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Honigverkäufer im Palastgarten
Landvermessung
No. 3, Sequenz 1
Vom Virgental ins Krimmler Tal

Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: In Quart folgen unterschiedliche Autoren mit unterschiedlicher Kondition unterschiedlichen Linien (s. Übersichtskarte). Derzeit befinden wir uns am Beginn einer Geraden, die von Obermauern im Osttiroler Virgental nach Garmisch-Partenkirchen führt. In der aktuellen Folge ist Peter Waterhouse der vorgegebenen Linie NICHT gefolgt.

Im Winter 2009 erhielt ich die Einladung von A.S., nach Tirol in das Mondlanger Waldtal zu kommen, um über den langen Weg und das Land, in welchem der Weg lag, der von dem Tal zur Mautstraße ging, zu schreiben. Auf der Landkarte, welche ich an dem Wintertag aufschlug, sah ich, dass zwischen Tal und Tal und zwischen den Ortschaften K. und R. Höhen lagen, keine Straße dort ging, vielleicht Almen waren, Fälle fielen, Felswände standen, nummerierte Wege kurvten. In einem zweiten Gespräch hörte ich, dass ich von Tal zu Tal nicht auf der direkten und kurvenden Route reisen könnte, sondern einen großen Bogen beschreiben über die Landstraße, um den großen Kontinent zwischen Tal und Tal, aber den direkten Weg nicht befahren könnte, ihn besser nicht ging, der im Winter zugeschneit oder verschneit war, auch im Frühling zugeschneit sein konnte oder beschneit. Ich sollte mit dem Wagen oder mit den Postbussen auf anderen Wegen fahren, den zu schreibenden Weg besser nicht gehen, in den Zwischenraum und die Zwischenberge und in die Zwischenhöhen nicht.
Ich las in jenem Winter langsam – manches Kapitel fünfmal, sechsmal, siebenmal, zehnmal – den Roman von Charles Dickens über den Besitzer des Londoner Handelshauses Dombey and Son, 1844 bis 1846 in London erschienen in monatlichen Folgen. Dickens hatte zu jener Zeit sich in der Schweiz aufgehalten mit seiner Frau Kathrine Hogarth und mit einer mir nicht bekannten Zahl seiner später einmal alles in allem zehn Kinder – am Genfer See –, und hatte von Lausanne aus auch eine Reise in das Mondlanger Waldtal unternommen.
Ich begann den Roman zu lesen, weil ich mich als Kind vor Charles Dickens und vor seinen Romanen gefürchtet hatte; die Furcht mir gut in Erinnerung geblieben war und ich, unter neuen Voraussetzungen und in einem neuen Alter, über sie nachdenken wollte; und weil ich in dem späten Vorwort zu dem Roman, dem Vorwort zu der Cheap Edition von 1858, sein Lob der genauen Beobachtung gefunden hatte, welche ihm offenbar im Schreiben gelang, und die daran angeschlossene Erfahrung der verwirrenden oder verwirrten Vorstellungskraft.
Das Kind hatte sich gefürchtet vor der Rohheit vieler Erwachsener in Dickens’ Romanen, welche zwar, wie Dickens in dem Vorwort über Paul Dombey 1858 schrieb, die ganze Zeit, all along, ein Gefühl ihrer Ungerechtigkeit, einen Sinn und ein Bewusstsein ihrer Rohheit und Ungerechtigkeit hatten oder haben mochten, die also ein Gewissen besaßen, aber kein Gefühl und keinen Sinn für Kinder, kein kindliches Gewissen, die einen Sinn für Gerechtigkeit besaßen, obgleich sie so ungerecht handelten, einen Sinn für Selbstgerechtigkeit. Mitleidlos ungerecht ging es zu, so dachte das Kind und so fürchtete es sich. A sense of his injustice is with him all along, schrieb Dickens über den Besitzer des Handelshauses Dombey and Son. Sein Ungerechtigkeitssinn war sein Gerechtigkeitssinn.
Bei der Wiederlektüre von Dealings with the Firm of Dombey and Son, Wholesale, Retail and for Exportation, die wohl eher eine erste Lektüre war – was nämlich das Kind im ersten Kapitel gelesen hatte, war schon vergessen, nur die Angst hatte ich nicht vergessen –, sah ich oder vermeinte zu sehen und wiederzuerkennen, dass eine Auslassung dem Kind Angst gemacht hatte – oder gemacht haben könnte –, welche sich bei aufmerksamer Lektüre oder langsamer, nachdenklicher und mehrmals wiederholender Lektüre im ersten Satz des Romans auftat, in den ersten Worten des ersten Halbsatzes, vielleicht sich aber gerade nicht der Aufmerksamkeit erschloss, sondern einer Unaufmerksamkeit und Augenblicken der Gedankenabwesenheit. Ich begann über diese Auslassung – oder diesen anderen Raum – nachzudenken und bemerkte, dass ich zuweilen auch an das ausgelassene Wegstück dachte, auf welchem ich nicht gehen würde und gehen könnte, welches ich in einem großen Bogen umfahren könnte, das Wegstück oder unwegsame Gelände zwischen den beiden Tälern in Tirol.
Der erste Satz in den Dealings with the Firm of Dombey and Son, Wholesale, Retail and for Exportation sprach die Firma Dombey and Son nicht an, wie dann den ganzen langen Roman lang nichts über die Firma gesagt wurde, nicht gesagt wurde, womit gehandelt wurde und womit Paul Dombey Erfolg gehabt hatte und reich geworden war. Der erste Satz beschrieb Dombey in einem Schlafzimmer in dem Londoner Wohnsitz, beschrieb den im abendlichen Dunkel in einem Winkel des Zimmers sitzenden Kaufmann und sein in warme Decken gewickeltes neugeborenes Kind, den vor kaum achtundvierzig Minuten geborenen Sohn, welcher in seiner Bettstatt aus Korbgeflecht lag. Ich glaubte mich zu erinnern, dass der kleine Leser sich zunächst vor Dombey nicht gefürchtet hatte, welcher in einem Winkel des dunkel gewordenen Raums saß, dass dem Leser aber eine Verdoppelung oder Wiederholung aufgefallen war im ersten Satz, die beinahe nebeneinander gestellten Worte bedside und bedstead. Bedstead, das war die Bettstatt, der Rahmen des Betts. Die Erwähnung von bedstead verlangte nicht unbedingt danach, dass dann auch gesagt wurde, wer darin lag. Bedstead war ein Möbel, ob wer darin lag, musste streng genommen nicht gesagt und erzählt werden. Mit bedside war es anders, bedside war wie das deutsche „Bettrand“ kein Möbelstück. Das Kind hatte hier begonnen, etwas zu spüren, hatte gespürt, was die österreichische Sprache beschrieb als ein entrisches Gefühl. Vielleicht das Berggefühl, einen jähen Abbruch gefühlt oder steilen Abbruch oder, weniger bergig: eine Auslassung. Das Wort bedside, wie das Wort Bettrand, erzeugte ein präzises Gefühl in einem langsamen, nachdenklichen Leser – ob ich als Kind langsam und nachdenklich war und langsam und nachdenklich las, wusste ich nicht mehr. Das Kind fühlte wohl nicht, dass das Wort bedside nach etwas verlangte, dass es Nähe ausdrückte, dass es nicht so sachlich war wie das Wort bed, dass es Gesellschaft, Gemeinschaft, Geselligkeit ausdrückte und Sorge um jemanden, der ans Bett gefesselt war, nicht aufstehen konnte, krank war und sterbenskrank.
Der kleine Leser sah, dass in der Bettstatt ein kleines Kind lag, las, dass ihm erzählt wurde von dem kleinen Kind, sah auch, dass in dem anderen Bett, von dem allein der Rand genannt war … Auslassung, niemand; der Leser spürte aber, dass da jemand war, dass da jemand bettlägerig war, im Sterben lag. Dombey sat in the corner of the darkened room in the great arm-chair by the bedside and. Auf das Wort and folgte: die im Bett Liegende oder der im Bett Liegende, dem Gesellschaft geleistet wurde, der nicht verlassen wurde, der getröstet, gewärmt wurde; es folgte der Name des Leidenden oder Kranken oder der Sterbenden oder Schwachen. By the bedside and: es folgte die Schwäche, Erfolglosigkeit, Mut, Tod, Stille, Angst und die Gesellschaft mit diesen allen, die Nähe zu diesen allen. In Dickens’ Roman folgte auf das Wort and – das erste Und-Wort des Romans – nicht, wem da in der Not Gesellschaft geleistet wurde – besser gesagt: es war da niemand in Not, die da in ihrer Not im Bett Liegende war gar nicht da, sie war doch da, aber sie war nicht da. Auf das Wort and folgte jemand anderer: and Son lay tucked up warm in a little basket bedstead, carefully disposed on a low settee immediately in front of the fire and close to it. And close to it – das war das zweite Und-Wort des Romans. And close to it. Und nahebei. Schon bei dem ersten Und-Wort hatte vielleicht der kleine Leser die Nähe gespürt, die Nähe des da im Dunkel Sitzenden zu jemandem im dunklen Bett, hatte vielleicht die Nähe gespürt, die keine Nähe war, hatte Nähe und Auslassung, Nähe und Alleinlassen gespürt.
Im Wiederlesen des Romans, im Wiederbeginn der Lektüre sah ich, dass sich einer langsamen, wiederholenden Lektüre etwas erschloss, das der Aufmerksamkeit und Wachheit vielleicht sich nicht erschloss, der Wachsamkeit vielleicht nicht, einer – wie mir schien – Unaufmerksamkeit oder anderen Bereitschaft aber erreichbar war, sah, dass das Unsichtbare irgendwie sichtbar wurde, die im Bett liegende und sterbende Frau, von welcher der Romanbeginn nicht erzählte, unerzählerisch und unaufmerksam oder unmerklich sichtbar wurde. Dombey saß in der Ecke des dunkel gewordenen Zimmers in dem großen Lehnstuhl am Bettrand, und Sohn lag warm eingepackt in einer kleinen geflochtenen Bettstatt, die sorgsam auf ein Ruhebett, eine gepolsterte Bank, gestellt worden war unmittelbar vor und ganz nahe dem Feuer.
Es fiel mir auf, dass viel Unauffälliges in dem Satz war. Es fiel mir auf oder fast gar nicht auf, dass da kein großes Bett stand oder jedenfalls kein dastehendes großes Bett beschrieben war, sondern der Bettrand. Welcher Sinn war es, der auffasste oder weniger als auffasste, eher nicht auffasste als tatsächlich auffasste, welcher Sinn war es, der unfassbar das Bett … das Bett nicht als Objekt und als Gegenstand richtig und ganz wahrnahm, sondern irgendwie halbwegs unaufmerksam bemerkte, dass die Sterbende da war, ohne da zu sein? Welcher Sinn spürte die Gegenwart anstelle des Gegenstands? Welcher kindliche Sinn war es gewesen, der das Wort bedside überlesen hatte, es flüchtig gelesen hatte, gewiss nicht mehrmals wie ich Erwachsener dann, das Wort vielleicht gar nicht gespürt hatte, aber die Sterbende am Anfang von Dickens’ Roman sogleich gesehen hatte? Welcher Sinn war es, welcher auf das Wort and hin den Namen der im Bett Notleidenden erwartete? Der kaum merklich zauderte, als auf das Wort and der Name nicht genannt wurde, sondern der andere Name mit dem Großbuchstaben S genannt wurde, Son nämlich, welcher gar kein Eigenname war, sondern Teil des Firmennamens von Dombey and Son. Der nächste Firmenbesitzer war schon im Raum, der Kompagnon, der Nachfolger, die Zukunft des Handelshauses. Welcher Sinn war es, der the bedside unterschied, bedside als ungegenständlich unterschied und sah, dass bedside kein Möbelstück war und gar kein Gegenstand sondern eine Gegenwart? Im flüchtigen nachdenklichen Lesen sah, dass the bedside unvollständig war, Anteil war von etwas, fast Anteilnahme? Gab es den Anteilnehmenden-Sinn? Gab es im kindlichen Lesen die Teilnahme, das Teilsein? War Anteilnahme so etwas wie Und-Teilnahme? War das Wort „und“ ein wichtiges Wort in dem Roman von Charles Dickens, aber nicht prominent wichtig, sondern abseits wichtig, wichtig jenseits der Wichtigkeit, so wichtig wie unwichtig? War es nicht eines der drei Worte im Titel, welcher zunächst sehr lang gewesen war – Dealings with the Firm of Dombey and Son, Wholesale, Retail and for Exportation –, aus welchem Dickens Dombey and Son gebildet hatte? War das Wort and ein kleines und dienendes Wort, aber unmerklich wichtiger als die Worte Dombey, Son? Dombey and Son, eigentlich ein Firmenname oder eine Firmenbezeichnung. Das Wort and aber kein Firmenname, keine Bezeichnung.
Vielleicht hatte der kleine Leser, welcher ich gewesen war, gelesen und gedacht: Dombey ist nicht so wichtig, Son ist nicht so wichtig, aber das Wort and ist wichtig. Das Dazwischenliegende war wichtig. Im ersten Satz des Romans war zwischen dem im Lehnstuhl Lehnenden und der im Bett Liegenden und Sterbenden der Bettrand gewesen, welcher selbst eigentlich nichts war, der kein Bett, der auch kein Lehnstuhl war, der kein Winkel im Zimmer war, der auch nicht einfach Holz war, der ein Rand war und eine Schwelle. Hatte der kleine Leser gezaudert; gezögert auf der Schwelle?
Die Schwelle, ließ sie sich eigentlich beobachten? Aus der Nähe und vorsichtig beobachten, wie Dickens im Vorwort zur verbilligten Buchausgabe geschrieben hatte, im ersten Satz des Vorworts? Hatte er im ersten Satz des späteren Vorworts eine Fähigkeit und ein Vermögen gelobt, das nahe und aufmerksame, sorgsame Beobachten, am Anfang und im ersten Satz des Romans aber einen Ort angezeigt, welcher nicht nahe und aufmerksam beobachtet werden konnte, die Schwelle? Eine genaue Beschreibung des Holzes, der Farbe des Holzes, eine nahe Beobachtung der Form des Bettrands, sie hätten die Schwelle nicht beschrieben. Setzte die Schwelle das Beobachten außer Kraft? Dass die Schwelle aus Holz hergestellt war, beschrieb das die Schwelle?
Dickens lobte in dem Vorwort das genaue Beobachten und beklagte die Seltenheit dieses Vermögens. Selten war das Vermögen, menschliche Charaktere zu beobachten. Nicht einmal das Vermögen, Gesichter zu beobachten, war oft anzutreffen. Im letzten Absatz des kurzen Vorworts zur Cheap Edition sagte Dickens ein paar Worte über den Anfang seines Romans. I began this book by the lake of Geneva. Der Genfer See, die Stadt Lausanne und die von da in allen Himmelsrichtungen sichtbaren Gebirge hatten keine Wirkung auf das Romangeschehen und hatten eine geheime Wirkung auf das Romangeschehen, welche Dickens fast auf den Tag genau zehn Jahre nach der ersten Buchausgabe des Romans ansprach, erst zehn Jahre nach der Erstausgabe sich Dickens deutlicher, weniger geheim zu zeigen begann vielleicht.
Die geheime Wirkung war kaum beobachtbar, jedenfalls war sie nicht nahe beobachtbar (the faculty of closely observing), sie begann, sich aus der Ferne und spät, Jahre später zu zeigen. Sie war also nicht aktuell beobachtbar, sondern trat in der Ferne und wohl ohne Genauigkeit, in der Ungenauigkeit, vielleicht in der genügenden Unaufmerksamkeit zutage. The association between the writing and the place of writing is so curiously strong in my mind, that at this day (London, April, 1858), although I know every stair in the house, I yet confusedly imagine Captain Cuttle as secluding himself from Mrs. Mac Stinger among the mountains of Switzerland. Diese confused imagination – oder was immer sie war, verwirrte Einbildung, verwirrte Wahrnehmung – bildete sich erst viele Jahre später, zehn Jahre später. Im Augenblick des Schreibens sonderte sich der Schiffskapitän – sein Rang blieb fraglich, war er pilot, Lotse, gewesen, skipper, Kapitän eines kleinen Handelsschiffs, oder privateersman, Kommandant eines Kaperschiffs, Seeräuber, Pirat –, sonderte sich der Captain ab, floh vor seiner gestrengen Vermieterin, floh aus seinem Quartier an einem Kanal nahe dem India Dock und übersiedelte in die Londoner Innenstadt, die City, in Hörweite der Bow Bells, unweit der Börse, unweit der Bank of England. Im Augenblick oder zur Zeit des Schreibens floh Captain Edward Cuttle aus dem Londoner Hafen in die City. Zehn Jahre später aber erzählte Dickens, im kurzen Nachwort, nein, im Vorwort zur Cheap Edition, wie er den Schiffskapitän fliehen sah in die Gebirge der Schweiz. Cuttle quartierte sich ein im Laden des befreundeten Schiffsinstrumentenbauers und Händlers Solomon Gills. Er quartierte sich ein in einem Laden, in welchem Chronometer und Barometer ausgestellt waren und Teleskope und Kompasse, Seekarten, Landkarten, Sextanten, Quadranten und alles das, was benötigt wurde zur Führung eines Schiffs auf dem Meer. Fast auf den Tag genau viel später, nämlich zehn Jahre später, floh vor seiner streng herrschenden Wirtin der Kapitän nicht in die City, nicht in den Laden mit den Navigationsinstrumenten, sondern ins Gebirge, floh in die städtelose Welt, in die höheren und langsameren Wellen hoch über den Meeren.
Er floh dorthin wohl unbeobachtet, unbeobachtbar. Er floh zehn Jahre später. Vielleicht war diese Flucht des Schiffskapitäns eine Täuschung, eine Einbildung, eine irrtümliche Vorstellung, jedenfalls war diese Flucht später, vielleicht zehn Jahre später, und jedenfalls ohne Aktualität, ein nicht beobachtbares Ereignis.
Ich dachte daran, dass ich im Winter 2009 das Fernsehgerät nach Jahren des Diensts abgemeldet und verschenkt hatte, zu jenem Zeitpunkt, als schließlich der Einladungsbrief eingetroffen war. Welcher die mündliche Einladung wiederholte, von einem kaum begehbaren oder im Winter unbegehbaren Wegstück im Gebirge zu erzählen in Form einer Erzählung oder eines Berichts oder einer Beschreibung. Die Abmeldung des Fernsehgeräts war ein wenig ohne Motiv geschehen (Platzmangel war allenfalls das Motiv) und war von Wehmut oder Beinahe-Wehmut begleitet gewesen. Der Einladungsbrief aber hatte mich aufmerksam gemacht auf einen undarstellbaren Ort, auf die undarstellbaren Orte – vielleicht auf die Orte zehn Jahre später oder hundert Jahre später oder eintausend und zehntausend Jahre später – und das Abmelden und das Verschenken des Fernsehgeräts war zu einem Loswerden geworden, einem Abschütteln, fast zu einer Flucht – wie diejenige Edward Cuttles – vor den darstellenden Bildern, vor der Darstellung und der Aktualität, welche Traum und Erinnerung in Erregung versetzten, an die Stelle von Traum und Erinnerung Darstellung und Aktualität stellten, nahe Beobachtung, mehr oder weniger sorgfältige Beobachtung, die Möglichkeiten des Zehn-Jahre-Danach in den aktuellen Bildern versteckten. Vielleicht war der Einladungsbrief an mich geschickt worden, weil ich das Fernsehgerät abgemeldet hatte und weil ich Captain Cuttles Flucht studierte aus seinem Quartier im Hafen von London in die City, welche sich später darstellte oder gerade nicht darstellte als Weggang ins Gebirge. Im kurzen Vorwort zu der Cheap Edition hatte Dickens etwas berichtet, das auf den neunhundert Seiten des Romans keinen Platz gehabt hatte. Zehn Jahre später hatte er von dem Weggang ins Gebirge auf weniger als einer halben Seite erzählt, ohne die Genauigkeit der neunhundert Seiten des Romans. Im Roman wohnte der pensionierte Schiffskapitän, nachdem er geflüchtet war, in einem kleinen Laden in London. In der späteren Schrift wohnte der Schiffskapitän im Gebirge.
War ich, in dem Einladungsbrief aus Innsbruck (Genf?), eingeladen worden zum Nichtwahrnehmen und dazu, etwas nicht zu sehen? War ich eingeladen worden, weil auch ich eigentlich unsichtbar war? Als letzten Film in meinem Fernsehapparat hatte ich den Film „Apocalypse Now“ gesehen; und ich wusste, dass der nächste Film, an welchem der Regisseur Francis Ford Coppola arbeitete, den Titel „Perception Now“ haben würde. Dieses Wort now fasste ich auf als ein Synonym des Wortes perception. Was dann später sich ereignete – was man später auffasste oder fabulierte –, das war nicht mehr perception und Wahrnehmung, sondern …, sondern etwas anderes, welches man wie Charles Dickens als confused imagination beschreiben konnte, imagination not now – unfocussed imagination. Solche Bilder – images not now –, solche Nicht-jetzt-Bilder wollte ich ja sehen und Nicht-jetzt-Filme.
Dickens schrieb, dass das Schreiben und der Ort des Schreibens miteinander vereint waren – das Schreiben der ersten Teile von Dealings with the Firm of Dombey and Son, Wholesale, Retail and for Exportation war verknüpft mit der Schweiz und den Alpengebirgen und war, obgleich Dickens Englisch schrieb, schweizerisch. Das Schreiben vom Unglück der Familie Dombey und vom Schiffsinstrumentenbauer Solomon Gills war schweizerisch oder mit der Schweiz verknüpft, obgleich in der Schrift nichts Schweizerisches zu lesen war. Die Schrift war mit etwas verbunden, welches in ihr aber nicht zum Vorschein kam. Die Berge waren unsichtbar in Dickens’ Roman. Captain Edward Cuttle floh vor der herrschsüchtigen oder liebenden Frau Mac Stinger aus dem Londoner India Dock um Mitternacht, unter Verzicht auf sein Hab und Gut, das er zurückließ in einer Truhe im MacStingerschen Haus, in die City in den Laden mit den vielen Navigationsinstrumenten; aber inaktuell, ohne Zwänge, ohne häusliche Apokalypse, floh er zehn Jahre später in die Schweizer Berge oder lebte in der Schweiz, so wie Dickens in der Schweiz gelebt hatte, sich gelöst hatte von London und England, zur Mitternacht oder zu Mittag ausgezogen war und seine eigene Wirtin Mac Stinger oder Mrs. Mac England oder Mac London heimlich oder unheimlich verlassen hatte. Schreiben und Ort des Schreibens waren verbunden, aber nicht so aktuell und schnell verbunden, dass der Ort sichtbar wurde im Schreiben. Das Handelshaus Dombey and Son stand nicht in Lausanne am Genfer See (Dombey and Lausanne), sondern befand sich in der Londoner Innenstadt. Doch zehn Jahre später begann es – konnte man das sagen? –, begann das Haus in Lausanne zu stehen, und der Freund und Vertraute des Schiffsinstrumentenbauers Solomon Gills begann aus Lausanne zu fliehen oder auszuziehen, er begann nicht mehr in London zu sein, sondern in Lausanne, er floh vor Frau Mac Stecher ins Gebirge. Der Roman aber bildete die Flucht hinein in die Schweizer Berge nicht ab, er vermochte die Flucht nicht abzubilden oder darzustellen. Erst der zehn Jahre später geschriebene Nicht-Roman, erst das zehn Jahre später verfasste kurze Vorwort zur Cheap Edition konnte in seiner kurzen einfachen Gestalt, als Vorwort und Vorform, den Gang des Kapitäns in die Berge erzählen. Der Roman Dealings with the Firm usw. erzählte die Geschichte der Familie Dombey und das Unglück der Familie, vor allem das große Unglück der Kinder, aber er erzählte dabei auch nicht; er vermochte die inaktuelle Geschichte nicht zu erzählen, erzählte die Schweizer Geschichte nicht. Schrift und Inaktualität waren verbunden, Schrift war mit der Zeit verbunden, welche erst zehn Jahre später zutage trat. Die Stadt, in welcher Charles Dickens lebte, Lausanne, und der Genfer See und die über das Wasser hin sichtbaren und schwebenden Höhenzüge waren inaktuell und waren vielleicht unsichtbar. Die Gegenwart oder Gegenwelt war unsichtbar. Darum gewiss war ich von A.S. eingeladen worden, in einem Brief im Winter 2009 und in einem Telefongespräch, nach Tirol zu reisen und zu kommen oder nicht nach Tirol zu reisen – weil ich nicht aktuell war und weil ich vielleicht unsichtbar war. In das Gebirge hinein kommen, um eine nichtaktuelle, nicht zu bereisende Landschaft in der Höhe zwischen K. und R. zu sehen, jene Täler- und Höhenwelt, in welche zwei Jahrhunderte zuvor Charles Dickens sich begeben hatte, zu der Zeit, als er die ersten Kapitel seines Romans schrieb, sehen, dass ich immerzu etwas Aktuelles sah; und hinein wandern in die großen Unsichtbaren in Tirol.
Sagte Dickens im Vorwort also: the writing is associated with what is past and gone? Die Schrift ist vereint mit Städten, Bergen, Seen und Menschen, die vergangen, vor zehn Jahren vergangen sind, das Schreiben ist mit alten Orten verknüpft? Oder anders gesagt: Der Schreibende weiß nicht, womit er verknüpft ist – erst der Zehn-Jahre-Spätere weiß von den Verbindungen? Der jetzt Schreibende hat die Verbindung verloren. Er ist verloren (im Gebirge). Er kann zehn Jahre später oder viel später die Verbindung herstellen? Er verliert aktuell, viel später gewinnt er? „Perception Now“, Francis Ford Coppolas neuer Film, jener, an dem er arbeitete, welchen mir anzusehen ich noch gar kein Interesse hatte, hatte also einen verborgenen oder unausgesprochenen oder vergessenen Untertitel und dieser hieß „Loss Now“? Wie würde es um einen Film stehen mit dem Titel: „Sills“ – Schwellen? Öffnungen, doch ohne Sichtbarkeit und Wahrnehmung? Nur Licht, keine Bilder? Nur die blinden Fensterbänke? War es nämlich so, dass wir starben, in dem Augenblick, und auferstanden nach zehn Jahren oder viele Jahre später?
Hatte ich nicht das Zaudern gehört oder etwas Stilles – und eben dieses hatte mich überredet oder überzeugt und für die Sache gewonnen? Das Zaudern und die Stille hatten mich bewegt zu meiner Zusage; Zusage zu einer Sache, die gar nicht ausgesprochen worden war, eher ausgespart; eher als eine Sache und eine Angelegenheit eine Aussparung war – war es also in unserem Telefongespräch so gekommen auf meine Frage hin, ob ich gehen könnte von Tal zu Tal, wir gehen könnten, meine Kinder und ich, von dem Tal zu dem Tal und in das Gebirge, dass ich das Zaudern gehört hatte vor dem Antworten, vor dem Nein, auch ein Zaudern danach, nach dem Nein, nein, wir könnten nicht gehen, gingen besser nicht, in dem Schnee, in der Verschneiung. Als ob der uns Einladende sagen wollte: auf keinen Fall gehen? Eben nicht gehen? Etwas anderes entdecken als den Weg? Oder nichts entdecken? Keine aktuellen Wege?
Now, what I want is, Facts, schrieb Dickens im anderen Roman, im ersten Satz. Facts. Teach these boys and girls nothing but Facts. Facts alone are wanted in life. Plant nothing else, and root out everything else. You can only form the minds of reasoning animals upon Facts: nothing else will ever be of any service to them. Stick to Facts, sir!
Hatte ich die Einladung angenommen in dem Augenblick, als der Einladende gezaudert hatte und dann Nein gesagt hatte, die Einladung weniger eine Einladung als ein Zaudern und eine Schüchternheit gewesen war – gehen von Tal zu Tal, nein, denn da oben liegt der tiefe Schnee, nein, nicht gehen, vielleicht mit den Postbussen durch die Nebentäler fahren und die Gebirge umfahren. Sie sollen nicht in das Gebirge wandern, Sie brauchen auch nicht die Postbusse zu nehmen. Ich schicke Ihnen gerne Landkarten von dem unwegsamen Gelände.
Als der Einladende in unserem Telefongespräch von dem Schnee gesprochen hatte, hatte ich an die vor wenigen Tagen zu Ende gegangene Zukunftskonferenz gedacht, die eine Zukunftsrettungskonferenz oder überhaupt und bloß eine Zukunftsrettung gewesen war, zu welcher ich ebenso wie nach Tirol in das Gebirge eingeladen worden war – lauter Einladungen nach New York und Providence und London und Innsbruck, welche ich alle annahm, alle bejahte, doch manche mochte ich lieber, die zaudernde Einladung ins Gebirge – in das ich doch keineswegs gehen sollte –, die mochte ich lieber. Als er von dem Schnee gesprochen hatte und als er dann auch nichts gesprochen hatte, gezaudert hatte, nachgedacht und vielleicht verlegen gewesen war, jedenfalls in dem Gespräch kurze Zeit nicht gesprochen wurde, da hatte ich daran gedacht, dass in den Vorträgen zur Zukunftsrettung, jedenfalls in denen, welchen ich zugehört hatte, es dieses Nicht-Sprechen nicht gegeben hatte. Aber es war mir die ganze Zeit so erschienen – oder es hatte mir so geschienen, wie der Schnee scheint und schneit? –, dass die Sprache besser geeignet ist für das Zaudern und das Nicht-Sprechen als für ihren dauernden Gebrauch in Reden und in Rettungsreden für die Zukunft der Welt, nicht geeignet für global governance, die unsere Zukunft retten wird und für Wohlstand und Wohlstand und Wohlstand sorgen wird, die Sprache vielleicht bloß sich eignet für die Toten, die Vergangenheit und den Schnee. Wie alle Redner nicht zauderten und wie es in ihren Reden keinen unbetretbaren Raum gab, immer nur Wege, keine Unwegsamkeit. Ich war Teilnehmer einer schneelosen Konferenz geworden. Wie ist die Zukunft und die zukünftige Welt zu bewahren vor allerlei Gefahren – Gefahren der schlechten Luft, der verpesteten Meere, Hitze, Stürme –, so wurden alle Conferenciers vom Konferenzredner gefragt und schon im Einladungsbrief gefragt, und anstatt über etwas anderes zu sprechen, sprachen dann alle Redner über das vorgeschriebene oder angeregte, über das bedrohliche Thema. Wie retten wir die Zukunft – mit global governance. Und jemand widersprach: Nein, die Zukunft retten wir mit Erfolglosigkeit. – Nein, mit global governance. – Nein, mit Erfolglosigkeit. – Global governance. – Erfolglosigkeit. – Global governance. – Erfolglosigkeit. In der Stimme meines Innsbrucker Partners und Gastgebers hatte ich … hatte ich den Schnee gehört und in dem Zaudern hatte ich nichts gehört … und in dem nichts hatte ich gehört, dass es keine Resultate gibt, keine Erkenntnisse und vielleicht hören können, dass es in der Welt wie Schneefall klingt, und spüren, dass sie Schneefall ist. Dass sie fällt, hinauf schwebt, fliegt, kreist, glitzert, wie die Flocken und die Sterne. Dass sie zuschneit.
Ich dachte an das Bild von dem Honigverkäufer im Palastgarten. Das im Pekinger Palastmuseum ausgestellte Bild zeigte einen Honigverkäufer und die verschiedenen Honigschalen und Honigtöpfe und den Honigverkaufsstand und es stellte vier dar, die bei ihm Honig einkauften. Der weitaus größere Teil des Bilds stellte nichts dar, keine Honigkäufer und keinen Verkäufer. Der weitaus größere Teil des Bilds im Pekinger Palastmuseum war wie ohne Bild und war wie mit Honig oder mit honigfarbener Farbe gemalt. So dass ich in dem Bild zugleich nichts sah und Honig.

 

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