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Kein Oben und kein Unten

Der Kulturwissenschaftler und Musikethnologe Gerhard Kubik hat als einer der ersten jene Musik erforscht – und zwar vor Ort –, die der Ursprung von Jazz und Pop ist: die afrikanische Musik. Seine Befunde haben auch Komponisten wie György Ligeti entscheidend beeinflusst. Von August Schmidhofer

7. Oktober 1959 an einer Ausfallstraße Richtung Süden im 10. Wiener Gemeindebezirk: ein junger Mann, 24 Jahre, mit Rucksack und Handtasche, autostoppend. Das war damals nichts Außergewöhnliches; viele Menschen reisten per Anhalter. Das Besondere war die Destination: Ostafrika! Im Gepäck befanden sich neben Zelt und Schlafsack auch ein batteriebetriebenes Tonbandgerät und ein Fotoapparat, in der Geldtasche ganze 80 Pfund. Sieben Wochen sollte die Reise bis Ostafrika dauern, bis zur Rückkehr nach Wien sollte ein Jahr vergehen.

Der junge Mann war Gerhard Kubik: Musiker, Literat, Student. Er hatte bis kurz vor Antritt seiner Reise in einer Jazzband gespielt, einer damals bekannten Formation, die den 1. Preis beim Wiener Jazzfestival gewonnen hatte, nun aber in Auflösung begriffen war. An der Universität war er in Afrikanistik inskribiert, hatte ein wenig Suaheli gelernt. Er hatte sich auch als Schriftsteller versucht, hatte Gedichte und Erzählungen geschrieben – einiges davon war veröffentlicht worden. In diversen Zeitschriften hatte er über Jazz publiziert und an der Volkshochschule Vorträge gehalten. Er war also trotz seines jungen Alters kein Unbekannter und so schrieben auch einige Zeitungen darüber, als er nach Afrika aufbrach.

Seinen Bekannten hatte Gerhard gesagt, er wolle in Afrika die Wurzeln des Jazz studieren. Das eigentliche Ziel war Westafrika. Dort sollte, nach damaliger Lehrmeinung, der Jazz seinen Ursprung haben. Aber in Algerien war Krieg, somit war es unmöglich, auf dem direkten Landweg nach Westafrika zu gelangen, und Kubik musste die ostafrikanische Route nehmen. Er hatte über die amerikanischen Besatzungssoldaten Jazz kennengelernt, hatte sich für Swing, Bebop und Cool Jazz begeistert und Klarinette gelernt, um selbst Jazz spielen zu können. In Afrika hoffte er einen Musiker zu finden, der ihn unterrichten würde. Er wollte sich afrikanischer Musik praktizierend nähern, vielleicht auch in einer Gruppe spielen, um so das Wesen der Musik von innen her erfassen zu können.

Die erste Anlaufstelle in Ostafrika war die katholische Mission von Namagunga in Uganda, wo der St. Josefs-Missionar Michael Ortner aus Osttirol, vielen in Tirol durch seine legendären Rundbriefe als „Uganda-Michl“ bekannt, wirkte. Kubik hatte mit der Mission schon von Wien aus Kontakt aufgenommen und sollte hier eine Bleibe für die erste Zeit seines Afrika-Aufenthaltes finden. Der Tag, an dem ihn Pater Michael mit seinem Motorrad mit nach Kampala ins Uganda Museum nahm und dort vorstellte, war gewiss einer der Schicksalstage im Leben des Gerhard Kubik. Denn hier lernte er Evaristo Muyinda kennen, Musiker des Königshofs von Buganda, der sich bereit erklärte, ihn zu unterrichten.

Muyinda gab Unterricht auf dem 12-stäbigen Xylophon namens Amadinda, das von drei Personen gespielt wird. Kubik war zunächst über die Einfachheit des Parts, den er zu spielen hatte, irritiert. Das sollte afrikanische Musik sein? Ein aus wenigen Tönen bestehendes Motiv, das unablässig zu wiederholen war! Er begann schon zu zweifeln, ob Muyinda ihn wohl the real thing unterrichtete. Er hatte sich vorgestellt, dass er drauflos improvisieren würde, wie er es von seiner Jazzband kannte und wie er glaubte, dass es für afrikanische Musik typisch sei.

Erst als dieser vermeintlich simple Part in den Kontext der anderen Parts gestellt wurde, also alle zusammenspielten, eröffnete sich die Komplexität des Gefüges dieser Musik. Muyinda begann und Kubik setzte danach ein, flog aber immer raus, konnte nicht Takt halten. Die Schwierigkeit lag darin, dass er mit seinen Schlägen exakt zwischen die Schläge seines Lehrers fallen sollte: den ersten, dritten, fünften usw. Ton spielte der Lehrer, er selbst sollte den zweiten, vierten, sechsten usw. Ton spielen. Wie sollte er in dem hohen Tempo, in dem diese Musik auszuführen war (an die acht Schläge pro Sekunde), Synkopen spielen können? Unwillkürlich hatte er nämlich den Part seines Lehrers auf der betonten Zählzeit stehend betrachtet und seinen eigenen auf der unbetonten. Erst als Muyinda die Reihenfolge des Einsatzes umdrehte und Kubik beginnen ließ, funktionierte das Zusammenspiel.

Hier nun dämmerte es Kubik: Beide Spieler hatten ihren eigenen Part als den primären, den betonten zu betrachten, ohne ein Gefühl von Synkopation. Man musizierte also zusammen, ohne sich auf einen gemeinsamen Takt zu beziehen. Würde man diese Musik in der europäischen Notenschrift aufschreiben, müsste der Taktstrich bei beiden Parts an unterschiedlichen Stellen gesetzt werden. Das höchst Paradoxe an der Sache hier war, dass zwei Parts in größter Präzision zu koordinieren waren, gleichzeitig aber beide Parts gleichberechtigt nebeneinander standen, so gleichberechtigt, dass jeder seinem eigenen Beat folgte. „Auf einmal gab es kein Oben und kein Unten mehr, sondern wir blickten einander an in absolut schwebender Relativität“, erzählt Kubik.

Diesem ersten musik-kulturellen „Schockerlebnis“ folgte sofort ein zweites. Es betraf den dritten Part beim Amadinda-Spiel. Für dieses Motiv mussten lediglich die zwei höchsten Tasten des Xylophons angespielt werden. Aber die rhythmische Abfolge der Töne erschien Kubik so komplex, dass er sie sich nicht merken konnte. Erst als sein Lehrer ihn aufmerksam machte, dass das Motiv bereits im Stück „versteckt“ sei, man müsse bloß genau darauf hören, was die zwei tiefsten Tasten des Xylophons spielten, verstand er. Nun war es kein Problem mehr, den Part drei zu spielen; es handelte sich bloß um die Verdoppelung der Töne der tiefsten Tasten – zwei Oktaven höher gespielt.

Kubik dachte aber weiter und erkannte, dass dies nicht bloß eine interessante Technik der musikalischen Gestaltung war, eine von vielen, die man in Afrika finden konnte. Hier trat eines der grundlegenden Organisations-Prinzipien der Hörwahrnehmung zutage, etwas, das für alle Menschen gleichermaßen gilt, unabhängig von ihrer kulturellen Zugehörigkeit: Wenn eine Melodie aus einer Abfolge von sprunghaften Intervallen besteht und in hohem Tempo gespielt wird (das ist in der Amadinda-Musik der Fall), kann die Wahrnehmung dem sprunghaften Melodieverlauf nicht mehr folgen. Unwillkürlich sucht sie sich Töne in gleicher Tonlage und bildet aus diesen eigene Melodien. Der Hörer einer solchen Musik nimmt dann die Töne im hohen und jene im tiefen Bereich als zwei getrennte Melodien wahr. Die Komponisten der Amadinda-Musik haben mit diesem Phänomen der menschlichen Wahrnehmung gespielt, haben es bewusst in ihre Werke eingebaut.

Kubik beschrieb seine Entdeckung wenig später in der Zeitschrift „African Music“ und führte dafür den Begriff „inherent rhythms“ ein. Dieser Artikel aus dem Jahr 1960, der ihn mit einem Schlag in der Fachwelt bekannt machte, zählt heute zu den Klassikern der musikethnologischen Literatur. Zwar waren Phänomene der Gruppierung in der Wahrnehmung schon vor ihm von den Gestaltpsychologen beschrieben worden, aber Kubik war der erste, der solche Gesetzmäßigkeiten mit Material „aus dem Feld“ belegte.

Der Unterricht bei Evaristo Muyinda führte zu weiteren Erkenntnissen, die Kubik veranlassten, eine auf grundlegende Charakteristika der afrikanischen Musik abgestimmte Terminologie zu kreieren. Damals wurden vorwiegend Begriffe aus der abendländischen Musiktheorie zur Beschreibung afrikanischer Musik herangezogen. Aber ihre Bedeutung entsprach selten genau den Sachverhalten in Afrika. Dies führte dazu, dass afrikanische Musik in Analysen oft als imperfekt dargestellt wurde – im Vergleich zum westlichen Modell, von dem die Kategorien der Analyse stammten. Kubik legte Wert auf die Verwendung eines Beschreibungssystems, das mitten in den zu beschreibenden Phänomenen liegt, und nicht irgendwo außerhalb. Die Voraussetzung dafür war ein Verstehen der Musik, so wie jene sie verstehen, die sie geschaffen haben.

Daneben galt es auch, evolutionistischen Tendenzen entgegenzuwirken, die generell der Musik außereuropäischer Kulturen geringere Komplexität bescheinigten und in ihr ein früheres Stadium einer Entwicklung sahen, die in der Kunstmusik der westlichen Welt gipfeln sollte. Kubiks detaillierte Analysen haben die oft komplexe Faktur afrikanischer Musik aufgezeigt und ihr damit indirekt auch Prestige verliehen. Seine Schriften, besonders jene über die Xylophonmusik in Uganda, haben zeitgenössische Komponisten „im Westen“ wie György Ligeti angeregt, sich mit afrikanischer Musik zu beschäftigen. In einem Brief, veröffentlicht in der Festschrift zum 60. Geburtstag Kubiks schreibt Ligeti: „Lieber Herr Kubik, Ihre Entdeckung der INHERENT PATTERNS hat immense Wichtigkeit für meine Komposition […] GROSSER EINFLUSS! […] Sie haben mein Denken verändert.“

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Als ich Gerhard Kubik zum ersten Mal bei einer Vorlesung an der Uni Innsbruck Anfang der 80er Jahre begegnete, waren wir Studenten zunächst irritiert. Wir hatten uns den großen Feldforscher ganz anders vorgestellt: braungebrannt, von einer Aura des Abenteuerlichen umgeben. Herein kam ein unauffälliger Mann mit Aktentasche, aus der er eine Dose Diät-Cola auspackte, um sich während des Vortrags zu stärken. Hatte man Erzählungen von abenteuerlichen Begebenheiten erwartet, wurde man enttäuscht. Seine Sprache war frei von allem ethnologischen Jargon. Musikforschung in Afrika – etwas ganz Normales! Wiederholt hat er sich über die mit großem Aufwand inszenierten „Afrika-Expeditionen“ anderer Forscher mokiert.

Afrika, das ist für Kubik nicht „das Andere“ oder „das Fremde“. Er sei nicht ins Feld gegangen um dort „dem Fremden“ zu begegnen und seine afrikanischen Freunde stellten keine „andere Kultur“, keine grundsätzliche Verschiedenheit von ihm selbst dar. „Nichts ist uns eigentlich fremd“ … „das ‚Fremde‘ ist ein Konstrukt, das auf einer Projektion von nicht akzeptierten Inhalten des eigenen Unbewussten beruht.“ … „Niemand ist von der Wiege bis zum Grab Gefangener ein und derselben Kultur.“ (G. Kubik in Festschrift für Ilse Storb) … Das Hineinwachsen in eine andere Kultur betrachtet Kubik als Lernprozess, der vor allem durch zwei Faktoren vorangetrieben wird: Sprachkenntnis und Partizipation. Über sie eröffnet sich der direkte Zugang zur kognitiven Welt der Menschen im Forschungsgebiet.

In der Teilnahme am Leben der jeweiligen Gastkultur ist Kubik gewiss um vieles über das bei Ethnologen übliche Maß hinausgegangen. 1965, es war bereits seine vierte Afrikareise, fuhr er mit einem portugiesischen Stipendium nach Südostangola, in ein Gebiet, das auf den Landkarten als „Fim do mundo“ (Ende der Welt) eingezeichnet ist. Während seines sechsmonatigen Aufenthalts scheute sich Kubik nicht, sich unter die jungen Novizen der Mukanda-Beschneidungsschule zu reihen, um in die für die Kultur der Völker dieses Gebiets so wichtige Einrichtung initiiert zu werden. Es war eine Grenzerfahrung, die – wie er an verschiedenen Stellen schreibt – eine tiefgreifende Persönlichkeitsveränderung bewirkte. Später hat er noch Initiationsrituale für andere Geheiminstitutionen absolviert: den Mungonge-Männerbund sowie den Geheimbund der Vandumbu-Hörner in Angola und den Nyau-Maskenbund in Malawi.

In Angola wurde ein altes Interessengebiet Kubiks – schon als Jugendlicher hatte er Sigmund Freud gelesen – reaktiviert: die Psychoanalyse. Er erkannte, dass die Beschäftigung mit anderen Kulturen auch die Beschäftigung mit sich selbst erfordert, um nicht Prozessen der Projektion zu unterliegen. Die Bemühungen um ein Verstehen haben sich vor Übertragungen zu hüten, andernfalls würde man Gefahr laufen, sich der Bedeutung der Phänomene für die Mitglieder der untersuchten Kultur zu verschließen. Die Ethnopsychoanalyse stellt eine Herangehensweise dar, in der Eigen- und Fremderkenntnis miteinander verschränkt werden. Erkundungen transkultureller Psychoanalyse, etwa zum Thema „Tabu“, wurden fortan zu einem der wichtigsten Beschäftigungsfelder Kubiks.

In diesem Zusammenhang ist eine von Kubik propagierte Methode in der Feldarbeit zu erwähnen: er nennt sie „Floating“. Jungen Aspiranten auf Feldforschung empfiehlt Kubik, zunächst ohne konkrete Fragestellung in das Forschungsgebiet zu reisen und sich einfach treiben zu lassen. Man solle beobachten, ohne die Wahrnehmung bewusst zu steuern, soll allem, was man zu hören oder zu sehen bekommt, gleiche Aufmerksamkeit schenken, das vermeintlich Wichtige ebenso wie das vermeintlich Triviale registrieren und Kritik so gut man kann ausschalten. Folgt nämlich die Aufmerksamkeit den Erwartungen, ist man in Gefahr, stets nur das zu finden, was man bereits weiß.

Kubik stellt hier die Eignung der Standard-Prozedur von Forschungen im Feld (Formulierung eines Problems – Feststellen der geeigneten Methode zur Untersuchung des Problems – Datenerhebung – Datenanalyse – Schlussfolgerung) für die Wahrheitsfindung in Frage. Viele der in der Studierstube entwickelten ethnologischen Problemstellungen sind Phantom-Probleme, da sie von der kulturellen Prägung des Fragestellers beeinflusst sind und vom Kategoriensystem der eigenen Sprache abhängen. Von zuhause mitgebrachte Fragen und Fokussierungen können also die Augen vor Neuentdeckungen verschließen. Es ist wie bei einem, „der freiwillig sein Gehörvermögen auf den Bereich zwischen 200 und 210 Hertz beschränkt hat und ein Konzert besuchen will“ (Kubik).

Floating ist also eine Methode zur unvoreingenommenen Entdeckung wissenschaftlicher Fragen. Kubik empfiehlt, bei der betreffenden Gemeinschaft zu leben und nicht jeden Abend in Richtung Stadt zu verschwinden, um im Hotel zu essen und zu schlafen. Ferner sei es ratsam, solche Forschungen allein zu unternehmen, allenfalls in Begleitung von einheimischen Personen. Die Anregung zur Floating-Technik erhielt Kubik von der von Freud entwickelten Technik der „freien Assoziation“. Floating ist ein Mittel zur Inspiration, zur Fremderkenntnis und auch zur Selbsterkenntnis.

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Am 25. Februar 1967 trifft Kubik während eines Abendspazierganges in der südmalawischen Stadt Blantyre auf die Band „Daniel J. Kachamba and his Brothers“. Die Gruppe, die auf der Straße auftritt, spielt Kwela-Musik. Kwela ist ein Jazz-Abkömmling, der in den 50er Jahren in Südafrika entstanden ist, später aber im gesamten südlichen Afrika sehr populär wurde. Die Kachamba-Band, anfangs von Daniel, dann von seinem jüngeren Bruder Donald Kachamba geleitet, sollte im Leben des Gerhard Kubik noch eine große Rolle spielen.

Die Mitgliedschaft in Wiener Jazzbands war für den jungen Kubik von großer Bedeutung gewesen. Die Auflösung seiner so erfolgreichen Formation „Jazzband Musici“ im Jahre 1959 hatte ein traumatisches Ereignis dargestellt und war unmittelbarer Auslöser für die erste Afrika-Reise gewesen. Die Integration in Kachambas Kwela-Band bedeutete für Kubik eine vollständige Rückgewinnung der 1959 verlorenen Jazzband. Hier fand er eine neue musikalische Heimat. Seit 1974 ist er als Klarinettist, Gitarrist und Sänger aktiver Musiker in der Gruppe und hat mit ihr bislang Tourneen in 33 Staaten der Welt unternommen.

Mit der Zugehörigkeit zur Kachamba-Band wurde das Dorf Singano Village in Südmalawi zum Lebensmittelpunkt Gerhard Kubiks – neben Wien. Nach dem frühen Tod Donalds im Jahre 2001 wurde die Band in „Donald Kachamba’s Kwela Heritage Jazzband“ umbenannt. Ein weiteres Mitglied der Band und Weggefährte Kubiks seit vielen Jahren ist Moya Aliya Malamusi, der Bruder seiner so früh verstorbenen Frau Lidiya. Kubik hat Moya Malamusi in einer Art „learning by doing“ zum Feldforscher ausgebildet. Später hat dieser an der Universität Wien dissertiert und ist heute Leiter eines von ihm gegründeten Forschungszentrums mit angeschlossenem Museum in Malawi.

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Früher Morgen in Singano Village. Das Leben erwacht, Menschen scharen sich um offene Feuer; im Juli kann es hier empfindlich kalt werden. Aus einem Haus tönt das Klappern einer Schreibmaschine. Disziplin und rigorose Reduktion bestimmen das Leben des Kulturwissenschaftlers, Musikethnologen und Psychotherapeuten Gerhard Kubik: kein Handy, kein E-mail, kein Internet, keine Partys, keine Vereine, kaum ein Tag, an dem nicht irgendetwas zu Papier gebracht wird. Ein dutzend Bücher und hunderte Artikel sind es inzwischen. Hätte er einer „regulären“ Beschäftigung nachgehen müssen, wäre das nicht möglich gewesen, betont Kubik. Einen 40-Stunden-Job hatte der heute 75-Jährige nur zweimal in seinem Leben, als Jugendlicher – für wenige Wochen! Mehrmals wurden ihm Professuren an Universitäten in Europa und Amerika angeboten; er hat alle Angebote ausgeschlagen und es vorgezogen, einfach, aber selbstbestimmt zu leben. Immer wieder ist es ihm gelungen, Förderungen für seine Forschungen zu bekommen. Die Basis dafür legte er selbst – durch seine reiche Publikationstätigkeit.

Fünf Jahrzehnte sind seit den ersten Feldforschungen vergangen. Damals, um 1960, bestand die musikethnologische Landkarte Afrikas vor allem aus weißen Flecken. Dies hat sich geändert; Gerhard Kubik hat dazu viel beigetragen. Seine Forschungen in 18 afrikanischen Ländern haben mit nahezu 30.000 Titeln die weltweit größte Sammlung an Tonaufnahmen aus Afrika hervorgebracht. Die dazugehörigen Feldnotizen erstrecken sich, zu Büchern gebunden, über mehrere Regale. Die schriftliche Fassung der Forschungsergebnisse würde 40 Jahre dauern, rechnet Kubik vor. Aber ebenso dringend ist es, mit der Forschung im Feld fortzufahren – gerade heute; durch Fernsehen und Internetzugang tritt vielerorts passiver Konsum an die Stelle kreativer Eigenproduktion. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich die kulturelle Vielfalt drastisch reduziert haben wird. Gerhard Kubiks Pläne sind zahlreich. Und für Wanderungen in den Michiru-Bergen, die man von Kubiks Haus aus sehen kann, sollte auch noch ein wenig Zeit bleiben …

Quellen: Kubik, Gerhard: „The structure of Kiganda xylophone music.“ African Music 2 / 3 (1960): 6–30 · Ders.: „,Floating‘ – eine ethnopsychoanalytische Feldforschungstechnik.“ Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 61 (2007): 249–268 · Ders.: „Transkulturelles Musikverstehen und das veränderliche individuelle Kulturprofil des Menschen.“ In: „Weltmusik“ – Ein Missverständnis, hg. von NRW Kultursekretariat, 25–44. Essen 2007 · Ders.: „Das ‚Eigene‘ und das ‚Fremde‘.“ Im Druck in: Rastlose Brückenbauerin. Festschrift zum 80. Geburtstag von Ilse Storb · Ders.: „Begegnung der Kulturen? – Reflexionen zu den Anfängen meiner Feldforschungen in den 1960er Jahren und ihre Folgen.“ Vortrag im Phonogrammarchiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien, 27. 04. 2009 · Malamusi, Moya Aliya: „Akaning’a and his travels.“ In: African Perspectives: Pre-colonial History, Anthropology, and Ethnomusicology, hg. von R. Allgayer-Kaufmann und M. Weber, 19–41. Frankfurt am Main 2008 · Oliveira Pinto, Tiago de: „Interview mit Gerhard Kubik.“ http://afroamerikamusik.simpleblog.org /11375/ (19.07.2009) · Weber, Michael: „Rigorose Reduktion. Zum Werden des Kulturwissenschaftlers Gerhard Kubik.“ In: For Gerhard Kubik. Festschrift on the occasion of his 60th birthday, hg. von A. Schmidhofer und D. Schüller, 585–597. Frankfurt am Main 1994

 

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