldani. Ein paar Touristen suchen Ruhe, andere die Herausforderung des „Anello Zoldano“, einer sechs Tage dauernden Tour durch die Berge rund um das Tal. Und überhaupt: Das mondäne Leben wohnt anderswo, drüben im Cadore, in Cortina d’Ampezzo. In den Auslagen der Juweliere Uhren und Schmuck von Bulgari und Cartier, auf den Weinkarten die feinsten Gewächse aus dem Piemont und der Toskana. Pelzmäntel, Moonboots, Diskotheken. Das Val di Zoldo bietet das Kontrastprogramm. Der Tourismus ist jung, erst vor 40 Jahren wurde die Civetta-Bahn gebaut. In Pecol entstanden Hotels und Pensionen, Schischulen und Sportgeschäfte. Man ist Teil des „Dolomiti Superski“ (ein Zusammenschluss aller Wintersportgebiete) und steht doch im Schatten bekannterer Orte wie Corvara, Arabba oder Wolkenstein.
Wer nicht in Pecol lebt, dem fallen die Touristen nicht weiter auf. Die Kirche von Chiesa, ein Bau aus dem 15. Jahrhundert, ist verschlossen. Niemand zu sehen, kein Pfarrer, kein Mesner. Kein Widum, bei dem man anklopfen könnte. Auf dem kleinen Parkplatz steht ein mintgrüner Fiat 600, Baujahr 1957. Die Fenster sind heruntergekurbelt, im Inneren des Wagens steckt ein dicht bestückter Schlüsselbund. Hier wäre mehr zu holen als bloß das Auto, ein Liebhaberstück. Doch mit Dieben scheint niemand zu rechnen. Ein paar Kilometer weiter, auf der anderen Talseite, liegt Coi. Die Figuren der Fresken an der Kirchenmauer von San Pellegrino stecken bis über die Köpfe im Schnee. Niemand da, der mit ihnen redet.

Ein Kastenwagen fährt vor, die Heckklappe geht auf. Auf der Ladefläche stapeln sich Kisten und Regale. Zwiebeln, Salat, Karfiol und Orangen, auch Schokoriegel und Kekse. Eine erste Kundin biegt um die Ecke, dann eine zweite und dritte, ein Mann mit großem Rucksack. Ein Blick auf den Einkaufszettel, ein kurzer Schwatz. Die Klappe schlägt wieder zu. Die Verkaufstour dauert den ganzen Tag, in etlichen Dörfern und Weilern gibt es keinen Lebensmittelladen mehr. Heutzutage fände man im Val di Zoldo keine einzige Kuh, berichtet Ezio Cordella, früher Eismacher in Wuppertal. Zusammen mit Freunden hat er in der Schule von Goima ein Heimatmuseum eingerichtet und alles zusammengetragen, was im Tal dereinst gefertigt und produziert wurde: von Schlössern, Äxten und Körben bis hin zu Schiern, Dreschflegeln und Glocken für die Rinder. Dreihundert Kühe hat es nach dem Krieg noch gegeben, erzählt Ezio. Und jetzt sind alle Ställe leer, ebenso die tabiai, wie die hölzernen Scheunen heißen, Meisterwerke alpiner Handwerkskunst. Nicht einmal Schafe hält man heute, keine Ziegen, keine Hühner. Keine Almen mehr, keine Äcker, keine Felder. Ein paar Kartoffeln, etwas Kohl und Karotten in den Vorgärten. Aber sonst? „Man lebt allein von der Luft“, sagt Ezio und lacht.
Von der Luft und mit Gottvertrauen. Jeder Weiler hat seine eigene Kirche. Überschwemmungen, Felsstürze und Lawinen haben den Zoldani seit Menschengedenken zugesetzt. Der Tod lauerte hinter den Bäumen, unter Felswänden und Abhängen, neben den Bächen, die über die Ufer traten. Der „Altar der Seelen“ des Andrea Brustolon – ein barockes Kunstwerk in der Kirche San Floriano in Pieve di Zoldo – setzt die Vanitas in Szene. Großes Theater: Zwei hölzerne Gerippe links und rechts des Altars, ein Skelett auf einem Bild unter dem Altartisch. Über allem eine Pietà und die rettende Engelsschar. Gott, der Hirte, ist überall, er breitet seine Arme aus und treibt seine Schäfchen unters Dach.

Das Val di Zoldo stand viele Jahrhunderte lang unter der Herrschaft Venedigs, das die Schätze der Bergregionen zu nutzen wusste. Aus den Wäldern des Cadore bezog man Holz und verschiffte es über die Piave bis in die Serenissima, Material für die Pfähle und den Schiffsbau. Die dafür nötigen Nägel kamen aus dem Val di Zoldo. Dort schürfte man Eisenerz, das man vor Ort verhüttete und weiterverarbeitete. An jene Zeiten erinnern die Namen etlicher Dörfer, Forno di Zoldo oder Fusine, und eine Handvoll herrschaftlicher Häuser, die im 17. und 18. Jahrhundert entstanden sind. Die Arbeiten der Kunsttischler und Tischler aus den Dolomitentälern waren in ganz Venetien geschätzt, die Masken aus den Werkstätten der Schnitzer aus Fornesighe berühmt.
Mit dem Niedergang Venedigs und der steigenden Konkurrenz auf dem Weltmarkt verlieren die Minen an Bedeutung. Nägel werden industriell gefertigt, die Preise fallen. Muren und Hochwasser zerstören die Handwerksbetriebe entlang der Maè und damit auch die Existenz ungezählter Familien. Immer mehr Zoldani suchen ihr Glück in der Emigration, wandern nach Wien und Budapest, auch nach Frankreich und Spanien aus. Manche reisen bis nach Südamerika. Viele Männer halten sich als Holz- und Bauarbeiter über Wasser, andere als Bäcker und Konditoren.
Arcangelo Molin Pradel zieht bis in die Wälder Transsilvaniens, um sich dort als Holzfäller zu verdingen. Als sein Arbeitgeber in den Konkurs schlittert, muss er die Heimreise antreten. In Wien geht ihm das Geld aus. Und so heuert er dort als Salamiverkäufer und Marmorschleifer an. Er kehrt zwar heim, macht sich aber bald wieder auf den Weg. Diesmal mit dem festen Entschluss, in der Hauptstadt des k. u. k.-Reiches sein Glück zu finden.
Marco Polo soll es gewesen sein, der das Eis aus China nach Italien mitgebracht hat. Im Oktober 1533 jedenfalls, anlässlich der Hochzeit von Katharina von Medici mit Heinrich von Orléans, wird Eis zum ersten Mal offiziell in die Speisefolge einer Festlichkeit aufgenommen. Es dauert noch etliche Jahrhunderte, ehe es auch im Val di Zoldo auftaucht. Und da die Armut in jenen Tagen groß ist, fällt die Idee, sich als gelatiere zu versuchen, auf fruchtbaren Boden. Unter den jungen Unternehmern ist auch Arcangelo Molin Pradel. Im Frühling 1886 beginnt er, seinen Eiswagen durch Wien zu schieben. Die Geschäfte laufen gut. So gut, dass die Cafetiers und Konditoren auf die Barrikaden steigen und bei Kaiser Franz Joseph intervenieren: Die Italiener, so fordert man, sollen fortan ein Lokal mieten und ihr Eis dort verkaufen. Gleiche Bedingungen für alle. Und so passiert es. Die Eiswagen verschwinden langsam aus dem Stadtleben.
Arcangelo Molin Pradel, der einen Gutteil seiner großen Familie nach Wien geholt hat, eröffnet 1906 seinen ersten Salon. Sein Sohn Silvio kauft 1932 das Lokal am Schwedenplatz. Es bleibt in Familienbesitz: Sohn Remo übernimmt es von seinem Vater und führt es mit seiner Frau Dina weiter, der Tochter eines Eismachers. Und auch deren Sohn Silvio hat in Deborah eine Frau gefunden, deren Eltern und Großeltern aus einer Dynastie von gelatieri stammen. Für ihn sei es nicht wirklich klar gewesen, ob er den elterlichen Betrieb übernehmen würde, erinnert er sich. Deborah wollte eigentlich Dolmetscherin werden und hat sich zur diplomierten Heilmasseuse ausbilden lassen. Doch als sie ihren späteren Mann kennenlernt, fällt die Entscheidung. Die beiden steigen ins Eisgeschäft ein.

Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg pendelten gut zwei Drittel der Zoldani nach Deutschland, Österreich und in den Norden, Westen und Südwesten Europas. Immer neue Eisdielen wuchsen aus dem Boden. Sie hießen „Au Pol Nord“, „Fiocco di Neve“, „Dolomiti“ oder „Pelmo“, sie vermittelten Lebensfreude und Italianità in Zeiten des Wirtschaftswunders. Jahre, denen auch Nello De Fanti und Demetrio Mosena nachhängen. Nello hat in Gelsenkirchen gearbeitet, dann in Valencia, wo er seine Frau kennengelernt hat. Später haben die beiden eine Gelateria in Tortona nördlich von Genua eröffnet. Sie wird heute von ihren Kindern betrieben.
Demetrios Salon lag im Zentrum von Brake an der Unterweser. Es seien schöne Zeiten gewesen, sagt er. Zusammen mit seinem Freund Nello steht er in Dont im „Museo del Gelato“, zwei etwas in die Jahre gekommene Eisprinzen mit roten Backen und lachenden Augen. Stolzen Blickes präsentieren sie ihre Schätze: prächtige Eiswagen aus der Jahrhundertwende, Waffeleisen und hölzerne Kegel, mit denen früher die cornetti hergestellt wurden, Eismaschinen in allen Farben und technischen Ausführungen. Ein gutes Schokolade- oder auch Vanilleeis herzustellen, sei ja nicht weiter schwer gewesen, meint Demetrio. Allein das Fruchteis habe ihm oft genug Kopfzerbrechen bereitet, da sei viel Geld die Unterweser hinuntergeflossen. Die Zitronen etwa, natürlich nur erster Qualität, ließ er aus Italien liefern. Doch als sie nach langer Reise in Brake eintrafen, waren viele schon verschimmelt. Acht Eissorten hat er damals in seinem Salon angeboten: Vanille, Erdbeer, Zitrone und Schokolade, dazu Haselnuss und Pistazien, manchmal auch Ananas und Aprikosen. Basta così. Mehr braucht’s nicht.
Das Angebot von heute? Demetrio schüttelt den Kopf. Abenteuerlich. Eis-Pizza, Coup Lambada, Coup Spiegelei, Coup Strudel. Das habe mit wirklich gutem Eis nichts mehr zu tun, all diese Saucen, Liköre und absonderlich schmeckenden Garnierungen. Nein, das sei nicht mehr das, was er sich unter gutem Eis vorstelle, sagt der Signore. Und er kenne übrigens genug Leute, die es satt hätten, sich durch absurd klingende Kreationen graben zu müssen, ehe sie den Geschmack fänden, den sie suchten: den Geschmack der Kindheit. Denn was ist es anderes? Die Erinnerung an das erste Eis im Frühling, an den gelatiere mit seinem Wagen am Strand von Bibione, an frische Erdbeeren mit einer Kugel Vanilleeis, vielleicht noch etwas Schlagobers. Ein paar Waffeln dazu, mehr braucht es nicht. Oder überhaupt nur drei Kugeln pur, das könne der Himmel sein, sagt Demetrio.

Generationenkonflikte auch unter den Eismachern. Sein Salon müsse mit der Zeit gehen, davon ist Silvio Molin Pradel überzeugt. Wo immer er ist, schlendert er über die Märkte, probiert ihm unbekannte Früchte, durchforstet die Gewürzläden und kostet sich durch die Dessertkarten der Restaurants. Nur so komme man weiter, meint er. Neue Sorten entstehen im Kopf, die Wintermonate mit den Eismessen und Kursen eröffnen der Fantasie neue Wege. Natürlich haben die Molin Pradels auch im Zoldotal eine Eismaschine. Doch für den wirklich großen Wurf braucht es die Küche des Wiener Salons. Dort wird experimentiert, von dort aus wandern die neuen Sorten in die Tüten und Coups. Der Geschmack Indiens und Arabiens ist besonders en vogue: Sesam-Honig, Schokolade-India Masala, Sahara Creme.

Nichts bleibt, wie es ist. Und eigentlich ist auch Demetrio Mosena froh, dass sich manches verändert hat. Die bitteren Szenen von früher hat er nicht vergessen: weinende Mütter, die ihre Kinder bei den Großeltern zurücklassen mussten und sie monatelang nicht sahen. Babys, die ihre Eltern nach der Trennung nicht wiedererkannten, Kinder, die sich in den Internaten in den Schlaf weinten. Drei solcher Institute gab es im Val di Zoldo. Von März bis Juni und September bis Ende Oktober waren sie gut besucht.
Das sei hart gewesen, weiß auch Deborah Molin Pradel. Ihre Eltern betrieben einen Eissalon im saarländischen Homburg. In den Ferien war sie bei ihnen, aber den Herbst und Frühling hat sie im Internat in Pieve verbracht. Und gewartet. Bei ihren beiden Söhnen hält sie es anders. Das Leben ist leichter geworden: Früher hat die Reise nach Wien zwei Tage gedauert, heute ist man in sieben Stunden da. Von Treviso und Venedig aus gibt es Flugverbindungen nach Wien. In manchen Wochen und Monaten pendelt Deborah zwischen Österreich und Italien, im Sommer sind beide Kinder in Wien. Sie lieben den Prater, das Kino, die Strandbäder an der alten Donau. Längere Trennungen wollen die Molin Pradels sich und den Buben nicht zumuten. Sie sehen die Vorteile dieses Hin und Her: zwei Sprachen, zwei Kulturen, viele Erfahrungen.
Von hier nach dort. Natürlich gibt es auch Zoldani, die in der Fremde sesshaft geworden sind. Wer nach Granada oder Rio de Janeiro ausgewandert oder in Buenos Aires heimisch geworden ist, der hat wohl weiterhin die Bilder der Dolomiten im Kopf. Der fährt anfangs noch für ein paar Ferienwochen ins Zoldotal und bleibt eines Tages ganz aus. Das seien dann richtige Spanier geworden, hört man, oder Argentinier. Ihre Kinder sprechen kein Italienisch mehr, vom zoldano gar nicht zu reden, dieser Mischung aus venetischen Dialekten und dem Ladinischen: die Sprache des Alltags. Viele der Emigranten haben ihren Besitz an bergbegeisterte Venezianer oder Padovaner verkauft, die hier ihre Ferien verbringen. Die Bevölkerung nimmt ab, es gibt Dörfer, die verwaisen. Schmale, mehrstöckige Häuser ragen in den Himmel, eines dicht neben dem anderen. Früher haben mehrere Familien unter einem Dach gewohnt, zehn, zwanzig Leute. Viele von diesen Häusern stehen leer. Feuchtigkeit kriecht die Mauern hinauf und hinterlässt seltsame Zeichen, der Wind pfeift durch die Dachstühle, etliche Fenster sind eingeschlagen. Niemand da, der sie reparieren ließe. Die früheren Scheunen stürzen langsam in sich zusammen, ein Paradies für Mäuse. Die Katzen sind längst tot. In Cercenà lebt nur mehr ein einziger Mann, der 75-jährige Giovanni Cercenà. Seinen Vater hat er vor fünf Jahren begraben. Und wenn nun der Sohn auch stirbt? Dann wird es ruhig hier oben. Ein Stück Zoldo, das verschwindet.

Traditionen sind wichtig, die Wurzeln, das Wissen darum, wo man herkommt, gerade wenn man so viel weg ist. Ein Frühling ohne Wien? Unvorstellbar, sagt Silvio Molin Pradel. Die Lichter der Großstadt, das Treiben in den Straßen, der Kontakt mit den Kunden, das möchte er nicht missen: Wenn die Menschen ein Eis schlecken, werden alle zu Kindern. Doch ganz ohne das Zoldotal zu leben, ohne die klare Luft, die Sterne, die hier näher rücken als anderswo, die Stille der Winternächte, wenn es schneit? Geht auch nicht. „Wir haben das in den Genen, dieses doppelte Leben“, meint Silvio Molin Pradel.
Es macht glücklich.

 

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