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Stille mit Herzklopfen und Durst

W.G. Sebald (1944–2001) legt im vierten Abschnitt seines Buches „Schwindel, Gefühle“ unter dem Titel „Il Ritorno in Patria“ zu Fuß den Weg vom Oberjoch – dem Übergang Tannheimer Tal ins Allgäu – nach Wertach zurück, wo er aufgewachsen ist. Fridolin Schley auf der Spur des großen Schriftstellers: ein Nachreisebericht.

Bei uns in Wertach treffen Sie immer wieder auf Kapellen,

Wegkreuze und religiöse Bildstöcke. Zeichen, dass die

Wertacher immer schon auf Gott ihr Vertrauen setzten, dass

Er ihnen wichtig war in Freud und Leid; denn Wertach hat

auch viel Leidvolles erlebt. In den letzten 500 Jahren ist der

Ort samt Pfarrkirche fünfmal abgebrannt. Zweimal überzog

die Pest den Ort mit Schrecken und Leid.

(Broschüre Wertacher Pfarrkirche St. Ulrich)


Vielleicht hätte ich mich nicht an einem 13. auf die Suche nach S. machen sollen, schon gar nicht an einem Freitag. Aber es war November, wie an dem Tag 22 Jahre zuvor, als S. diesen Weg ging, und auch die Ziffer 13 schwebt als flammendes Fanal über seinem Werk. Gut bekommen ist sie seinen Figuren meist nicht. Henri Beyle, so schreibt S., befindet sich im Herbst des Jahres 1813 in anhaltend elegischer Stimmung, der zurückliegende Russlandfeldzug Napoleons sucht ihn nächtens heim, im Fieber verwirren ihm Bilder des großen Brandes von Moskau die Sinne und Mal um Mal sieht sich Beyle auf dem Gipfel eines Berges, abgeschnitten von aller Welt und umgeben von den Flammen, die ringsum aus den Dächern der Häuser schlagen. Kafka ergeht es kaum besser; im September 1913 schickt S. ihn auf die Badereise nach Riva, wo es ihm meist äußerst unwohl ist und er sich beim Blick aus dem Fenster des Öfteren wünscht, drei Stockwerke tiefer zerschmettert zu liegen. Salvatore, des Erzählers Freund aus Verona, liest nicht zufällig die Erzählung „1912 + 1“ von Leonardo Sciascia; 1913, das Unglücksjahr, das nicht benannt sein darf, das Jahr, in dem Luisa Lanzberg ihren Verlobten verliert und Ambros Adelwarth, der ausgewanderte Großonkel von S., mit seinem Geliebten Cosmo auf eine Reise nach Jerusalem geht, von der sie gesund nicht heimkehren werden. 1913 wendet sich die Zeit, der Große Krieg schickt seine Boten voraus, und wie eine Natter durchs Gras läuft der Funken die Zündschnur entlang.
Die 13 leuchtete S. auch den Erinnerungsweg in seine Kindheit. Die Erzählung von der Rückkehr in die Heimat mündet in eine Untergangsvision; die letzte Zeile besteht nur aus einer Zahl: 2013.

Seinen Aberglauben wollte sich S. nicht nehmen lassen, wie überhaupt das „Aber“ die Triebkraft seines Schaffens war, das zwischen Kunst und Wissenschaft nicht unterschied und eins wurde unter dem Zeichen des Widerstands, des Widerwortes. Er, der in der Kindheit noch seinen Großvater ehrfürchtig den Hut vor einem Hollerbusch hatte ziehen sehen, suchte Zugang zur Sprache des Aberglaubens, zu einer uns verschütteten Ordnung unterhalb der Oberfläche der Vernunft; im Aberglauben fand er eine demütige Geste der Diskretion, die dem Schreiben viel von seiner Würde zurückgibt, einer Würde des Festhaltens an verlorenen Positionen, dem Untergegangenen, dem Vergessenen und Unheimlichen. Die „Heimat“ war ihm unheimlich unter all der Patina des Begriffs, er wagte sie nur in einer Fremdsprache anzurufen: Il Ritorno in Patria. Herkunft braucht immer die Distanz und die Illusion des Zurückkommenden, den Blick aus der Ferne, um zur Heimat zu werden. Sie entsteht erst im Moment des Verlusts, noch in der Abkehr gibt sie dem Niemandsland einen Namen, selbst in der Vertreibung, selbst in der Flucht.

In Oberjoch, das mir ein auskunftsfreudiger Sandler mit Tiroler Hut in kaum verständlichem Dialekt als das höchstgelegene Bergdorf Deutschlands anpries, blickte ich weit über das von Sonne geflutete Tannheimer Tal, das S. einst so unwirtlich empfangen hatte. Noch auf der nächtlichen Anreise hatte ich in seinem Buch gelesen, wie ihn an gleicher Stelle eine dunkle Wolkendecke niederzudrücken drohte und lichtlos und verlassen nicht das geringste sich hier gerührt hatte, wo ich selbst nun umgeben war von ankommenden oder davonrollenden Autos auf der im Tal sich verlierenden Straße, vom Gebimmel eines mobilen Souvenirstandes und den verschiedenen Sprachen eifrig schwatzender Wandersleute, die, ausgerüstet mit nietenverkleideten Rucksäcken, allwettertauglicher Funktionskleidung und silbern verspiegelten Sonnenbrillen irrlichternd ihre Aluminiumstöcke beidseitig in die feuchten Moorwiesen rammten. Ich wünschte mir Nebel herbei, in den sie hineinsteigen und verschwinden könnten, und war dankbar, dass S. dieser Anblick erspart blieb. Ich hatte Durst. Als wären es meine eigenen Erinnerungen, und nicht Zeilen und Buchstaben, die hier getrogen hatten, fürchtete ich schon jene Schwindelgefühle, von denen S. so oft berichtet hat, in mir aufwallen und mich niederstrecken, und ich drehte mich, wie ich es als Kind in den Bergen oft getan habe, langsam zu allen Seiten, die Hand ausgestreckt in die vor mir sich dehnende und mit den Augen nicht zu vermessende Weite. Als Junge habe ich immer geglaubt, den Schnee auf den entfernten Wipfeln wie Sahne mit dem Finger abstreifen zu können, so unbegreiflich war mir der gewaltige offene Raum. Lange Zeit haben mir die Berge Angst gemacht.

Und dann war da eine Wüste und Ödnis, durch deren Täler der Wind den Staub trieb der Steine.

Die Natur, für S. ist sie das vor uns aufgeschlagene Buch der Geschichte. Wie ein kosmischer Friedhof wuchert und gedeiht sie auf uns Moribunden, die wir an ihr ein Wirtstier haben, in ihr sind die Evolution und das ephemere Dasein des Einzelnen gleichermaßen aufgehoben. Was können angesichts ihres Gleichmuts unsere Wahrheiten anders sein als erfunden, und was des schwarzen Hundes rastlose Spurensuche anderes als eine nicht sterben wollende Hoffnung, dass die Abdrücke, welche die Völker auf ihren Wanderungen hinterlassen, endlich zu Mustern sich schließen, aus denen ein Sinn ablesbar würde. Was ist noch Kunst, was ihr Grund, wenn das Leben zerfällt, fragte S.; Wege durch die Natur sind ihm abschüssige Bahnen durch Verlusträume, in denen ein unergründlicher Bastler haust, in der Natur muss er verlorengehen, alles nimmt ab in ihr, niemand weiß, wo es hinausgeht und die einzige Erlösung im Leben ist jene vom Leben.

Über dem Studium der Karte beruhigte ich mich wieder. Minutenlang senkte und hob ich den Kopf, nieder zu meinem Faltplan und hinauf zur Landschaft, um den Namen darauf Späne von Wirklichkeit zuzuordnen, dem Rehbichler Wald seine schwarzblauen Fichten, dem Heuort Pfronten seinen barocken Glockenturm. Krummenbach, Unterjoch, Enge Plätt und Pfeiffermühle hatte ich mir in S.’ Buch angestrichen und verband die entsprechenden Stellen auf der Karte nun mit einem Stift zu einer grob skizzierten Route, fragte mich aber angesichts der heillos einander durchkreuzenden Pfeile, Markierungen und Notierungen, ob mein Gekritzel auch nur den geringsten Wert ergäbe oder ob es mich nicht eher um den letzten Rest meines von Kindheit an verkümmerten Orientierungssinns brächte. Ich verstaute den Plan in der Innentasche meines viel zu leichten Herbstmantels und suchte Mut darin, dass auch S., soweit ich wusste, beim Wandern stets nur seiner Nase gefolgt war und sich dem schnüffelnden Hund, der instinktsicher, mal links, mal rechts ausreißend und doch immer wieder auf den geraden Weg zurückfindend, seiner Fährte durchs hohe Weizenfeld folgt, näher fühlte als den meisten Exemplaren des sogenannten modernen Menschen.
Natürlich ist der Hund das traurigste aller Tiere. Nicht umsonst brechen im August (jenem Monat, in dem S. seine südenglische Wallfahrt antrat), wenn die Hitze den Tagen das Leben ausdörrt, die Hundstage an, und als Hundsstern ist auch der Saturn bekannt, unter dessen Zeichen die Melancholiker geboren werden. Ein Tier ist der Mensch, schreibt S., in tiefe Trauer gehüllt, in einen schwarzen Mantel, mit Pelzwerk gefüttert.

Etwa einen Kilometer unterhalb von Oberjoch folgte ich am verwaisten Grenzwieslift einem Wegweiser Richtung Alpsteigtobel und gelangte über die Obere Tiroler Salzstraße zur alten Zollstation am Pass. Ich ging für Stunden allein, ich kann nicht sagen, wie lange. Im Bachlauf, den ich zuvor bei Schattwald noch in den enttäuschend wenig Wasser tragenden Vilsfall hatte münden sehen, spiegelte sich der Gipfel des Tobel, der S. seinerzeit so bedrohlich überragt hatte, und wie damals wehte der Wind feine Güsse aus Tropfwasser von den schwarzgrünen Kronen der bald hundert Jahre alten Fichten. An einer vom Sturm entwurzelten, blattlosen Buche, auf deren feuchtem Geäst ein letzter Sonnenschein lag, machte ich Rast, aß das in meinen Taschen schutzlos verstaute und halb zerdrückte Obst und blätterte noch einmal in S.’ Aufzeichnungen, die, je öfter ich sie las, umso schwerer zu entziffern für mich waren, als fielen sie langsam zurück in ein vorzeitliches Stammeln oder in die unheimliche Sprache eines noch unentdeckten Landes. All das hat er gesehen, dachte ich, und auch wenn die untere Hälfte des Tobels fast ausgeholzt und durch neu angelegte Holzwirtschaftstrassen verunstaltet war, horchte ich hinein in mich, ob die von der Natur mühelos vollzogene Vernichtung der Zeit mich S. näherbrachte. Doch so sehr ich auch versuchte, seinem Blick durch die endlos hinaufragenden Bäume bis in den langsam sich verfinsternden Himmel zu folgen, so schwer ging mich mit einem Mal die Gewissheit an, dass ich mich einem längst vergangenen Leben aufdrängte. In zunehmendem Maße verspürte ich ein Gefühl der Beklemmung in meiner Brust, und es war mir, als ob das modrige Wurzelwerk, auf dem ich saß, nach meinen Knöcheln tastete und Moos in meine Haut sich fraß. Ich weiß nicht, ob ich die Kraft gefunden hätte aufzuspringen, oder ob ich mich nicht eher ganz der Furcht überlassen hätte (und der Neugier, ihrer schönen Zwillingsschwester), wenn nicht plötzlich ein Reiter wie aus dem Nichts auf dem Weg aufgetaucht wäre, ein zwergwüchsiger Tatar mit roter Kopfbinde und einer weißen gekrümmten Feder darin, und im Galopp auf mich zugehalten hätte, so dass ich den hämmernden Hufen der hellbraunen, an Nüstern und Rücken weißgescheckten Stute nur ausweichen konnte, indem ich mich rückwärts vom Stamm und in den unter mir schmatzenden Morast fallen ließ.

Für einen kurzen Augenblick fühlt sich Fallen an wie Fliegen.

Diese Sehnsucht in seinen Zeilen nach dem Fliegen, nach dem Schwerelosen, Flüchtigen; immer wieder der Blick von oben hinab, aus weiter Ferne und zugleich so nah; wie ein Rochen schwebt in der Tiefe des Meers, schreibt S., so glitt ich lautlos, kaum einen Flügel rührend, hoch über die Erde hin. Seine Sehnsucht nach Wasser, nach Steinen, nach dem Anorganischen als der geheimen Zielform des Lebens, jenseits aller Zeitlichkeit, als erhoffte er sich dort die Erlösung von einer Schuld, von dem schuldhaften Wunsch, die Schönheit der Natur zu bannen im Blick des Betrachters, der sie im Anschauen schon unterwirft, sie verewigt im Stillleben, als utopische nature morte, als poetischen Katalog der letzten Dinge. Nach der Natur zu schreiben, ihr nach- und sich ihr einzuschreiben, bedeutet bereits, sie zu überwinden im Nachruf.

Von tiefer Azurbläue war nun der Himmel, zu dem ich, noch immer in der kalten Fäulnis liegend, aufsah, lehmig mein Hinterkopf, nass die Kleidung, über mir hing wie Efeu der Regen des Morgens an den Ästen. Blätter rauschten im Wind, als loderten sie in Flammen. Kein Geräusch mehr von dem Ross, und ich horchte, als wollte ich es zurückkehren hören und sein Werk vollenden und ihm schwarze und rote Häher folgen sehen, Krähen und stelzenbeinige Vogeltiere, die mit reißenden Schnäbeln und menschlichen Händen schreiend an meinen Gedärmen zerrten. Im undurchsichtiger werdenden Dunst zwischen Bäumen und Wiese richtete ich mich auf, ich konnte nicht sagen, wieviel Zeit vergangen war, und stützte mich auf dicke Polster aus Moos. Fast war ich daran, tiefer einzubrechen in den Wald und immer nur weiterzugehen, hinein in die kühle Wildnis. In der Ferne sah ich plötzlich den graugrünen Widerschein eines Ozeans und einen Strand am Ufer liegen, grasüberwachsene Dünen landeinwärts, auf denen Mammuts grasten, bis hoch auf ein Schattenplateau unter schneehellen Bergen, ein Landstrich aus weißem kristallinischen Marmor, der in ruhigen Linien zum Meer sich senkte. Dort trieb eine Wand aus Wasser ein Schiff in die Felsen, verkeilt lag es da, eine Weile im Gestein ächzend, als hätte es sich in der Todesnot noch an Land retten wollen. Manchmal leuchtete am versinkenden Bug noch der Name des Schiffes auf, Yamoussoukro, weißfleckige Land- und Seekarten wogten zwischen Holzwerkzeugen, Kleidungsstücken und Weinkisten, dahinter Walfische, die von Seevögeln flankiert dem Wrack sich näherten und Wasserfontänen hoch in die salzige Luft sprühten; um sie herum überall haifisch- und lindwurmartige Rachen, Zahnschlünde und aufgeworfene Rümpfe, aus denen Lava von Rotz rann, flossenförmige, kaltlappige Flügel, Haar und Hörner, Haut wie nach außen gekehrtes Gekröse, und in der obersten Höhe das bunte Gefieder des Drachens Ikarus, segelnd inmitten der Ströme des Lichts.

Ich verlor mich.

Zaunkönige sprangen bereits auf meinem zur Hälfte versteinerten Leib herum, als ich mich erhob und taumelnd zurück auf den Weg trat. Es war das Knirschen von feinem weißen Kalkschotter unter meinen Schuhen, das mich zurückbrachte. Als ich ein aufgelassenes Viadukt passierte und dahinter eine verwilderte Scheune, über deren nur noch in einer rostigen Angel hängender Schwingtür ein von Asseln und Schnecken überwuchertes und wie zum Anruf im Wind klapperndes Schild zum Oklahoma Naturtheater hereinbat, meinte ich für einen Moment aus dem Inneren eine von blechernden Hornsignalen und Orgelgeläut begleitete Tannhäuser-Arie zu hören. Mein Mund war trocken vor Durst, es roch nach Schwefeldunst. Das Land brennt schon, dachte ich und beschleunigte meinen Schritt.
Am Ende des Tobels erst bremste mich Seitenstechen, ich stützte meine Hände auf die Knie und blickte über den Wiesengrund, der so ruhig vor mir lag, als sei er eine riesige rastende Kreatur und der langsam sich senkende Nebel ihr Kälteatem. Ich begann zu frieren, mein schweißnasses Hemd fasste mich wie eine kalte Hand am Rücken an. Doch als ich, kaum mehr als einen Steinwurf entfernt, auf die offenbar erst kürzlich restaurierte, weiß leuchtende Krummenbacher Kapelle stieß, in der S. einst vor dichter werdendem Schneefall Zuflucht gefunden und sich der Vorstellung hingegeben hatte, er triebe sicher in einem Kahn auf überschwemmtem Gebirge, fand ich sie zu meinem Schrecken verschlossen, und auch die von S. beschriebenen, seinerzeit von Schimmel überzogenen Kreuzwegminiaturen eines wenig begabten Provinzmalers waren, wie ich bei einem Blick durch das Fenster meinte erkennen zu können, mit weißen Laken behelfsmäßig und hastig (wie in Panik) verhängt worden, als sollte der tobende Geisterkampf, den S. in den auf ihnen abgebildeten Grausamkeiten ausgemacht hatte, auf diese Weise gebannt und Unglück vom nahen Dorfe abgewendet werden. Lange Zeit schien niemand im Innenschiff sich aufgehalten zu haben. Nur auf dem Boden vor dem Eingang lag erdverschmiert eine kleinformatige Trauerkarte mit dem Foto einer älteren Dame, die unter einem hoch sie überragenden Gipfelkreuz sitzt, Wind im kurzgelockten Haar und Quellwolken hinter ihr über den fernen, beschneiten und wie ineinander verkeilt gestaffelten Gebirgszügen. Die Spitze des Kreuzes stößt über den Bildrand hinaus in den sich bedeckenden Himmel. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen, der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Zur lieben Erinnerung an Annemarie Mühlegg, gestorben am 29. September 2009, geboren am 18. Mai 1945, genau ein Jahr nach S.
Ich fröstelte, ich hatte Hunger, und doch verspürte ich, als ich kurz darauf in Unterjoch auf erste Menschen wieder traf, ein junges in häßlich-neumodische Tracht gekleidetes Paar, dem ich einige Minuten durch den Ort folgte und das sich, bevor ich es ansprach, über den wohl für den Abend angedachten Besuch des Hindelanger Bauerntheaters unterhielt, seltsam heftigen Ekel und gleich darauf keine geringe Erleichterung, als es mir mitteilte, der Hirschwirt, in dem ich, wie S. es getan hatte, mich aufzuwärmen, eine Brotsuppe und ein Glas Tiroler zu mir zu nehmen geplant hatte, sei ihnen nicht bekannt. Dabei musterten sie mich von oben bis unten, als hätte ein nie zuvor gesehenes Tier zu ihnen gesprochen.

Die Natur, für S. war sie die Heimat, aus der wir für immer ausgewandert sind. Nur in der Kunst ist sie uns noch zugänglich und bereitet uns Schmerz und Angst wie der Anblick eines offenen Grabes. Die Verwüstungen der Seele fand S. in der Natur wieder, in ihren Versehrtheiten, die wir ihr zufügen, als wollten wir uns rächen für ihren Gleichmut, als wollten wir uns nicht anerkennen als das flüchtige Experiment ihrer Schöpfungsmacht, die, wie S. schreibt, schon ausschlachtet, was ihr gerade erst gelang. Ihr einziges Ziel ist ein Sprossen und Sichforttreiben, auch in und durch uns. Ruinen, Katastrophenräume – der Mensch kann die Geschichte der Natur nicht erzählen ohne jene seiner Hybris, des Verlusts der gemeinsamen Sprache; sie zu lernen bedeutete für S., sich zu verlieren in ihr wie in einem Labyrinth oder dem Schneesturm, durch den K. dem Schloss sich nähert und der Heimat und der Liebe und dem Tod, allesamt Spielarten desselben Schwindels.

Dass ich, der ich mich noch in den eigenen vier Wänden verlaufe, nach Einsetzen der Dunkelheit meinen Pfad durch den Tannenwald und bis zur nach Wertach führenden Straße ohne Furcht, ja geradezu heiter und ohne den geringsten weiteren Umweg fand, erschien mir, während ich die kühle Nachtluft mit jedem Schritt tiefer einsog, so selbstverständlich wie eine gerechte Fügung, die ich so wenig anzweifelte wie man auch einen Schmerz nicht in Frage stellt. Müdigkeit und Hunger waren mit dem Abendnebel verflogen, und ich kann nicht ausschließen, sogar ein Lied angestimmt zu haben, während ich immer wieder, wie ein sich auf vertrautem Terrain vorwärtstastender Blinder, sanft über die rechterhand aufragenden Felswände strich. Niemand begegnete mir auf dem letzten Stück des Plätt, entlang des Flusses und der ersten anliegenden Gehöfte, niemand außer einer Gruppe von vier jungen Männern, dem Knabenalter kaum entwachsen, von denen einer, den die anderen Alois nannten, mit bayerischer Färbung sprach, und die mit rußgeschwärzten Gesichtern und alten, an abgewetzten Lederriemen hinter den Schultern hängenden Jagdgewehren freundlich grüßend und feixend an mir vorbei bergauf in die Schwärze des Waldes gingen als zögen sie übermütig in ein letztes Gefecht. Der Berg warf das Echo ihres Lachens noch lange auf mich zurück wie eine ungute Erinnerung. Auf der Steinbrücke über der Ach verweilte ich ein letztes Mal, so wie S. es getan hatte, und horchte auf das Klirren der Kälte. Doch während er an dieser Stelle vor Müdigkeit kaum mehr hatte gehen können, fing ich trotz meines Durstes plötzlich an zu laufen, den Lichtern Wertachs entgegen, vorbei am Schuttanger, auf dem in den Sommermonaten der Nachkriegsjahre Zigeuner ihr Lager errichtet hatten, und von denen S. schreibt, dass kaum ein Einheimischer je ein Wort an sie gerichtet hätte. Ich rannte und meine Schritte lärmten in der Nacht wie zum Alarm, erst am Ortsschild hielt ich inne, klappte keuchend vornüber, stützte mich ab am Pfosten, endlich ruhig, endlich leicht. Fallen fühlt sich an wie Fliegen, für einen kurzen Augenblick.

Heimat als Chiffre eines früheren Lebens bedeutet, Wir sagen zu dürfen, sie lockt mit der Wahrheit einst empfundener Zugehörigkeit und bleibt doch ein brüchiges, nie zu greifendes Trugbild. Der Tod, das wusste S. von Kafka, war dem Menschen stets die wahre, die andere Heimat, der eigentliche gute Ort, er nimmt ihn auf, den ewigen Fremdling und Pilger zwischen den Welten. Heimat fand S. wie alle Ausgewanderten nur im Gedanken-Gang, im Wandern selbst, als Vor- und Nachspiel der Emigration. Im Flanieren des Lesens und Schreibens überwand er das geduckte Schweigen seines begradigten, betonierten Vaterlandes, das nur ein Liebender so anmutig verachten kann.

Alles Gewicht fiel von mir ab. So schwebend ging ich durch die nächtlichen, nur spärlich beleuchteten und schon zu dieser frühen Abendstunde von kaum einer Menschengestalt mehr bevölkerten Straßen, als hätte ich keinen Tagesmarsch in den Beinen, sondern sei eben aus langem Schlaf erwacht. Jedes Haus, jede Einfahrt wollte ich einzeln bedenken, wie in Kindertagen, wenn ich nach Rückkehr von einer Sommerreise andächtig durch alle Zimmer unseres Hauses geschritten war, um sie zu begrüßen, um mich ihnen zu zeigen, halb Odysseus, halb verlorener Sohn. Ich war noch niemals hier gewesen, und doch erinnerte mich alles an alles. Als ich im Schein meines Feuerzeugs auf einer historischen Tafel kurz hinter dem Ortseingang las, dass Wertach 1423 zum Markt erhoben worden war, meinte ich, als Junge jedes Jahr schon Wochen vorher auf die Viehscheid hingefiebert zu haben, wenn zum Ende des Herbstes hin die Tiere zum Überwintern von den Almen ins Tal und in die Stallungen der Höfe getrieben wurden, und es mit der Mutter, die niemals sonst so ausgelassen war, zum Krämermarkt ging, wo wir bei Josef und Anton Breitreiner hausgebrannten Waldbeerlikör tranken und Weißlacker Bierkäse kauften, von dem die Brüder stolz behaupteten, er sei einst der erste patentierte Käse der Welt gewesen. Oft ganze Nachmittage hatte ich unter ihrer geduldigen Obhut in der Käserei das Brennen der Bruchmolke verfolgt, das Ablöschen mit Salzwasser, das Anreichern mit Kälberlab und Gießen in runde Käseformen, und ebenso groß war immer die Sorge am Abend gewesen, den Worb beim Pressen über Nacht sich selbst zu überlassen, wie am Morgen das Staunen, wenn der dickgelegte Bruch wie durch ein Wunder die Größe von Weizenkörnern erreicht hatte. Manche behaupteten, allein der Gestank des Weißlackers habe 1866 die rasenden Preußen in die Flucht geschlagen.
Alles duckte sich verlassen zusammen. In der Ortsmitte die dunklen Scheiben einer Touristeninformation, eine Büste König Ludwigs im Schaufenster, dessen Widergänger S. einst in Italien aufgelauert hatte; Reklame für „Gipfelerlebnistouren“ und „heilsames Singen“, für Kutschfahrten, Trommelkurse und Skisauna, für Jodlerprobe und den „Kraftplatz Steinlabyrinth“. Durst, ich hatte solchen Durst. Gegenüber, unter trauernden Kastanien, die türkis gestrichene Fassade des Engelwirts, in dem S. vor zweiundzwanzig Jahren vier Wochen lang gewohnt und seine heimatliche Rückkehr niedergeschrieben hatte, in seiner Kindheit noch, schreibt S., ein übel beleumdetes Wirtshaus, in dem die Bauern die Winternächte bis zur Besinnungslosigkeit durchtranken. Vorbei an der Sennerei grüßte ich drei als Hofkadetten verkleidete Buben, die wohl zum Fasnachtsfest Richtung Vorderschneid abbogen, mit einem vertrauten „Servus“, obwohl ihre Gesichter zu Fratzen geschminkt waren und mich als Kind die Faschingsmasken oft noch monatelang bis in die Träume verfolgt hatten.
So zielsicher, als wandelte ich im Schlaf, bog ich in den Grünen Weg ein und stand schließlich vor dem zwischen Bäckerei und Adlerhof zurückgesetzten Seefelderhaus, in dessen Dachwohnung, die sein Großvater bewohnte, S. im Mai 1944 geboren worden war. Noch immer prangte im ersten Stock ein breiter Erker mit hohen, weißlackierten Fensterkreuzen über zwei doppeltürigen Holzeinfahrten, hinter denen der Schmied Ure Seefelder in den Jahren vor dem Krieg eine Maschinenhandlung eingerichtet hatte, und in dem nun anscheinend der Fuhrpark eines Taxiunternehmens seine Nachtstatt gefunden hatte. Die Fenster im Wohngeschoss waren noch hell erleuchtet und an den Vorhängen glaubte ich für einen kurzen Moment zwei ineinander verschlungene menschliche Schemen auszumachen, einen Mann in der Haltung eines mühsam gegen den Wind angehenden Menschen und eine Frau, die mehr und mehr ihm entgegenrückte, bis sie zusammen nur noch eine einzige, nicht mehr unterscheidbare Form bildeten. Links und rechts des Erkers schmückte eine matte Malerei die Wand unter dem Zimmerfenster, wobei ich nicht erkennen konnte, ob die Rückenansicht Götz von Berlichingens und die ihm zur Seite stehende Kanone samt dreier Kugeln noch jene Fresken des Malers Josef Hengge waren, deren erdfarbige Darstellungen von Krieg und Landarbeit, von Holzern und Schnitterinnen, den Knaben S. so tief beunruhigt hatten, dass er nur mit abgewandten Augen daran hatte vorbeigehen können.

An der Wand der Raiffeisenbank flatterte ein Plakat, das den neuen Film im Kemptener Kino anpries: „2012“.

Ich begegnete kaum jemandem, sprach mit keinem, kehrte nirgends ein. Zäher weißer Speichel war in meinen Mundwinkeln zu krustigem Schorf geronnen. Ich lief herum, bis ich gefunden hatte, was ich brauchte; ich weiß nicht, wie lange. Alles war viel einfacher, als ich es mir, hätte ich auch nur eine Minute darüber nachgedacht, vorgestellt hätte. Im zum Geräteschuppen umfunktionierten alten Schober eines Teppichfabrikanten fand ich zwei große leere Plastikkanister, und dass es mich nur drei flüchtige Blicke durch den hinteren Teil des Raumes kostete, um ein passendes und ausreichend langes Stück alten Gartenschlauchs zu entdecken, wunderte mich nicht im Geringsten. Am längsten dauerte es, genügend Autos mit unabgeschlossenen Tankdeckeln zu finden, aber Eile war ebenso wenig geboten wie überbordene Vorsicht; einmal sogar fragte ich einen mich mißtrauisch beobachtenden Herrn, der auf einem Waldhörnchen seinen Stumpen rauchte, ob er mir eben zur Hand gehen und den Kanister halten könne, während ich den Schlauch einführte. Anschließend verabschiedete ich ihn augenzwinkernd in die Nacht. „Falsches Benzin getankt“, sagte ich, bevor er fragen konnte, „meine Frau übt noch.“
Es schwindelte mir langsam vor Durst und bei jedem Fahrzeug aufs Neue musste ich mich dazu anhalten, nicht gierig hinunterzuschlucken, wenn das angesaugte Benzin beißend scharf in meinen Mund schoss. Als die Kanister voll waren, ging ich zurück zum Seefelderhaus, hier natürlich musste es beginnen.
Die Flamme stach zu mir auf wie eine zustoßende Giftschlange; und wie diese schlängelte sie sich sogleich lautlos die ausgelegte Zündspur entlang, unter der Holztür hindurch in die Garage, die sich nach einer langen Weile, während derer nur schüchtern etwas Rauch unter dem Spalt hervor in die Kälte quoll, widerstandslos den Flammen überließ. Die gewaltige Detonation des Taxitanks hörte ich nur noch aus der Ferne, da brannten bereits die Teppiche des Fabrikanten und der Schnaps im Adlerhof. In der Gaststube des Engelwirts loderte bald die Holztäfelung, über der die ausgestopften Marder, Luchse und Geier darauf lauerten, endlich Rache zu nehmen. Selbst den meterdicken Kastanienstamm an der Auffahrt zum Parkplatz hatte ich bis auf Kopfhöhe entzündet. Wie von einer riesigen Lichtorgel orchestriert leucheten nun überall die Zimmer auf, aus dem Schlaf gerissene Kinder heulten an den Fenstern. Je mehr Menschen aus ihren Häusern liefen, in Schlafkleidung noch und eilig übergeworfenen Jacken, brüllend und rennend, während irgendwo eine Sirene ertönte, desto unbehelligter, ja unsichtbarer wandelte ich mitten unter ihnen durch die Gassen und stimmte noch ein in ihren Chor, Zum Adlerwirt, zur Wagnerei!, so als trüge auch ich zwischen all den schwappenden Eimern und nassen Decken, die nun von allen Seiten an mir vorbei gewuchtet wurden, Löschwasser in meinen Kanistern zu den Brandstellen.
Um uns der Widerschein, ich sah das Feuer wachsen mehr und mehr. Es war nicht hell, sondern ein blutig böses Lohen, Krachen und dumpfe Schläge von überall, Wellen in der Luft. Kisten und Körbe, Schellen und Stricke, Felle und Honigrahmen warfen sich in seit Jahrzehnten getrockneten Dachböden dem Feuer in die Arme, und inmitten des Tosens erklang in der Ferne eine Reihe kurzer hoher Seufzer, als lösten sich schwere Messingsaiten von einem einst virtuos gespielten Kontrabass. Wieder meinte ich Schwefel zu riechen, als ich einen brennenden Ast auf den Walmdachstuhl einer kleinen geschindelten Villa schleuderte und wartete, bis die Flammen auch am Hirschgeweih über dem Eingang und am Namensschild, das Familie Fürgut verhieß, fingerten. Ich machte einen Bogen um Kaplanhaus und Bürgermeisteramt und zerwarf kurz unterhalb des Abzweigs nach Oberellegg mit einem flachen Stein das Schaufenster einer Kurz- und Kolonialwarenhandlung. Mieder, Garne und Gardinenstoffe verdampften nur Augenblicke später. Eine alte Schneiderpuppe mit hechtgrauen Beinkleidern und passendem Jägerrock, dessen Kragen, Aufschläge und Vorstöße einmal von grasgrüner Farbe gewesen sein mussten, ging innerhalb von Sekunden in Flammen auf, als erfüllte sich ihr ein langgehegter Wunsch.

Ich kann nicht sagen, wie lange es dauerte, bis ich das Plateau der Pfarrkirche St. Ulrich erreichte, deren tonnengewölbtes Langhaus und filigran gerippter Zwiebelturm mich wie ein Bannstrahl auf die Anhöhe geleitet hatten. Aber ich erinnere mich daran, vorher im Saal eines offenstehenden Laientheaters noch so lange die für die nächste Probe zurechtgelegten Ritter-, Räuber- und Zaubererkostüme betrachtet zu haben, bis auch die letzte Pfauenfeder versengt war. Ich erinnere mich an mein Staunen über die gleichmütige Gerechtigkeit, mit der im Klassenzimmer eines benachbarten Volksschulhauses die Flammen sich der Tischdecken, des Weihnachtsschmucks und der gestickten Alpenlandschaften unterschiedslos annahmen und anschließend der in Leinen gebundenen Folianten und dramatischen Schriften. Skatkarten, die auf einem gläsernen Beistelltisch in akkuraten Fächern lagen, als sollte ein nur kurz unterbrochenes Spiel sogleich neu aufgenommen werden, wellten und rollten sich, stoben der Reihe nach in die Höhe und sanken zurück wie zum entscheidenden Stich. Im Bottich des Hammerschmieds siedete das Wasser. Durch das Fenster des Cafés Alpenrose sah ich türkischen Honig in einem verrußten Silbertopf Blasen werfen, bevor dieser barst, und auf der Anrichte für die Fasnacht gebackene Krapfen unter einem Glassturz zu kristallenem Brei zerlaufen. Auf der Bergstraße musste ich zum zweiten Mal an diesem Tag einem tollgewordenen Pferd ausweichen, einem schwarzen, in irrer Angst austretenden Rappen, dessen lodernde Mähne im Laufwind einen weithin sichtbaren Fackelschweif hinter sich herzog. Nur die Uhrwerke des Reparateurs Ebentheuter tickten noch gleichgültig, während ihre Gehäuse, Hunderte von Standuhren, Regulatoren, Wohnzimmer- und Küchenuhren, Weckern, Taschen-, Sack- und Armbanduhren (als könne ein Ziffernblatt allein nicht genug Zeit zerstören), bereits hell erglimmten. Auch das Transformatorenhäuschen hielt lange stand, aber als es schließlich nachgab, versank der ganze Ort in vollkommenster Dunkelheit, zerrissen nur von leuchtenden Feuergarben, von aus den Nachbargemeinden heranheulenden Notarzt- und Spritzenwägen und von wilden, wie von Urzeittieren ausgestoßenen Schreien.

Lange bin ich dann über den zum Südeingang der Kirche gelegenen alten Pestfriedhof gelaufen, an dessen Ende der Heilige Georg mit dem Spieß einem greifartigen Vogeltier den Rachen durchbohrt. Hinter der Glut der Dächer zeichnete sich der offene Talgrund ab bis zu den bewaldeten Vorbergen, hinter denen sich der Felsgrat des Sorgschrofen mächtig erhob. Am Himmel waren wieder Wolken aufgezogen und zweimal meinte ich, Flockengestöber hervorbrechen zu sehen. Meine Finger rochen nach verbranntem Horn. Unweit läuteten Kuhglocken friedlich und die Schellen junger Geißen. Im warmen Schein des nun langsam verebbenden Feuers versuchte ich die Inschriften der Grabsteine zu entziffern, bis mein von der Anstrengung des Aufstiegs heftig schlagendes Herz sich beruhigt hatte. Vor allem die alten, längst nicht mehr gebräuchlichen Berufsbezeichnungen führten mich von einem Grab zum nächsten; ein Rudolf Rambousek war Hantzkemacher gewesen, eine Rosina Zobel Küfergehilfin, ein Hans Schlag Flösser, und ich klopfte meine Taschen nach Bleistift und Notizheft ab, um sie in meiner Erschöpfung nicht zu vergessen. Zwischen den Grabstellen waren in Stein eingefasste und mit zum Teil gesprungenem Glas geschützte Holzreliefs biblischer Ikonographien errichtet worden, und auf das von zwei einander sich zuneigenden Birken überdachte Grab eines Kindes hatte man Sand zu einem winzigen Strandstück aufgeschüttet. Darin steckten eine kleine rote Blechschaufel, eine hölzerne Sonne, ein Engel aus Gips und ein Windrad, welches sich mal zur einen, mal zur anderen Seite drehte, so unentschlossen wie ein gelangweiltes Kind beim sonntäglichen Kirchgang.
Ich sank mehr ins Innere der Kirche, als dass ich eintrat. Im Portalvorbau wischte ich mit letzter Kraft Prospekte von hölzernen Anrichten, angerissene Aushänge und Einladungen zu Bibelgesprächskreisen, Besinnungswochenenden und Pilgerreisen, und gelangte durch eine mit geschwungenem Messingbeschlag verzierte Tür ins Hauptschiff, wo mich augenblicklich fast völlige Finsternis und eine solch erlösende Stille umgaben, dass ich es kaum mehr auf eine der hinteren Sitzreihen schaffte vor lauter Tränen.

Keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal.

Rücklings lag ich ausgestreckt auf einer erdig-süß nach lebendigem Holz riechenden Kirchenbank und horchte in die Lautlosigkeit hinein, bis in den ovalen, oben und unten halbkreisförmig geschlossenen Fenstern erstes Dämmerlicht die Glasmalereien sichtbar machte. Plötzlich dachte ich wieder an S. Daran, wie er als Junge von diesem Platz aus so neugierig wie ängstlich ob der da vorne undurchsichtig sich vollziehenden Rituale zum Tabernakel am Hauptaltar und auf den Cherub der beiden Seitenaltäre geblickt haben mochte, neben ihm der Großvater und hinter ihm, unter den Wendelaufgängen zu Orgel- und Chorempore, die jährlich um diese Zeit eintreffenden Josefwallfahrer. Ich dachte daran, wie er jede Woche aufs Neue der tief raunenden Predigt des Pfarrers nicht lange hatte folgen können und seine Augen versanken im golden leuchtenden Relief Jerusalems hinter dem Altarkreuz, den Ähren und Früchten in den kleinen rosafarbenen Händen der Putten, in der Strahlenmonstranz, über deren Fuß sich die Figur des Erzengels Michael über den Teufel erhebt und mit erhobenen Armen die vielstrahlige Sonne stemmt. Ich stellte mir vor, wie S. sich Sonntag für Sonntag jedes Detail des Altargemäldes, auf dem die heilige Familie aus Ägypten zurückkehrt, einzuprägen versuchte, und jede Schwingung des muschelförmigen Taufbeckens aus rotem Marmor, und wie er es mied, den überlebensgroßen Apostelfiguren in die Augen zu sehen, so lebendig und strafend gingen stets ihre Gesichter ihn an – wie auch die der linker- und rechterhand auf Gewölbezwickeln stehenden Kirchenväter, von denen ihm Ambrosius, mit Bienenkorb und Geißel, von jeher die größte Furcht bereitet hatte. Ich sah ihn in ordentlicher Ledertracht und kratzenden, bis auf die Knöchel herabgerutschten Kniestrümpfen, wie er sich, sobald die Orgelpfeifen erklangen, in einen der Beichtstühle wünschte, damit seine Kameraden ihn nicht ergriffen sahen, von der Musik; wie er, weil vor dem Kirchgang das Frühstück verschmäht wurde, vor Hunger nach den geschnitzten Trauben hätte greifen wollen und wie er, der von klein auf keine geschriebene Zeile ungelesen liegen lassen konnte, mitten im Gebet den Kopf schräg legte, um mit verengten Augen an der Rückwand der Kanzel die Aufschriften an den Gesetzestafeln des Moses zu entziffern.
Ich überlegte, wie es wäre, alles aufzugeben außer dem Schauen. Und erst als das frühe Morgenlicht den Blick freigab auf den dreiachsigen Chor und die Stichkappen, die über den Fenstern ins Gewölbe eingreifen, erst als ich mich in den von Bögen unterteilten Gewölbejochen hoch über mir verlor, als deckten sie mich zu von dort, und ich meine Augen nicht mehr abwenden konnte von einer der Fresken an der Decke, die den Tod des Josef zeigt, ruhend im Schoß Mariens, während Christus ihm in seiner Agonie die Hand hält, dem heiligen Josef, dem Schutzpatron für einen guten Tod, da fand ich endlich Schlaf.

 

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