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„Die Unkenntlichkeit des Geschehens“

Von Kollegen hymnisch verehrt und fast vollständig vom Buchmarkt verschwunden: Franz Tumler (1912–1998) sympathisierte in jungen Jahren mit der NS-Propaganda und betrachtete es später als Hauptaufgabe der Literatur, Ideologien zu misstrauen; er lässt Erzähler zu Wort kommen, die sich damit abgefunden haben, die Welt kaum mehr zu verstehen. – Johann Holzner über Franz Tumlers Unvermögen, Geschehen festzuhalten in Geschichten.

Er war sich seiner Sache selten sicher: Tumler war nicht nur ein unsicherer Autofahrer. Er war sich auch nie ganz sicher (sehr lange jedenfalls), wenn es darum ging, Distanz zu halten zu mehr oder weniger attraktiven politischen oder ästhetischen Positionen. Er war schließlich ständig in Sorge, dass das wahrnehmbare Unübersichtliche, was die Wirklichkeit ihm bot, ihm unter der Hand verrinnen würde, wenn er schrieb.
Diese Unsicherheit ist in seinen Texten aufgehoben. Aber gerade das macht, dass sie nach wie vor noch spannend zu lesen sind, auch eine Relektüre in jedem Fall verdienen.
Das Gedicht „Jahre“ beginnt mit den Versen: „meine Jahre / was habe ich angefangen / mit ihnen“. Ein Dokument der Selbstkritik, die sich vor allem in der doppelten Bedeutung des Wortes „angefangen“ äußert. Es schließt dennoch (auch) durchaus selbstbewusst: „aber / diese Schrift / ist meine Schrift“. Tumlers Schrift ist tatsächlich immer unverwechselbar gewesen.

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Zunächst aber ein paar Stichworte zu seiner Biographie: Franz Tumler, Jahrgang 1912, geboren in Gries bei Bozen, hat in Südtirol nur sein erstes Lebensjahr verbracht. Seine Mutter übersiedelt nämlich nach dem frühen Tod des Vaters von Bozen nach Linz, wo Tumler die Schule besucht. Neben Alois Th. Sonnleitners „Höhlenkindern“ und Karl May liest er in frühen Jahren vor allem schon Adalbert Stifter. Mit 14 Jahren besucht er das erste Mal die Verwandten in Laas, Schlanders und Bozen. Südtirol beeindruckt ihn allerdings nachhaltig, was sich schon in seiner ersten Erzählung „Das Tal von Lausa und Duron“ (1935) und viel später noch in dem Roman „Aufschreibung aus Trient“ (1965) sowie in dem Sachbuch „Das Land Südtirol“ (1971) niederschlägt. – Die Erzählung „Das Tal von Lausa und Duron“ beschert Tumler einen überraschenden Erfolg; mit Büchern wie „Der Soldateneid“ und „Österreich ist ein Land des Deutschen Reiches“ verneigt sich Tumler vor der NS-Propaganda, um die Erfolgslaufbahn zu prolongieren. Er schrickt auch nicht davor zurück, Auftragsarbeiten zu übernehmen, in denen er sich offen zum Nationalsozialismus bekennt.

1941 meldet sich Tumler freiwillig zum Kriegsdienst. Nach der Rückkehr aus Krieg und Gefangenschaft, die er in seinem Roman „Heimfahrt“ aufarbeitet, lebt er, ein „belasteter“ NS-Autor auf der Suche nach Auswegen, zunächst in Hagenberg (Oberösterreich). Erst mit dem Roman „Der alte Herr Lorenz“ (1949) kann er langsam literarisch wieder Fuß fassen. Wichtig für seine weitere Karriere werden die Bücher „Ein Schloß in Österreich“ (1953) und „Der Schritt hinüber“ (1956) sowie insbesondere „Der Mantel“ (1959).

Schon in den fünfziger Jahren übersiedelt Tumler nach Berlin. Dort schließt er Freundschaft mit Gottfried Benn, er wird auch zu Treffen der Gruppe 47 eingeladen und endlich Mitglied und in den sechziger Jahren sogar zeitweise Leiter der Abteilung Literatur der Berliner Akademie der Künste. Immer wieder besucht er nach wie vor Südtirol und Oberösterreich. In Südtirol sorgt Norbert C. Kaser (der offensichtlich über Tumlers Biographie nichts und über dessen Werk nicht allzu viel weiß) für Tumlers Nobilitierung im Himmel der Literatur, in seiner später viel zitierten Brixner Rede von 1969 heißt es: „Ich habe zwar etwas gegen Betitelungen, aber er ist der Vater unserer Literatur und der Vater unseres Erkennens.“
Aber Kaser bleibt nicht allein, zahlreiche Autorinnen und Autoren aus Südtirol, von Joseph Zoderer bis Sabine Gruber, haben sich zeitweise sehr intensiv, gelegentlich allerdings wesentlich kritischer als Kaser mit Tumlers Werk beschäftigt, namentlich auch mit „Volterra. Wie entsteht Prosa“ (1962) und selbstverständlich mit der „Aufschreibung aus Trient“.
Nach einem Schlaganfall (1973) kann Tumler nur mehr kleine Texte, Gedichte schreiben; 1989 erscheint noch „Das Zerteilen der Zeit“ (bei Haymon); ein schmales Buch mit Gedichten, in denen gelegentlich Selbstzweifel und Selbstgewissheit sich dermaßen überschneiden, dass kaum mehr auszumachen ist, was das (verlorene) Ich bewegt:

WELCHE STIMME

die Zeit gezählt
aber der Ewigkeit Schauder
mischt sich ein

wechselnden Gesichtern zugesprochen
aber die Stimme unüberhörbar

kenntlich die Stimme
gezählt die Zeit

Tumler stirbt schließlich 1998 in Berlin. – Die Liste
der Auszeichnungen und Preise, die er erhalten hat, zeigt ziemlich unmissverständlich, in welchen historischen Phasen er im deutschsprachigen Literaturbetrieb mitgemischt hat (vor allem in den frühen vierziger Jahren sowie von der Mitte der fünfziger bis hin zum Beginn der siebziger Jahre); in den letzten Jahren seines Lebens, zwischen 1982 und 1992 erhält er hingegen Würdigungspreise, die bereits dem „Gesamtwerk“ verliehen werden.
1940    Dichterpreis der Reichshauptstadt (Berlin)
1941    Kulturpreis Oberdonau
1942    Sudetendeutscher Schrifttumspreis (Karlsbad)
1956    Charles-Veillon-Preis (Lausanne)
1961    Ehrenpreis des Bundesverbandes der
            deutschen Industrie (Köln)
1967    Literaturpreis der Bayrischen Akademie
            der Künste (München)
1971    Adalbert-Stifter-Preis (Linz)
1982    Andreas-Gryphius-Preis (Düsseldorf)
1982    Würdigungspreis für Literatur
            des Landes Tirol (Innsbruck)
1985    Walther von der Vogelweide-Preis (Bozen)
1985    Verdienstkreuz des Landes Tirol (Bozen)
1992    Kunstwürdigungspreis der Stadt Linz 1

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Gertrud Fussenegger, die eine Zeitlang Tumler sehr nahe stand, ihn später aber ganz aus den Augen verlor, hat mich kurz vor ihrem Tod einmal gefragt, ob er sich je unmissverständlich und kritisch zu seiner NS-Vergangenheit bekannt habe. – Direkt darauf angesprochen, hat sich Tumler bekanntlich ähnlich bedeckt gehalten wie die Autorin der „Mohrenlegende“ auch. Aber anders als sie ist er in seiner Schreibweise schon in den fünfziger Jahren radikal abgerückt von jenen Positionen, die in den dreißiger und vierziger Jahren das Feld der Literatur beherrscht haben. Der Blut- und Boden-Dichtung setzte er den „modernen Roman“ entgegen, namentlich den „Nouveau Roman“: 1958 rezensierte er Alain Robbe-Grillets Roman „Le voyeur“, er verglich ihn mit Samuel Becketts „Molloy“ und kam zum Schluss, dass der „Roman althergebrachter Art“, der Lebenszusammenhänge noch psychologisieren und interpretieren wollte, mit diesen neuen Werken wohl endgültig als überholt betrachtet werden müsste: „Die Unkenntlichkeit des Geschehens, die Unmöglichkeit, es in einer Geschichte festzuhalten, ist das Thema Robbe-Grillets. Es gibt bei ihm keine eindeutigen Auskünfte.“ (In: Der Monat 10, 1958, Heft 115). Die undurchschaubare Wirklichkeit trotzdem wenigstens annähernd zu erfassen, durch ein sorgfältiges Registrieren, Aufzählen, Aufschreiben, nicht zuletzt durch permanente Andeutungen, wie viel es noch zu erzählen gäbe, das ist von da an Tumlers Hauptanliegen.

In der Zeit von 1930 bis 1938 hatte er, mit einigen Unterbrechungen, noch als Volksschullehrer gearbeitet. Am 20. März 1938 schrieb er, zum so genannten „Anschluss“, in sein Tagebuch: „Es war der schönste Abend meines Lebens.“ Von da an lebte er als freier Schriftsteller. – 30 Jahre später, 1968, kehrte er, auf einer Reise nach Rom, zu der ihn das dortige österreichische Kulturinstitut eingeladen hatte, auf halbem Weg, in Mirandola wieder um; nichts hielt ihn mehr in Italien, obwohl er das Land und vor allem auch die italienische Sprache mochte, er wollte nach Berlin zurück; das hieß (wie er in einem Brief festhielt): an den „gewohnten Schreibtisch“. Der Rückzug aus der Öffentlichkeit in das Privatleben war indessen alles andere als eine Abkehr vom Kurs der engagierten Literatur, wie ihn Jean-Paul Sartre oder Jean Améry (der Tumler sehr verbunden war) vorgezeichnet hatten.
Im Gegenteil, Tumlers poetologisches Programm ist ein eminent politisches geblieben. Vordergründig, indem er beispielsweise über ethnische und kulturelle Grenzen zwischen der deutschsprachigen, der ladinischen und der italienischen Welt in Südtirol nachdenkt, ohne sich um den dominanten politischen Diskurs und dessen Vorgaben zu kümmern („Aufschreibung aus Trient“, „Das Land Südtirol“). Tiefgreifend, indem er Erzählstrategien entwickelt, die alle Schwarz-Weiß-Malereien verwerfen und auch die gewohnten Trennlinien zwischen Wirklichkeit und Fiktion ohne weiteres verschieben. Tumler lässt Erzähler zu Wort kommen, die sich damit abgefunden haben, die Welt kaum mehr zu verstehen, die einsehen, auch … ja gerade den eigenen Geschichten misstrauen zu müssen.
Es sind übrigens, das sei denn doch auch hier erwähnt, fast immer männliche Erzähler. Was Bruno Brehm, über viele Jahre für Tumler „ein väterlicher Freund“ (ehe Gottfried Benn diese Rolle übernahm), ihm schon 1937 vorgeworfen hat, nämlich: dass seine Frauenfiguren farblos wirken, gilt nahezu für Tumlers Gesamtwerk, auch noch für seine letzten Bücher. – Tumlers Erzähler aber arbeiten, obgleich sie nur über ein bescheidenes Basisvokabular verfügen (wie Barbara Hoiß gezeigt hat), mit vielen Farben, sie setzen auf die Macht der Phantasie; „eines Tages wachen wir auf und wollen die Welt in einer bestimmten Weise sehen, und dann sieht sie auch so aus. Schon ist jemand da, der sie so malt, und nun auch jemand, der etwas in ihr so baut“ (heißt es in Tumlers Notizen aus Italien, die unter dem Titel „Figur und Erscheinung“ 1957 erschienen sind; in: Merkur 11, Heft 107).
Seine Erzähler setzen auf die Macht der Phantasie, sie sind jedoch gleichzeitig (das beginnt schon in dem Roman „Der Schritt hinüber“, 1956) äußerst skeptisch, was die Möglichkeiten der Erzählung, des Romans insgesamt betrifft. „Gang, Haltung, Gebärden, die eigene Stimme – dieses Unvermögen, sich selbst wahrzunehmen, hat im Geistigen ein Gegenstück: wir halten in uns Dinge für wichtig, die es nicht sind; und halten das Wichtige, das die andern sofort sehen und als unsere eigentlich Kraft oder Schwäche erkennen, oft nicht für der Rede wert.“ Die Erfahrungen, die Tumler in seinem Essay „Wie entsteht Prosa“ reflektiert, führen ihn konsequent zu einem Erzählen, das allen ideologischen Konstruktionen wie allen in Stein gemeißelten Geschichten den Boden wegnimmt.

Darüber, dass dies eine der Hauptaufgaben der Literatur werden und bleiben sollte, über diesen Punkt ließ Tumler seit den späten fünfziger Jahren keinen Zweifel mehr aufkommen, in dieser Frage wenigstens war er sich seiner Sache sicher. – Dass er das wirkliche Leben gelegentlich verfehlte, weil ihn schon im Akt des Erlebens die Umsetzung in das dargestellte Leben mehr als alles andere beschäftigte (wie Gertrud Fussenegger anschaulich zu erzählen wusste und nie müde wurde zu erzählen), das ist eine andere Geschichte.

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Der weitaus größte Teil des Nachlasses Tumlers liegt im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar.
Dorthin gab der Autor die meisten seiner Schriften schon zu Lebzeiten. Daneben befinden sich noch kleinere Teile in der Dokumentationsstelle für neuere Südtiroler Literatur (Bozen), bei verschiedenen Privatpersonen und im Brenner-Archiv in Innsbruck.

Das Brenner-Archiv verfügt über Briefe und über Manuskripte. Am umfangreichsten ist das Konvolut Franz Tumler – Hermann Stuppäck, das von dem ersten erhaltenen Brief vom 8. September 1948 bis zum letzten vom 2. März 1983 reicht. Neben Briefen und Postkarten Tumlers an Stuppäck liegen Durchschläge von Briefen Stuppäcks an Tumler vor. Interessant ist der Briefwechsel vor allem, weil Stuppäck lange Zeit Tumler als Lektor betreut hat – dementsprechend aufschlussreich sind die Vorschläge, aufschlussreich ist es auch zu beobachten, ob und wie sie Berücksichtigung gefunden haben. Davon betroffen sind u. a.:
„Landschaften eines Heimgekehrten“, „Der alte Herr
Lorenz“, „Die Heimfahrt“, „Ein Schloß in Österreich“. Dazu kommen noch zwei Typoskripte mit zahlreichen handschriftlichen Verbesserungen – nämlich „Der Schritt hinüber“ und „Erinnerungen an Aichet“.

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Derzeit ist ein einziges Werk Tumlers noch auf dem Markt erhältlich: die Erzählung „Der Mantel“ (Bibliothek Suhrkamp). Es gab und gibt allerdings diverse Anstrengungen, dem Autor mehr Präsenz zu verschaffen; zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang vor allem die Bemühungen von Norbert Florineth und Jörg Hofer, Joseph Zoderer, Sigurd P. Scheichl, Ferruccio Delle Cave und Alessandro Costazza sowie die jüngste einschlägige Dissertation: Barbara Hoiß, Ich erfinde mir noch einmal die Welt. Versuch über Moderne, Heimat und Sprache bei Franz Tumler. Innsbruck 2006.2

Die Gemeinde Laas hat einen Franz-Tumler-Literaturpreis ausgeschrieben; mit diesem Preis können Debütromane aus dem gesamten deutschen Sprachraum ausgezeichnet werden. – Ein im Forschungsinstitut Brenner-Archiv lange erwogenes Vorhaben, die wichtigsten Arbeiten Tumlers in einer Studienausgabe (im Folio-Verlag) neu herauszubringen, ist indessen inzwischen zu den Akten gelegt worden, weil ein Einvernehmen mit der Witwe des Autors, Sigrid John Tumler, auch nach zahlreichen vielversprechenden Kontakten am Ende doch nicht zu erzielen war.

1   Quelle: Datenbank Literatur in Tirol und Südtirol des Brenner-Archivs: http: //www.uibk.ac.at/brenner-archiv/literatur/
2   Ein vom Brenner-Archiv in Verbindung mit dem Kreis Südtiroler Autorinnen & Autoren vorbereitetes Tumler-Symposion, das im Oktober 2008 in Bozen und Laas durchgeführt worden ist, hat „zu einer kritischen Relektüre“ seiner Arbeiten, „zu einem Rückblick auf die wichtigsten Stationen seiner Laufbahn und zu einer neuen Darstellung der (Erzähl-)Strategien in seinen Werken“ eingeladen. Die Erträge dieser Tagung, darunter Arbeiten von Sieglinde Klettenhammer, Alessandro Costazza, Christine Riccabona, Wilhelm Burger, Toni Bernhart, Hans Dieter Zimmermann und Norbert Florineth, sowie etliche weitere Beiträge, u.a. von Barbara Hoiß, Harald Stockhammer, Gertrud Fussenegger und Joseph Zoderer, sollen demnächst (herausgegeben von Barbara Hoiß und Johann Holzner) in einem neuen Band der Edition Brenner-Forum präsentiert werden.

 

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