zurück zur Startseite

Poetisches Paternoster

Erste Reihe rechts, Nummer 126. Ein schmiedeeisernes Grabkreuz, eine Tafel, darauf die Verse: „Denn klar seh ich wie nie zuvor: – Die Liebe höret nimmer auf!“ Am Grab eines großen Vergessenen der Literatur. Von C.W. Bauer

Ich weiß nicht, wie oft ich am Friedhof in Lienz vorbeigegangen bin. Ich habe einmal in der Stadt gewohnt, sie in den vergangenen Jahren immer wieder aufgesucht. Lange war mir nicht bewusst, dass auf dem Lienzer Friedhof ein Dichter begraben liegt, der Seinesgleichen nicht hat. Freilich, in den Literaturlexika der Gegenwart sucht man seinen Namen vergeblich. Er gehört zu den großen Vergessenen der deutschsprachigen Literatur, gleichwohl er einer ihrer bedeutendsten Vertreter in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist: Peter Karl Höfler.
Immer wieder kommt mir jene Frage in den Sinn, die Höfler einem seiner Wegbegleiter einmal gestellt hat: „Weißt du, was ein Salamander ist?“
Die Verse über dem Grab – sind sie nicht die Antwort? Die Zeilen stammen aus einem Gedicht Höflers, geschrieben bereits unter Pseudonym und in einer Zeit, in der die deutsche Sprache längst zur Kommandosprache verkommen war. Die Wahl des Pseudonyms, auf das ich noch zu sprechen kommen werde, gewährt nicht nur Einblick auf Höflers literarischen Ansatz, es betont auch die Zäsur, die seinem Leben während des nationalsozialistischen Terrorregimes widerfahren ist.

Anders als bei Autorinnen und Autoren, die ihr Werk aus einem thematischen Reservoir speisen, das nicht zwingend mit Selbsterlebtem zu tun hat, ist es bei Höfler der eigene Lebenslauf, der zum Motor der Poesie wird. Pendelnd zwischen Polen – Christ und Anarchist in einem, Dandy und Proletarier, Mystiker und Kommunist – ist sein Schreiben ein permanenter Anlauf, das Gegensätzliche miteinander zu vereinen. Bei aller Anarchie, die seinem Denkansatz innewohnt, Formenzertrümmerer ist Höfler keiner. Warum auch, das Rad, auf dem er sich fortbewegt, muss nicht neu erfunden werden. Ihn interessieren eher die Speichen, meist vierzehn an der Zahl, wie das Sonett sie in Versen vorgibt. Die Speichen wurzeln in der Nabe, von dort breiten sie sich kreisförmig und einander im Reim kreuzend aus, verleihen dem Rad Stabilität. Die bleibt in der Poesie nur eine angedeutete, selbst wenn man sie in ein logisches Korsett schnürt. Allerdings, Höflers Rückgriff auf das Sonett ist nicht verwunderlich. Wie viele Dichter vor und nach ihm sieht er in dieser Spielart der Lyrik eine Möglichkeit, seine Gedanken klar und in Gedichtform zu strukturieren. Er unternimmt den Versuch, das Widersprüchliche logisch zu erklären, treibt den Teufel mit dem Belzebub aus. Denn das Gedicht, im Speziellen Höflers Gedicht, ist immer mehr, als die Form ihm zu gewähren vermag. Es suggeriert Harmonie und ist disharmonisch, löst sich aus der Vergangenheit in einen Anspruch auf Gegenwart, will Ganzes sein und Fragment bleiben, duldet keinen Widerspruch und ist widersprüchlich zugleich.

Geboren wird Peter Karl Höfler am 23. Januar 1905 in einem Berliner Arbeiterbezirk. Seine aus der Habsburgermonarchie stammenden Eltern haben sich gut ein Jahr zuvor in Berlin-Weißensee niedergelassen. Dort verbringt Höfler seine Kindheit und taucht ein in eine Bilderwelt, die ihn ein Leben lang begleiten wird. Es sind dies Bilder von Werkstätten und Lagerräumen, von Höfen, die straßenwärts durch breite Tore und backsteinerne mehrstöckige Kopfbauten abschließen. Morgens werden die Tore zum Moloch, der sich Hundertschaften von Arbeitern einverleibt und abends wieder ausspuckt. Unter ihnen auch Höflers Vater, ein gelernter Tischler. Der greift immer hemmungsloser zur Flasche, um in eine andere Wirklichkeit abzudriften. Der Vorstadttristesse überdrüssig und angetrieben von der Hoffnung auf eine bessere Arbeitsstelle, entscheidet er sich schließlich, mit der Familie nach Österreich zurückzukehren. So gelangt Höfler im Alter von sieben Jahren nach Rohrbach im Oberen Mühlviertel. Hier kommt er erstmals in Berührung mit dem österreichischen Katholizismus bäuerlicher Prägung. „Graue Schwestern“ lehren ihn, wird er später formulieren, eine Erfahrung, die sein Leben nicht minder beeinflusst wie der Eindruck vom Arbeiterelend in einer modernen Großstadt. Auch wird er Zeuge der sich rasant und bis in ländliche Gebiete ausbreitenden Industrialisierung. Am nachhaltigsten aber prägen ihn in seinen frühen Jahren das wiederholte Scheitern des Vaters und die damit verbundene Ruhelosigkeit. Schon zwei Jahre nach der Ankunft in Oberösterreich kehrt Höflers Vater nach Berlin zurück, wohin er die Familie 1915 nachkommen lässt. Was goldenen Boden hat, ist in den Reden des Vaters jetzt nur noch schmerzliches Erinnern, längst ist er zum Industriearbeiter geworden. Gründet darauf Höflers Festhalten am Handwerklichen? Er wird ihm immer treu bleiben. Zunächst lässt er sich als Zahntechniker ausbilden, bricht die Lehre jedoch ab, wechselt zu einem Feilenhauermeister. Aus dieser Zeit stammen Höflers erste Gedichte, die er „bei der Petroleumlampe, nachts, zum Ärger des Vaters“ geschrieben hat, wie sein Bruder Leo erinnert. Eines dieser frühen Gedichte ist eine Huldigung an ein Fünfzigpfennigstück:

Lang ist es her. Ich sehe uns beide noch im Winkel hocken.

Ich hielt dich gleichsam staunend und verängstigt in der Hand.

Das Mondlicht hing im Fenster mit vergilbten Flocken


und malte Schäfchen und Klabautermänner an die Wand. –

Da saß ein Kindertraum dabei und summte fast erschrocken

das Lied vom Glück, vom Glück – und zwei warmen Wintersocken …


Höfler hält es nicht in Berlin. Er begibt sich auf die Walz, die ihn durch Bayern, Österreich und Oberitalien führt. In den verschiedensten Berufszweigen verdingt er sich, mal als Tischler oder Flickschuster, dann als Polsterer, Gold- und Silberschmied. Zuweilen verdient er sein Geld mit dubiosen Geschäften, gerät dabei nicht selten in wüste Raufhändel, was ihn wiederum mit den Behörden in Konflikt bringt. Als blinder Passagier gelangt er auf einem Frachtdampfer nach Spanien. Dann lebt er eine Zeitlang als Zuhälter in Rotterdam bei einer Prostituierten, heuert als Heizer und Trimmer auf Küstenschiffen an – kurzum, eine Biographie, die andere für sich erfinden, um sich interessant zu machen.
Was treibt Höfler an? „Und nirgends ein Ort, wir gehen fort, wir kommen her, und nirgends ein Ort“, vermerkte Augustinus in den Confessiones: Zu dieser Erkenntnis scheint auch Höfler gekommen zu sein, „in allen Provinzen Europas habe ich die Erde gerochen“, schreibt er in einem seiner Sonette. Den Geruch der Erde sucht er zweifelsohne zeitlebens, sesshaft wird er nie. Allein die Zeitumstände wissen das zu verhindern.

Wieder nach Berlin zurückgekehrt, tritt Höfler der Kommunistischen Partei und dem später verbotenen Roten Frontkämpferbund bei. Er verkehrt nun regelmäßig in literarischen Kreisen, ist bekannt mit Erich Mühsam, Joachim Ringelnatz und Theodor Plivier. Thomas Mann, Franz Werfel, Alfred Kerr und andere treten für die Veröffentlichung seiner Arbeiten ein. Auf weniger Gegenliebe stößt der bekennende Kommunist beim braunen Mob, der immer mehr die Straßen beherrscht.
Ein Jahr vor der nationalsozialistischen Machtergreifung stirbt Höflers Mutter an einer Lungenentzündung. Mit dem meist arbeitslosen und der Trunksucht verfallenen Vater verbindet ihn wenig. Auch wenn Höfler später schreibt, „heute weiß ich, daß von allen Armen er der ärmste war.“ Dabei macht er gewiss eigene Erfahrungen geltend:

Freunde, ihr wißt, wie mir das Leben auf der Zunge schmeckt!

Oho, munteres Zünglein! – Und ihr wißt: Glück oder Glas!

Darum bedenke ich gerne dies und denke gerne an das,

eh der süße Wein mächtig mir eins in die Krone steckt.


Mit Beginn der Hitlerei wird Peter Karl Höfler zum Gejagten, SA und Gestapo spüren ihn stets in seinen Verstecken auf. Höfler flieht nach Österreich, wo er in der Wiener Josefstadt bei einer Schwester seiner Mutter Unterschlupf findet. Er hält sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser, ohne die Hilfe seiner Tante wäre er jedoch nicht durchgekommen. Und hätte kaum Zeit zum Schreiben gefunden.
In Wien beginnt Höfler mit der Arbeit an einem Roman, doch es zieht ihn immer tiefer hinein in seine Form des lyrischen Sprechens. Das lädt er mit Themen auf, die seinen einstigen Parteigenossen zunehmend suspekt werden. Zu mystisch ist er ihnen, der Höfler, zu spirituell, es mangelt ihm an Klassenbewusstsein, seine Gedichte macht er unverholen zum Gebet. Der so Gescholtene interpretiert die Vorwürfe freilich anders und klagt, man sei in der Partei bestrebt, sein Talent niederzuhalten. Als die Nazis in Österreich anrücken und Begeisterungsstürme ernten, die sie in ihren kühnsten Träumen nicht erwartet hätten, flüchtet Höfler nach Brünn. Von nun an nennt er sich Jesse Thoor, ein Pseudonym, das seine Zerrissenheit widerspiegelt und Gegensätzliches miteinander vereint. Im Sonett vom guten Willen schreibt Thoor:

So habe ich das Sterben fürchterlich und tausendfach erlitten,

da ich – nicht Mensch noch Tier mehr – stöhnend aufgeschrien,

als sie, die Tollen, mir das Herz in meiner Brust entzweigeschnitten.

War es an jenem Tage der Gewalt im März, war es in Wien?


In Brünn kann Thoor nicht bleiben. Ende September 1938 werden Hitler durch das Münchner Abkommen die tschechoslowakischen Gebiete mit mehrheitlich deutschsprachiger Bevölkerung zugesprochen. Gut drei Wochen später wendet sich Thoors Kollege Franz Werfel an den Initiator der American Guild for German Cultural Freedom: „Ich empfehle den Dichter Jesse Thoor auf das dringendste für ein Stipendium. Seine Sonette sind zweifelsohne die erstaunlichste Leistung, die mir auf dem Gebiet deutscher Lyrik seit Jahren begegnet ist. Sie zeigen nicht nur eine dichterische Sprache und Bildkraft hohen Grades, sondern gestalten auch einen Zustand der Seele, der einmal vielleicht für unsere Epoche charakteristisch sein wird.“
Thoor erhält ein Stipendium, ein Flugticket sowie die Einreiseerlaubnis nach England. In den ersten Wochen des Londoner Exils lernt er die aus Wien geflohene Friederike Blumenfeld kennen, die er ein Jahr später heiratet. Zuvor jedoch fallen ihm die „Pfaffen der Partei“ in den Rücken, wie Thoor die vormaligen Weggefährten in einem Gedicht bezeichnet. Er wird von ebenfalls emigrierten Kommunisten als angeblicher Nazispion verleumdet und mit Kriegsbeginn zunächst in Devon, dann auf der Isle of Man interniert. Ein wenig mag ihn trösten, dass sechs seiner Gedichte in der von Thomas Mann in der Schweiz herausgegebenen Zeitschrift Maß und Wert in Druck gehen. Dadurch wird ihm erneut ein Stipendium der American Guild zugesprochen, mehr als das Existenzminimum sichert es freilich nicht.

Vom Schreiben zu leben, ist utopisch. Ans Schreiben zu denken, wird zur Qual. Thoors Misstrauen gegen die Sprache wächst, denn sie ist „nichts anderes als ein Verständigungsmittel – aber kein Mittel zu verdienen, oder sich durchzusetzen. Das soll man mit dem Hobel, mit dem Pflug, mit der Materie tun“, hält er in einem Brief an seine Tante in Wien fest.
Natürlich schreibt er weiter. Ausgangspunkt für seine Gedichte werden zunehmend die von den Mystikern bekannten Zustände geistigen Schauens. Sie verändern Thoors Denken und Dichten von Grund auf. Vieles von dem, was er fortan sagt, wird unverständlich und wirkt aus heutiger Sicht befremdend: „Arbeitet auf den Feldern und achtet der Erde, die euch trägt. Beachtet das Holz, den Stein, und so alle Dinge voller Wunder sind: behütet eure Werkstatt … sie ist ein Schrein der Offenbarung“ heißt es im Gedicht Karfreitagsrede.
Die Arbeit in der Werkstatt hilft ihm, dem der Handwerksberuf von Jugend an so wichtig war, über manche Niederung des Exilantenalltags hinweg. Thoor stellt Gold- und Silberschmiedearbeiten her, Schmuck und Ringe für Freunde, bizarr anmutende Blumen und Kelche voll religiöser Symbolik. Dazu passend die archaischen Bilder, die seine Lyrik jetzt prägen. Doch es ist keine Blut-und-Boden-Archaik, wie man sie aus vielen Gedichten jener Zeit kennt. Die Entwurzelung zwingt ihn förmlich, auf eine Wiedereinwurzelung zu insistieren, auf eine Wiederentdeckung des Individuums und vor allem der Grundwerte. Es ist ein franziskanisches Staunen vor der Schöpfung, das ihn lobpreisen lässt. Nicht von ungefähr beruft er sich in einem seiner Gedichte auf den heiligen Mann aus Assisi als Zeugen. Gleichzeitig sind Thoors Verse ein Ausdruck der Erschütterung über eine Menschheit, die diese Schöpfung zu vernichten droht. Menschenrechte allein können es nicht mehr richten, die Erlösung der Menschheit obliegt einer höheren Instanz. Er, der einst gegen alle Rangordnungen Sturm lief, sieht keinen anderen Ausweg mehr, als eine übernatürliche Hierarchie zu akzeptieren. Er, der noch in einem frühen Gedicht geschrieben hatte, es tue im leid, er „glaube nicht an Gott“, macht sich nun zu dessen Sprachrohr und huldigt der Jungfrau Maria.

Zweifelsohne, der Herr ist sein Hirte, doch Thoor ist kein willfähriges Schaf. Seinem Gottesbild haftet nichts Naives, seiner Gläubigkeit nichts Verbohrtes an. „Alles, was man von Gott denken kann, ist er nicht“, schrieb Meister Eckhart einmal, so sieht es auch Jesse Thoor. Seine Gedichte stehen im Einklang mit den deutschen Mystikern, er nimmt Anleihen im Alten Testament, beruft sich auf Johannes vom Kreuz, auf die visionären Gedichte des Andreas Gryphius, auf den späten Hölderlin. Bei aller Anverwandlung, epigonal wird Thoor nie. Wie kein anderer versteht er es, seine Gedichte mit christlichen und mystischen Anspielungen zu durchwirken, dabei Formenstrenge walten zu lassen und sich eine Einfachheit im sprachlichen Ausdruck zu bewahren, die sein Werk im besten Sinn zum Ereignis, zu einem einzigartigen poetischen Paternoster machen.

Thoors Gedichtsprache ist die eines Exilierten und kennt nur zwei Extreme: das Pathos und das Verstummen. Demgemäß strotzen seine Strophen vor prophetischer Emphase und reißen unvermittelt ab in „stummen“ Versen, die Thoor mit Strichen kennzeichnet. Mit solchen Strichen markiert er wohl auch die Jahre des Exils. Heimisch wird Thoor in England nie, schon gar nicht in der englischen Sprache, die zu erlernen er sich weigert. Die Jahre der Emigration verlebt er in dürftigsten Verhältnissen in Hampstead. Was als Werkstatt für seine Schmiedearbeiten dient, ist zugleich die Einzimmerwohnung, die Thoor mit seiner an Lungentuberkulose leidenden Frau bewohnt. Ihr hat er es zu verdanken, nicht gänzlich verstummt zu sein. Davor bewahrt ihn gewiss auch seine Überzeugung, die göttliche Ewigkeit lasse sich nicht über den Verstand erreichen. Dass er Letzteren verloren habe, davon sind die meisten derer überzeugt, die ihn in London antreffen. Der Lyriker, Übersetzer und Essayist Michael Hamburger erinnert sich einer Begegnung mit Jesse Thoor, als der gerade vom Verlag Faber & Faber in Soho kommt. Thoor hat T. S. Eliot eine eigenhändig geschmiedete Blume überreichen wollen in der Hoffnung auf ein Schiff als Gegengeschenk, gedenkt er doch dem Fliegenden Holländer gleich fortan über die Meere zu fahren. Bei einer der Sekretärinnen im Verlag ist Endstation, sie weist Thoor als Wahnsinnigen ab.
Aufs Verrücken versteht sich Thoor, entrückt ist er allemal. Er lebt die „Torheit der Gerechten“, von der er in seiner Lyrik immer wieder spricht. Sein in den dreißiger Jahren einsetzender Mystizismus ist ein tief empfundener, erlöst ihn aber keineswegs vor einer ebenso tief empfundenen inneren Disharmonie.

Thoors frühe Vorbilder sind offensichtlich Villon und Rimbaud. An Ersterem fasziniert ihn das anarchische Temperament, an Letzterem die Fähigkeit, ein solches Lebensgefühl im Gedicht zu bändigen. Lesend hat sich der Autodidakt Thoor, der nie eine akademische Bildung genossen hat, zum Dichter geschult. Seine Bücherfeindlichkeit, mit der er sich in frühen Jahren gerne brüstete, um das Bildungsbürgertum mit Hohn zu bedenken, entpuppt sich bei näherer Betrachtung seiner Gedichte als Attitüde. Zu anspielungsreich sind seine Strophen, zu genau gearbeitet sein Vers. Doch gehört die Koketterie eben auch zur Zerrissenheit eines Mannes, dessen Wahl des Pseudonyms nicht nur mit dem Gemütszustand korrespondiert, sondern darüber hinaus Belesenheit verrät.

Jesse Thoor. Zwei Pole, Jesse von Jesaja, dem biblischen Propheten, Thoor vom germanischen Gott Donar. Der gilt im nordischen Mythos als Bewahrer vor Übeltaten, sein wichtigstes Attribut ist der Hammer, mit dem er die Erde urbar macht. Kaum verwunderlich also, dass Thoor so inbrünstig die heilige bäuerliche Ordnung besingt. Jesaja wiederum ist jener Prophet, der dem jüdischen Volk das Ende des babylonischen Exils verkündet. „Und ein Reis wird hervorgehen aus dem Stumpfe Isais, und ein Schößling aus seinen Wurzeln wird Frucht bringen“, ist im Buch Jesaja zu lesen. Auf diese Textstelle gründet das bekannte Lied Es ist ein Ros entsprungen. Auch in Thoors Werk findet sich ein Weihnachtslied, dort heißt es: „Daß also ein Reislein sprang, viel Preis und Ehr! Und recht schönen Dank dem, der kein Unrecht begehr!“

Drei Jahre nach Kriegsende erscheint im Nürnberger Nest-Verlag ein Band mit dem Titel Sonette. Es wird Jesse Thoors einzige Publikation zu Lebzeiten bleiben. 1952 verlässt er London, will zurück nach Österreich. Der Erlös aus seinen Goldschmiedearbeiten reicht für eine Fahrkarte, die ihn nach Matrei in Osttirol bringt, wo er bei einem Bekannten unterkommt. Mit ihm unternimmt Thoor, gerade erst von einer Herzthrombose genesen, eine Bergtour. Am folgenden Tag möchte er seine aus Wien angereiste Tante von der Busstation abholen, bricht auf dem Weg dorthin zusammen. Nach vier Tagen Pflege im Haus des Bekannten wird er ins Lienzer Krankenhaus eingeliefert. Dort stirbt Jesse Thoor am 15. August 1952, am Mariahimmelfahrtstag. Seine Tante erinnert sich: „Als der Arme wegfuhr von Matrei, sagte ich zum Abschied: Wirst brav sein Karli und den Ärzten folgen. Er sagte, nein, Tante, brav werde ich diesmal nicht sein.“

Ein Vierteljahrhundert später besucht der Osttiroler Johannes E. Trojer das Grab Jesse Thoors. Mittlerweile sind einige Gedichte in der von Walter Höllerer herausgegebenen Zeitschrift Akzente abgedruckt worden. Ferner erschien eine von Alfred Marnau vorgenommene Auswahl an Gedichten, die neun Jahre später erneut aufgelegt und mit einem Vorwort von Michael Hamburger versehen wurde. Auch kann Trojer auf den 1975 von Peter Hamm im Suhrkamp Verlag herausgegebenen Band mit Gedichten von Jesse Thoor verweisen. 2005, zu Thoors 100. Geburtstag, kommt es zu einer Neuauflage dieses Buchs. Es ist die einzige Publikation, die momentan erhältlich ist.
Trojer verfasst einen Artikel für die Osttiroler Heimatblätter, in dem er das Werk Thoors würdigt und seine Vita kurz umreißt. Er führt eine Reihe von Wahlverwandten Jesse Thoors an, Franz von Assisi, Paracelsus, Rimbaud, Villon, Simone Weil, Theodor Kramer. Auch nennt er nicht zu Unrecht William Blake. Von Letzterem stammt der wunderbare Satz: „Wenn der Narr auf seiner Narrheit bestünde, würde er weise werden.“
„Weißt du, was ein Salamander ist?“ Es ist die Frage eines Narren, der auf seine Narrheit nie verzichten wollte. Jahre später findet Ingeborg Bachmann in ihrem Gedicht Erklär mir, Liebe eine Antwort: „Ich seh den Salamander durch jedes Feuer gehen. Kein Schauer jagt ihn, und es schmerzt ihn nichts.“
„Denn klar seh ich wie nie zuvor: – Die Liebe höret nimmer auf!“
Jesse Thoor gehört zu den Weisen.

 

im Heft weiterblättern


Email

registrieren

Ihre Email-Adresse wurde bei uns registriert und zur Liste der Newsletter-Abonnenten hinzugefügt.
Sie erhalten in Kürze ein Bestätigung per Email.