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Geschichten und Falten

Über Markus Schinwalds Arbeit für Quart. Von Stephan Hilpold

Einer der ältesten Texte über Malerei beschreibt einen Wettstreit im antiken Griechenland zwischen Xeuxis und Parrhasios und geht so: Xeuxis hatte so realistische Trauben gemalt, dass die Vögel herbei flogen, um die Früchte anzupicken. Das spornte den Eifer von Parrhasios an, der daraufhin einen Vorhang malte. Als Xeuxis das fertige Bild sah, bat er Parrhasios, den Vorhang beiseitezuschieben, damit er das Bild betrachten könne. Da erkannte er seinen Fehler und gab bereitwillig seine Niederlage zu. Er selbst hatte zwar die Vögel, Parrhasios aber ihn selbst getäuscht.

Spricht Markus Schinwald über seine jüngste, für Quart geschaffene Arbeit, dann kommt er auf diese Geschichte aus der „Historia Naturalis“ von Plinius des Älteren zurück. In der Antike waren Wettkämpfe unter Künstlern nichts Seltenes. Oft ging es dabei um die Frage, wer die Natur am wirklichkeitsgetreuesten darstellen könne. Eine Frage, die heute in der Kunst niemand mehr stellt. Auch Markus Schinwald nicht.

Der in Wien lebende Künstler ist unter anderem für seine Aneignung von Bildern bekannt, in denen die Frage nach der Wirklichkeitstreue zentral ist. Wuchtige Ölschinken und kleine Lithografien aus dem 19. Jahrhundert versieht er mit Zusätzen. Mal sind es Lederbänder, die er über den nackten, muskulösen Rücken eines Mannes spannt, mal mysteriöse Plastikaufsätze, die das halbe Gesicht bedecken, mal sind es bauschige Tücher, die er über das Haupt einer porträtierten Kauffrau wickelt. Arbeiten wie die letztere stehen auch am Anfang der Konzeption seiner Kunststrecke für Quart. Um das zu verstehen, muss man ein wenig ausholen.

„Mit alten Bildern und Lithografien zu arbeiten“, sagt Schinwald, „ist wie eine Fremdsprache zu sprechen. Erst in einer Fremdsprache kann man manchmal Sachen sagen, die man in der eigenen Sprache nicht artikulieren kann.“ Schinwalds Fremdsprache sind die Lithografien von Josef Kriehuber (1800–1876), einem der gesuchtesten und bestbezahlten Wiener Porträtisten in der Zeit des Biedermeier. Von ihm sagte man, dass er die Männer bedeutender und die Frauen schöner darstellte, als sie in Wirklichkeit waren. Heute ist er genauso vergessen wie die Menschen, die er porträtierte.

Genau deswegen hat ihn sich Schinwald ausgesucht. „In Kriehubers Lithografien geht es um die dargestellten Personen, nicht um den Maler. Allerdings kenne ich die Personen nicht. Das erzeugt eine Distanz, die meine Arbeiten erst ermöglicht.“ Die auf breiten Polstermöbeln thronenden oder steif am Kaminsims stehenden Honoratioren bearbeitet Schinwald am Computer so lange, bis sie nur mehr von Falten und Rüschen umgeben sind. Die Gesichter sind zur Gänze verhüllt. Nur hie und da blicken ein oder zwei Hände aus den Textilien hervor.

Diese Praxis hat der 1973 im barocken und alles andere als Rüschen-feindlichen Salzburg geborene Schinwald schon des Öfteren angewendet. Anders als bei jenen Porträts, die er mit eigenartigen, Prothesen-artigen Gebilden versieht, geht es ihm hier nicht darum, einen Mangel zu beheben, indem er etwas hinzufügt, sondern um den Akt der Verhüllung. Ein Vorgang, der in unserer Kultur von vielfältigen religiösen, moralischen und sexuellen Bedeutungsfeldern durchwoben ist.

Wobei Schinwald sich auf einen Aspekt konzentriert: „Mich interessiert, inwieweit das Verhüllte das Nichtverhüllte betont.“ Im Falle der bearbeiteten Lithografien sind dies die weiten Capes, die kuppelförmigen Röcke in Form einer Tischglocke oder die trichterförmigen Pagodenärmel. All diese Kleidungsstücke eint ein Detail: die Falten, die sie werfen. Ihre Struktur bestimmt die Dynamik der Bilder, sie verwischen die Grenzen des Körpers und erschaffen neue. Die Entität des Körpers wird durch die Faltenwürfe außer Kraft gesetzt.

„Wenn man will,“ erklärt Schinwald, „lässt sich die Geschichte der Kunst als die Geschichte der Falte erzählen.“ Diese, könnte man behaupten, beginnt bei den Faltenwürfen des Vorhangs von Parrhasios und jenen der altrömischen Togas, erreicht einen Höhepunkt in den überbordenden Rüschen des Barock und Rokoko und endet in den Leinwandschnitten eines Lucio Fontana. In der Falte offenbart sich die Meisterschaft eines Malers – und dessen Fähigkeit, mit ihrer weitläufigen Metaphorik umzugehen. „Man muss nicht die Psychoanalyse bemühen, um die versteckten Bedeutungen der Falte zu erkennen.“ Eine Falte ist ein sexuelles Symbol, sie steht genauso für die Vulva wie für den Geburtsvorgang. Nicht von ungefähr spielt die Falte im Denken der Poststrukturalisten eine herausragende Rolle. Gilles Deleuze etwa hat ihr ein ganzes Buch gewidmet.

Markus Schinwald hat zur Falte aber noch einen ganz eigenen Zugang, und zwar jenen über die Mode. Dort liegen die Ursprünge des Absolventen einer Linzer Modeschule. Das 1997 geschaffene „Jubelhemd“, in dem der Träger nicht anders kann, als seine Arme zum Jubilieren (oder Kapitulieren) zu erheben, gilt als eines der ersten Werke Schinwalds. Es folgten Schuhe, in denen der Träger nicht gehen kann, später auch Fotostrecken mit Artisten in Modemagazinen. In all diesen Arbeiten ging es Schinwald weniger um die Kleidung an sich als um ihre Bedeutung für den Körper. Wie verändert sie uns? Ist sie eine bloße Hülle oder ein Gerüst? Und inwiefern sind die Spuren von Kleidung an unseren Körpern ablesbar?

Fragen, die sich bei den von Schinwald bearbeiteten Lithografien, in denen Textilien eine so maßgebende Rolle spielen, natürlich auch stellen. Insbesondere da die den Arbeiten zugrunde liegenden Bilder aus dem 19. Jahrhundert stammen, einer Zeit, die für einen besonders restriktiven Umgang mit dem Körper steht. Gleichzeitig ist das 19. Jahrhundert aber auch ein Zeitalter der Pornografie. „Es gibt aus dieser Zeit Marien-Darstellungen,“ sagt Schinwald, „die haben die Form einer Vulva.“ Die bürgerlichen und religiösen Konventionen der Zeit schufen ein Klima, in dem nur hinter vorgehaltener Hand über den Körper gesprochen wurde. Das praktizierte man dafür – wie der französische Theoretiker Michel Foucault gezeigt hat – umso intensiver.

Die Falte, um die Schinwalds Denken kreist, ist genau dafür ein Symbol: Sie steht für eine Kultur des Verbergens und Versteckens – für eine Kultur der sexuellen Anspielungen, die ihren Gegenstand aber nie beim Namen nennen darf.

Aber kehren wir zu dem Cover und den sechs von Schinwald geschaffenen Doppelseiten für dieses Heft zurück. Auf ihnen ist auf den ersten Blick nichts von den Biedermeier-Bildern zu sehen, von denen bisher die Rede war. Wie Bleistiftschattierungen ziehen sich Schlieren über den Falz der Seiten, manchmal verdichten sie sich an einem Punkt, meist in der Mitte der Seite. Auf anderen Doppelseiten hat Schinwald „schwarze Löcher“ auch abseits des Falzes geschaffen.

Was man wissen muss: Die Schattierungen in der Mittelfalte der Seiten und die „schwarzen Löcher“ sind Details aus Schinwalds Bearbeitungen von Kriehubers Biedermeier-Porträts. Außer auf der Titelseite sind keine Einzelheiten der Bilder mehr erkennbar. Sie wurden in einzelne graphische Bestandteile aufgelöst.

Das Cover zeigt dagegen in der oberen linken Ecke eine Hand, die sich ein Stück Stoff krallt. Die Hand deckt gewissermaßen das Geheimnis des Heftes auf. Während Schinwald in seinen Biedermeier-Lithografien einen Akt des Verhüllens zeigt, stellt er an den Anfang des Heftes einen Akt des Enthüllens. Das ist natürlich durch und durch ironisch gemeint, genauso wie die Aussage Schinwalds, dass es sich bei dem von ihm gestalteten Quart um ein „perverses“ Heft handle. Die sexuellen Anspielungen sind auf den zwölf Seiten kaum zu übersehen.

Falten und Löcher dominieren das Innere eines Heftes, das sehr minimalistisch und abstrakt gehalten ist. Die Details aus den Bildern sind nicht mehr zuordenbar. Die Funktion von Schinwalds Eingriffen in das Heft ist, die vorhandenen Blattstrukturen zu betonen. In erster Linie natürlich jene des Mittelbugs. „Die meisten Künstler, die in der Vergangenheit für Quart gearbeitet haben, haben schlichtweg vergessen, dass es sich dabei um eine Zeitschrift handelt. Ihre Kunstwerke hätten auch an einer Wand hängen oder in einem Raum stehen können,“ erklärt Schinwald.

Seine jetzige Arbeit funktioniert stattdessen ausschließlich in der charakteristischen Struktur eines Magazins. Genauer gesagt: Die Arbeit ist eine Auseinandersetzung mit der grundlegenden Struktur von Zeitschriften und Büchern. Und Schinwalds Mittel sind – richtig – Falten und Löcher. Damit schließt sich ein Kreis, der eine ganze Reihe von Fragestellungen beinhaltet. Ästhetischer, psychoanalytischer, sexueller und literarischer Natur. Eine Ästhetik der Fülle, die Schinwald in den von ihm bearbeiteten Lithografien noch verstärkt, wird in das Feld äußerster Reduktion transportiert. Oder anders gesagt: Die Opulenz der Rüschen trifft auf die Kargheit eines weißen Blattes Papier.

Um Schinwalds Kunststrecke näher zu erkunden, ist es sinnvoll, einen weiteren Exkurs zu machen. Als der Künstler im vergangenen Jahr das Kunsthaus Bregenz mit einer großen Ausstellung bespielte, stand dabei an zentraler Stelle das Prinzip der Spiegelung. Auf drei Stockwerken hatte Schinwald unterschiedliche Räume installiert, in denen kurze Sitcoms gedreht wurden. Im ersten Stock, der mit Schinwalds eigenen Prothesen-Ölgemälden behängt war, waren die Räume selbst gespiegelt, im zweiten Stock arbeitete er mit gespiegelten Personen, der dritte Stock war mit Spiegeln vollgestellt. Die Kameras, mit denen er die dort agierenden Turner filmte, filmten sich teilweise also selbst. Ein Prinzip, das im Film, der seine eigene Machweise am liebsten vollständig verschleiert, verpönt ist, und die verstörende Natur dieser Kunst-Sitcom noch einmal verstärkte.

Ein Spiegel fordert nicht nur zur Auseinandersetzung der Protagonisten mit sich selbst auf, sondern auch der Betrachter. Die kleinen Verschiebungen sind es dabei, die veränderten Blickwinkel und Unregelmäßigkeiten, die ins Auge stechen. Die Vertrautheit mit der eigenen Umwelt und mit sich selbst ist plötzlich dahin. Nichts anderes passiert auch in der Kunststrecke, die Schinwald für dieses Heft konzeptioniert hat. Die Leere der Seiten wirkt unheimlich. Die Doppelseiten ähneln einem Spiegelkabinett. Nicht von ungefähr bezeichnen Zeitungs- und Buchmacher die Abfolge von Seiten auch als „Blattspiegel“.

Dass sich die aufgeschlagenen Seiten wie ein Spiegel zueinander verhalten, vergisst man allzuoft. Auch die Trennlinie, die zwischen den Seiten steht. Selbst bei Hochglanzheften, die mit ausladenden Bilderstrecken arbeiten, ob Kunst, Mode, Design oder Architektur, wird der Falz oft nur als notwendiges und lästiges Element behandelt. „In Wahrheit ist er ein harter Bruch, der die Seite in zwei teilt, und Bildern, die über die Doppelseite gehen, ein verstörendes Element hinzufügt“, sagt Schinwald.

Nahe liegend ist der Gedanke an die Schlitze in der Leinwand, mit denen Lucio Fontana arbeitete. Er lenkte die Aufmerksamkeit auf das Arbeitsmaterial von Künstlern. Eine ähnliche Sexualisierung wie Fontana betreibt auch Schinwald, der vom Falz (im Gegensatz zum Buchrücken) ironisch als „Bucharsch“ spricht. Er fügt den Schlitzen und Falten noch ein weiteres Element hinzu. Auf manchen Seiten haben die Details aus Kriehubers verformten Porträts die Funktion von Löchern. Wie Falten, die den Zugang zu verborgenen Schichten anzeigen, signalisieren Schinwalds schwarze Löcher auf dem weißen Papier eine geheimnisvolle Tiefe.

Marcel Duchamp hat Mitte der 1960er Jahre Abgüsse von Waschbecken-Stöpseln hergestellt – genauso wie Abgüsse von Vaginas. Auf sie bezieht sich Schinwald dezidiert. Die De-Kontextualisierung, die Duchamp mit seinen Ready-Mades betrieb, ist eine Strategie, die auch Schinwald nicht fremd ist. Sein Anliegen ist die Bewusstmachung von Strukturen, die als selbstverständlich angesehen werden – ob von Körpern, die als natürlich ausgegeben werden, oder von Druckwerken, die tagtäglich konsumiert, aber selten näher angesehen werden.

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