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Eine eigene Ewigkeit

Der Sänger Dietrich Henschel begibt sich auf Spurensuche in Toblach: Dort hat Gustav Mahler seine letzten Sommer verbracht.

Nachdem Ende des neunzehnten Jahrhunderts die Südbahn ausgebaut worden war, hatte sich Toblach zur beliebten Sommerfrische der Wiener entwickelt. Ich bereise es nun, hundert Jahre nach Mahlers letztem Aufenthalt, zur „falschen“ Jahreszeit. Nach einer ereignisreichen Woche, die mir nacheinander die erstmalige Aufführung von Mahlers „Lied von der Erde“ als Sänger und die Uraufführung eines auf dem Schubert’schen Schwanengesang fußenden Theaterstückes abverlangt hat, kommt mir die Aufforderung der Redaktion wie eine geistige Erholungsreise vor: Suchen Sie Mahler in Toblach und schreiben Sie einen Artikel darüber.

Mahler – was für ein Gigant. Ein Komponist, dessen Werk alle bestehenden Dimensionen gesprengt hat. Der in der großen Form der Symphonie ebenso bahnbrechend war wie in der relativ kleinen Form des Liedes. Der in seinem Werk so unmittelbar wie niemand vor ihm Biographisches verarbeitet hat. Der bis heute nur entweder entschiedene Gegner oder entschiedene Verfechter unter den Musikern hat. Kalt lässt er niemanden.

Mahlers Werk war nicht von Anfang an der Selbstläufer, den es jetzt als ein Kernbestandteil des internationalen Orchesterrepertoires darstellt. Erst seit den frühen sechziger Jahren, in denen vor allem durch die legendären Interpretationen durch Leonard Bernstein Mahler dem Publikum nahegebracht wurde, ist seine Bedeutung für das Konzertgeschehen stetig gestiegen; heute ist sie schwindelerregend hoch. Es gibt wohl kaum einen verlässlicheren Publikumsgaranten für einen Konzertveranstalter als den zu Lebzeiten durchaus streitbaren und umstrittenen Komponisten-Dirigenten.

Es ist also kein Wunder, dass ein Ort wie Toblach, der in den letzten drei Lebensjahren des Genies zur Produktionsstätte erwählt war, den Namen Mahlers zur Werbung für sich verwendet; auch ein Mahler-Fest muss es hier natürlich geben.
Malerisch – ohne h – ist das einzig angemessene Wort für diese Landschaft. Und, vergleicht man Fotos von der letzten Jahrhundertwende mit Bildern von der gerade zurückliegenden, stellt man fest, dass bei aller Veränderung der Aspekt „Idylle“ durchaus nicht klein geworden ist: Es ist schön hier. Suchen wir also, wenn auch zur Winterszeit, die Originalschauplätze Mahler’scher Gegenwart auf, versuchen wir die Geister seiner Inspiration vor Ort zu erspüren.

Das Jahr 1907 – hat es einen Sinn, immer in Jahreszeiträumen zu denken? Ich finde: ja, auch im Rückblick auf mein eigenes Leben hilft mir das Jahresraster bei der Orientierung. Es war ein schreckliches Jahr für Mahler, das Jahr 1907. Wenn ich versuche, mir seine Situation vorzustellen, lehnt sich alles in mir dagegen auf: Der Komponist der traurigsten und tragischsten Lieder, die ich überhaupt kenne, nämlich der Kindertotenlieder nach Gedichten von Rückert, erlebt zwei Jahre, nachdem er diese geschrieben hat, den Tod seiner Tochter Maria durch Diphterie. Sein eigenes Werk muss ihm wie eine Prophezeihung vorgekommen sein. Der Biograph Jens Malte Fischer beschreibt, wie sich in Mahler danach ein psychischer Verdrängungsprozess durchsetzte, dass in den Briefen Mahlers nach dem Tod Marias kaum von ihr die Rede ist und er eine gewisse erzwungene Leichtigkeit aufgesetzt zu haben scheint. Aber in seinem Innersten muss es verheerend ausgesehen haben. Den bisherigen Sommeraufenthalt in Maiernigg ertragen die Mahlers nicht mehr, und so wird Toblach die neue Sommerfrische, ein Ort, der ihnen von früheren Wanderausflügen bekannt war. Fünfzehn Gehminuten Richtung Alt-Schluderbach, im Trenkerhof, mietet man ein Stockwerk und richtet sich ein.

Bis zu diesem Zeitpunkt war Mahler ein Mensch gewesen, den man nach heutigen Begriffen als einen Hobby-Extremsportler einstufen müsste; zum Ausgleich seiner geistig-schöpferischen Arbeit hatte er physische Erschöpfung auf Bergtouren und beim Schwimmen gesucht; die Komponierarbeit, die er im Wechsel mit der während der Theaterspielzeit ausgeübten Dirigiertätigkeit jeden Sommer betrieb, war für ihn immer eng mit sportlichem Ausgleich verbunden. Auf stundenlangen Wanderungen lüftete er den Kopf und fand Inspiration durch Nähe zur Natur. Sehr hart traf ihn also die im Zusammenhang mit dem Tod seiner Tochter erfolgte ärztliche Diagnose einer Herzerkrankung, aufgrund der ihm Sport künftig untersagt wurde. Dieses war der nächste Schicksalsschlag des Jahres 1907, wohl auch seinetwegen fiel die Wahl auf Toblach, das nicht an einem großen Badesee gelegen ist, der Mahler zum Schwimmen verlockt hätte. In Toblach also suchte er Distanz von dem schrecklichen Erlebnis und Wiederherstellung seiner Gesundheit. Einsamkeit, Ruhe für die Seele, Trost in der Natur. Und vor allem: Ruhe für seine Arbeit.

Toblach ist heutzutage im Winter ein Wintersportort. Es gibt gut gespurte Loipen, Lifte, ein Stadion, alles ist perfekt eingerichtet. Auf einer Loipe wandere ich zu Fuß zur Gustav-Mahler-Stube, das Lokal im Trenkerhof, direkt unter den Räumen, die die Mahlers in den Sommern 1908, 1909 und 1910 angemietet hatten. Im anliegenden Wildpark befindet sich die Kultstätte der Mahlerpilger, das Komponierhäuschen des Meisters. Im Trenkerhof die Enttäuschung: die Räumlichkeiten der Mahlers sind nur im Sommer zu besichtigen, im Winter geschlossen. Nein, auch in meinem Fall gibt es keine Ausnahme. Schauen Sie sich doch das Komponierhäusl an, das ist ganzjährig geöffnet. Eintrittskarte für den Wildpark an der Bar. Na gut, nix zu machen; wenn man Mahler in Toblach besuchen will, muss man eben dann kommen, wenn auch er kam: im Sommer. Schauen wir uns also das Häusl an. Von der Bar über die Straße zum Wildpark, das Gittertor wird automatisch geöffnet, als ich davor stehe. Vorbei an Miniponys, die im Schnee liegen und sich wohlfühlen. In der kleinen Voliere daneben halten zwei Prachtuhus meinem Blick stand. Das kleine Häusl danach ist nicht die Komponierstube Mahlers, sondern die Wohnung vom Hängebauchschwein, das lautstark versucht, eine Konversation mit mir aufzunehmen. Fünfzig Meter weiter dann: das Allerheiligste, das kleine Blockhaus, vielleicht drei auf drei Meter Grundfläche, dreiseitig befenstert. Im Innern leer geräumt, ausgestattet lediglich mit einer Zeittafel und ein paar etwas unmotiviert zusammengestellten Zeitdokumenten an den Wänden. Immerhin ist das Häuschen baulich sehr hübsch, mit einigem Aufwand gezimmert, mehr als nur ein Bretterverschlag. Einen Vorteil bietet der Winter: der Schnee dämpft die Geräusche, die vor allem von der weiter unten gelegenen Straße herauftönen. Im Sommer sind die sicherlich viel lauter. Mahler könnte es hier heute nicht mehr aushalten. Die Lage des Häuschens war damals ein Garant für perfekte Einsamkeit und Abgeschiedenheit. Mahler hat sogar einen Zaun drum herum errichten lassen, um totale Ruhe zu finden. In den ungefähr komponierhäuschengroßen Wildtierhütten nebenan ist Füttern erlaubt, Futter an der Bar erhältlich. Einige von den Bewohnern zeigen sich, andere nicht; im Mahlerstall ist keiner drin.

Als ich zum ersten Mal die „Kindertotenlieder“ hörte, war ich ungefähr vierzehn Jahre alt. Ich habe die Situation noch im Gedächtnis, als wäre es gestern gewesen: Radioübertragung eines Konzertes aus dem Herkulessaal der Münchner Residenz mit Brigitte Fassbaender. Eines der Hörerlebnisse, die prägend waren – es gibt Werke, bei denen man, wenn man sie zum ersten Mal gehört hat, hinterher ein anderer Mensch ist. Die „Kindertotenlieder“ haben mich erschreckt und fasziniert, die Schönheit und Großartigkeit des Leidens, das sie beschreiben, haben in meinem jugendlichen Gemüt fast etwas wie Verstörung ausgelöst. Die überwältigende Ästhetik des Schmerzes in einer so erbarmungslos schönen Komposition bewirkt, dass man diesen Liedern restlos verfallen kann.

Ich habe später – während des Gesangsstudiums – begonnen, mich mit ihnen interpretatorisch zu beschäftigen. Erst Jahre nachher habe ich sie erstmals öffentlich gesungen, im Rahmen meiner Aufnahme mit Kent Nagano und dem Hallé-Orchester Manchester, danach noch einige Male in Konzerten. Seit ich Kinder habe, habe ich sie nur noch einmal interpretiert; immer wenn ich nach Mahler-Programmen gefragt werde, gebe ich anderen Liedern den Vorzug. Ich kann sie nicht mehr aushalten. Der Gedanke an den Tod der Kinder ist mir zu schrecklich. Wie muss Mahler sich gefühlt haben, als seine Tochter starb! Er muss sich als der Augur und künstlerische Vorausverwerter des Todes seines Kindes vorgekommen sein. Ich kann mir kein schlimmeres Gefühl vorstellen; dieses Schicksal hat mindestens die Dimension einer klassisch-griechischen Tragödienfigur. Seine Gefühlswelt muss innerlich zerstört gewesen sein (was auch aus den erhaltenen Briefen hervorgeht); zu der emotionalen Katastrophe kam noch der Eindruck des beginnenden, eigenen körperlichen Zerfalles, der Zwang, alle Lebensgewohnheiten umzustellen …

Mahler zerbrach nicht; noch nicht. Seinem Genie war es noch möglich, die Krise zu verarbeiten. Er war in der Lage, sich künstlerisch neu zu erfinden. Es entstand ein neuartiges Werk, ein Liedzyklus in Form einer Symphonie: „Das Lied von der Erde“.

Ich beschließe, mich auf einen Mahler-Rundgang zu begeben, nicht auf den vom Fremdenverkehrsbüro
vorgesehenen Gedenkgang, den ich wohl durch meinen Gang hierher zum Häuschen sowieso schon abgeschritten habe, sondern hier, hinter dem Haus den Berg hoch in den Wald und in die Natur. Im Schnee. Mahler ist hier sicher oft entlanggegangen, allerdings, aufgrund seiner Diagnose, immer in Sorge um sein Herz. Alle paar hundert Meter soll er stehen geblieben sein, um den Puls zu messen. Sein Hang zur Hypochondrie, der nach Jens Malte Fischer wohl schon lange evident gewesen sein muss, wurde jetzt durch die Herzkrankheit zusätzlich befördert.

Hundert Meter oberhalb des Hauses sieht man vom Weg auf die Wiese, heute mit Skilift. Sieht irgendwie verlockend aus: Seit 23 Jahren war ich nicht mehr Skilaufen! Keine Zeit mehr gefunden und die Opernhäuser sehen es sowieso nicht gern, wenn ein Solist sich auf die Piste begibt: zu gefährlich. Seit meinem letzten Bühnenunfall vor zwei Jahren, bei dem ich mir die Kreuzbänder des linken Knies riss, weiß ich zwar, dass die Bühne mindestens genauso gefährlich ist wie eine Skipiste, aber der Gedanke an Wintersport ist für mich natürlich durch den Unfall in noch weitere Ferne gerückt. Jetzt und hier, sozusagen angesichts der „Gustav-Mahler-Skipiste“ kommt aber doch sehr große Lust in mir auf.
Der Weg führt mich tiefer in den Wald hinein. Ich bin hierher nach Toblach angereist ohne die passende Ausstattung, habe während der letzten Woche Theater- und Konzertproben gehabt und mit mir außer meinen Theaterstiefeln und den Konzertschuhen nur ein einziges weiteres Paar Halbstiefel mitgebracht, die auch schon einige Jahre auf dem Buckel bzw. auf den Sohlen haben. Wie ich jetzt feststelle, sind sie für Bergwanderungen eher nicht geeignet. Im Schnee schon gar nicht: Jetzt, wo er tiefer wird, sinke ich oft wadentief ein, wobei der Schnee von oben in die Schuhe dringt. Außerdem löst sich links die Sohle ab, der linke Fuß ist schon durchnässt. Trotzdem habe ich, opernsängeruntypisch, keine Sorge vor einer Erkältung, der Kreislauf ist ja gut in Gang. Im Schnee ist nur eine einzige Fußspur zu sehen, die mir entgegenkommt, abwärts führt. Folglich muss es einen begehbaren Rundweg geben. Ich laufe in der Fußspur nach oben, dadurch sinke ich weniger tief ein.

„Ich suche Ruhe für mein einsam Herz.“ Wieder und wieder singt es in mir; die berühmte Phrase, die ich vor fünf Tagen im Konzert singen durfte, geht mir nicht aus dem Kopf. Hier geschrieben, hier gefunden! Bergauf. Dolomiten, die roten Berge. Oder die weißen Berge? Für beides ließe sich Argumente finden … An ein paar Stellen schaut der Felsen durch den Schnee: weiß und rot. Über den jungfräulich unberührten Schnee stakst auf hohen Beinen eine Spinne: Ich hätte nicht gedacht, dass die winterfest sind. Die Sonne scheint, es ist einfach herrlich. Nach ungefähr einer Stunde ist mein Aufstieg zu Ende. Die Spur, in der ich aufwärts stapfe, verschwindet, hört einfach auf. Wie ist das möglich? Ich versuche, selbst weiter zu spuren, aber ich sinke bei jedem Schritt hüfttief ein, ohne Schneeschuhe ist hier definitiv kein Weiterkommen möglich. Zurück also.
Ich stelle fest, dass meine Hose, die ich auch zum Proben getragen habe, zwei große Risse am linken, oberen Hosenbein hat. Der Rückweg geht dementsprechend schneller: Um der Kälte zu entgehen, renne ich bergab. Unten angekommen ist mir wärmer.

Es gehört zum Allergrößten, „Das Lied von der Erde“. Man kennt dessen Einiges. Die Zauberflöte. Die Winterreise. Monteverdis Marienvesper. Bruckners Fünfte. Seine Achte. Brahms’ zweites Klavierkonzert. Seine Zweite, seine Vierte. Beethovens Symphonien, Streichquartette und Klaviersonaten. Bachs Gesamtwerk. Ist schon richtig: alles Allergrößtes; trotzdem ist die Mär vom Allergrößten gleichzeitig ein plattes, dummes Klischee. Das Allergrößte: für einen ausführenden Künstler immer das eben gerade auszuführende Kunstwerk. Das aber ist eine genauso leere, klischeeartige Phrase …

Beim Ausführen des Allergrößten hat man nur die Alternative, an dessen Größe zu scheitern, oder sie im Moment der Ausführung insofern zu ignorieren, als dass man sich selbst auf eine Ebene mit ihm, dem Allergrößten, stellt.
Das ist auch der einzige Weg, ihm gerecht zu werden. Ein Allergrößtes, das nicht mehr ausführbar ist vor Größe, ist nicht mehr groß. Zur Ausführung gehört ein menschliches Maß. Einige Komponisten des zwanzigsten Jahrhunderts hatten und haben damit ein Problem.
Nicht so Mahler: An der Ausführbarkeit seiner absurd großen Werke war ihm, dem Praktiker, dem Dirigenten, sehr gelegen. Er hat kein einziges Werk endautorisiert, bevor er es nicht ausprobiert und menschlichen Dimensionen angepasst hat. Aus seinen Briefen geht hervor, wie sehr er Wert auf die Endkontrolle, die Anpassung aller Vortragsanweisungen an die realistischen Konzertbedingungen legte, bevor das Werk gedruckt werden durfte, bevor er sein „Imprimatur“ darunter schrieb.

Im „Lied von der Erde“, genau wie in seiner neunten Symphonie und natürlich auch im Fragment der „Zehnten“ – eben allen in Toblach entstandenen Kompositionen –, fand die exemplarische Uraufführung unter seiner eigenen Leitung nicht mehr statt. Der Komponist, dessen Partituren eine bis dato unerreichte Exaktheit hinsichtlich aller aufführungspraktischen Elemente darboten, hinterließ seinen Schwanengesang ungeprüft, unautorisiert. Dies hat gravierende Konsequenzen hinsichtlich ihrer Aufführbarkeit.
Die Anforderungen an die Sänger des „Liedes von der Erde“ sind ungeheuer. Der Tenor muss gleichzeitig flexibel und lyrisch sein, aber über ein absurd lautes Orchester tönen. Der Alt (oder Bariton) muss in allen Lagen sprechend, flexibel und, wie Fischer-Dieskau sagen würde, „verschattet“ singen können. Er muss in allen Registern zu jeder Dynamik fähig sein, muss, auch wegen der nicht mehr vom Komponisten redigierten Vortragsanweisungen, mitunter gegen das Orchester anschreien und dabei trotzdem den ppp-Charakter seiner Phrasen, der vom Komponisten ausdrücklich verlangt wird, beibehalten. Als Sänger habe ich diese Aufgabe hinausgeschoben, um ihr wirklich gerecht werden zu können (bis zum vergangenen Donnerstag; war kein schlechtes Konzert, für ein erstes Mal …); als Dirigent habe ich die Herausforderung dieses Stückes schon vor einiger Zeit angenommen.
Im Bewusstsein der unrealistischen weil unredigierten dynamischen Anweisungen der Partitur habe ich als Dirigent eine der überlieferten Anweisungen Mahlers gegenüber seinen Adepten (Mahler war eben auch einer der größten Dirigenten seiner Zeit) wörtlich genommen: Wenn die Partitur eines Werkes Dinge vorgibt, die nicht realisierbar sind, obliegt es dem Dirigenten, sie zu ÄNDERN. Dynamik muss realistisch sein. Über ein klingendes Fortissimo der versammelten Blechbläser kommt kein Sänger der Welt, vor allem, wenn noch dazu seine eigene notierte Dynamik ein Piano ist.
Man muss also intervenieren. Man muss von den Orchestermusikern verlangen zu akzeptieren, was jedem Liedpianisten geläufig ist: Ein geschriebenes Fortissimo kann bedeuten, dass ein Pianissimo im Charakter eines Fortissimo die einzige Alternative ist.

Jenseits solcher aufführungspraktischer Gedanken fordert „Das Lied von der Erde“ das philosophische Verständnis des Interpreten. Mahler schuf eine Symphonie des Abschieds. Selbst die jugendlich-trunkenen Charaktere sind hier Abschiednehmende. Das „Trinklied vom Jammer der Erde“ ist ein Gesang, in dem der Protagonist inmitten einer dionysischen Gesellschaft geradezu zwanghaft immer wieder auf die Ausweglosigkeit des Daseins gestoßen wird: „Dunkel ist das Leben, ist der Tod.“ In den folgenden Liedern – die Einsamkeit, die Jugend, die Schönheit, die Trunkenheit: Stadien des Werdegangs des Menschen. Sie münden in das mit „Abschied“ überschriebene, inhaltlich wie durch seine ästhetische Gestalt überwältigende Schlusslied der Symphonie.
Alles ist genau kalkuliert in diesem Gesang. Mahler hat zwei Gedichte aus seiner Vorlage (Die chinesische Flöte, übersetzt von Hans Bethge) zusammengefasst. In erzählendem Tonfall wird die Situation dargestellt. Der Protagonist wartet inmitten einer symbolischen, sprechenden, gewaltigen Natur auf die Ankunft seines Freundes. Nachdem ihn die Stimmen der Natur und seiner Emotionen in überwältigendem Einklang in seiner Erwartungshaltung erfüllt haben, kommt der Freund herangeritten, was wiederum in erzählendem Tonfall (Mahler verlangt als Votragsanweisung: „ohne Ausdruck“, was nota bene ein ganz starker, eigener Ausdruck ist) berichtet wird. Er nimmt für immer Abschied von der Welt, in der ihm kein Glück beschieden war. Er bricht auf, eins zu werden mit Erde und Natur, „und ewig blauen licht die Fernen, ewig, ewig.“
Das Ewige, vielleicht sollte man genauer sagen: das Abstrakt-Ewige, von niemandem ist es nachdrücklicher evoziert worden, als von Monteverdi, Schubert und Mahler. Jeder der drei hat eine eigene Ewigkeit gefunden; Mahlers „Ewig, ewig“ jedoch stellt gleichzeitig den Schlusspunkt einer musikgeschichtlichen Entwicklung dar. Nach diesem „Ewig, ewig“ musste die Musik neu erfunden werden.

Zurück im Hotel stelle ich fest, dass meine Schuhe nicht mehr zu retten sind: Hackleder, komplett perforiert und zerrissen. Ich muss neue Schuhe kaufen gehen, ziehe mir zum Einkaufen meine Konzertschuhe an und begebe mich auf die Suche. Es ist gerade Winterschlussverkaufsbeginn, ich sollte also was finden. Zwischen Pfützen und Schneematschhalden hüpfe ich in Lackschuhen zum Sportgeschäft. Wenn Mahler das sehen könnte!

Schubert und Mahler haben allerhand gemeinsam. In Konzertprogrammen kombiniert man daher die beiden Wiener immer wieder, deren Klangsprache so rückhaltlos emotional ist. Beide sind dem „Volkston“ nahestehend. Beide haben eine sensitive, unmittelbare Art, ihre Gefühle musikalisch auszuschütten, so dass man im Innersten berührt ist. Beide haben die Fähigkeit gehabt, die Zeit anzuhalten.
Im Schubert’schen „Schwanengesang“, der sein letztes Werk ist, gibt es, wie im vorletzten vollendeten Werk Mahlers, ein Lied namens „Abschied“. Wenn ich die beiden Stücke nebeneinander betrachte, haben auch sie allerhand gemeinsam. Vor allem: sie haben eine unwahrscheinliche Distanz zur Welt, obwohl sie ihre Protagonisten mitten im Leben zeigen. Mitten im Leben und doch schon weit entfernt: Reisende soll man nicht aufhalten. Während man bei Mahler noch verstehen kann, dass er sich von der Welt zu verabschieden im Sinn hatte – schließlich war er als schwer herzkrank diagnostiziert –, so steht man beim einunddreißigjährigen Schubert doch etwas befangen vor der Frage, woher dieser wohl die Inspiration zum Abschied erfahren haben mag. Er führt ihn jedenfalls konsequent in Verbindung mit dem Begriff der Selbsterkenntnis zusammen, mündend in das Lied „Der Doppelgänger“, ein unglaubliches Kunstwerk, ein Lied, das seiner Zeit um hundert Jahre vorauseilt, das vielleicht radikalste Lied, das je geschrieben wurde. Mit diesem Lied kann man die Lehren Freuds begreiflich machen; umgekehrt kann man dieses Lied mit Freud verstehen lernen. Mahler seinerseits hat Freud noch aufgesucht, von Toblach aus, in der heftigsten Ehekrise von Alma zu jenem geschickt … Schubert hat Freud vorweggenommen (natürlich muss man an dieser Stelle auch den Dichter des Liedes erwähnen: Heinrich Heine). Abermals im Geiste in der Intensität des Schubert’schen wie auch – gleichzeitig – des Mahler’schen Weltabschieds gefangen, begebe ich mich zu Bett. Morgen ist auch noch ein Tag.

Meine gestrige Erkundung war erfolgreich. Mit meinen neuen Bergschuhen an den Füßen begebe ich mich zum Fuße des Toblacher Hausbergs, des Sarlkofel, um mir ein Paar Leihski anpassen zu lassen. Die neuen Bergschuhe, gestern Abend in freundlicher Beratungssitzung ausgewählt und zum Schnäppchenpreis erstanden, machen beim Gehen Geräusche. Gestern war mir das nicht aufgefallen. Sie knarren, aber nicht in der Tonlage, in der Schuhe normalerweise knarren, sondern viel höher. Man müsste eher sagen: Sie singen. Soll man von den Schuhen eines Opernsängers anderes erwarten? Ich hoffe und bete, dass das nach einer Weile aufhört, denn es macht mich wahnsinnig. Aber sie sind ja noch ganz neu, kein bisschen eingelaufen, es wird schon noch verschwinden …

Mit den Skiern an den Füßen rutsche ich zum Lift hinunter. Etwas mulmig ist mir schon: nach einem halben Leben wieder auf Brettern. Etwas holprig wackle ich zum Skillift und lasse mich, nun doch erstaunlich unbefangen, nach oben ziehen. Geht doch! Zunehmend sicherer entscheide ich mich nach der ersten Fahrt für den Sessellift. Nach erneuter Abfahrt konstatiere ich, dass ich in den letzten dreiundzwanzig Jahren außer künstlerisch auch sportlich gereift zu sein scheine: Ich finde, ich fahre besser denn je!
Die dritte Abfahrt dann zur anderen Seite: hinunter zum Trenkerhof. Wenn Mahler das sehen könnte!

Das letzte Werk, das Mahler in Toblach vollendet hat – man sollte vielleicht besser sagen: zu Ende entworfen, denn die Vollendung der Partitur hat er ja immer erst nach praktischer Aufführungserfahrung vorgenommen –, sein letztes vollendetes Toblacher Werk also ist die Neunte Symphonie. Ein Werk zwischen den Welten. In seiner Art nicht so innovativ wie „Das Lied von der Erde“, aber sehr offensichtlich eine Art künstlerische Essenz seiner Kompositionskunst. Sehr berührend, sehr gut durchdacht.
Dass für bahnbrechende Kunstschöpfung die Krise notwendige Voraussetzung ist, ist eine feuilletonistische Binsenweisheit. Jedoch bleibt einem im Falle Mahlers in Toblach gar nichts anderes übrig, als eben diese Binsenweisheit ins Feld zu führen. Denn er hat hier noch ein Kunstwerk geschaffen, das in seiner Radikalität dem Schubert’schen „Doppelgänger“ an die Seite zu stellen ist. Und dies eben auch in seinem letzten Werk, wodurch die innere Verwandtschaft Schuberts und Mahlers noch einmal betont wird.

Die Krise war ausgelöst durch ein reichlich überfälliges Ereignis: Alma war fremdgegangen. Die junge, schöne, vollblütige Frau hatte bisher an der Seite des egozentrischen, überhaupt nicht männlich-überlegenen Genies gelebt und hier ihre eigene, weiblich-überlegene Natur verleugnet. Es war überfällig, dass die vor innerer Energie berstende Schönheit ihr Recht zu leben einforderte. Mahler war darauf nicht vorbereitet und der Situation auch nicht wirklich gewachsen. Die Krise war verheerend, die Reaktion Mahlers war einerseits die Flucht in kindisches Benehmen, andererseits die Flucht in schöpferische Tätigkeit. Das fragmentarische Resultat dieser Tätigkeit, das Adagio aus der Zehnten, ist ein im selben Maße erschütterndes wie erstaunliches Kunstwerk. Der taumelnde Melodienverlauf dieses überwältigenden sinfonischen Satzes mündet zweimal in einer Akkordneuschöpfung; der dabei im Verlauf der musikalischen Entwicklung zusammengesetzte Nonenakkord hat eine emotionale Kraft von atemberaubender Größe, ist der Ausdruck im wahrsten Sinne des Wortes „unermesslichen“ Schmerzes. Mit ihm ist das tonale musikalische Material ausgereizt, er stellt einen Höhepunkt dar, der gleichzeitig die Tür aufstößt für ein neues Musikverständnis.
Mahler hat nur noch das Adagio instrumentiert. Der Rest der Symphonie ist als Particell, also als reduzierte Partiturversion, mehr angedeutet als ausgeführt. Vielleicht ist es gut, dass er nicht mehr fertig geworden ist. Das, was er noch fertiggestellt hat, ist von einer unbegreiflichen Größe. Dieses Adagio ist das erste Manifest der Umsetzung der oben erwähnten Notwendigkeit, nach dem „Ewig, ewig“ die Musik neu zu erfinden. Das Adagio ist neu, verstörend neu.

Mein Aufenthalt in Toblach geht zu Ende. Ich bin dem Konzertalltag für ein paar Tage entkommen, habe die Abwechslung genossen, meinen Gedanken Raum gegeben, Natur genossen, in Maßen Sport betrieben; jetzt ruft und drängelt mich das Musikerleben wieder in meine Funktionen. Da geht es mir also genau wie weiland Mahler …

Ich werde wieder herkommen –


 

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