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Stand-Haft

Mario arbeitet als Statue in der Altstadt. Um 17 Uhr macht er Pause und erzählt aus seinem Leben. Von Manuela Kerer

Ein ehemaliger Astronaut? Ein arbeitsmüder Schauspieler? Ein gescheiterter Politiker? Ein getarnter Bankräuber? Wer mag sich wohl hinter dieser Maske verbergen, die vor dem McDonald’s in der Innsbrucker Altstadt Löcher in die Luft starrt? Sobald sich das japanische Blitzgewitter endlich von der silbernen Figur auf das Goldene Dachl verlagert, pirsche ich mich an. „Ich weiß, Sie dürfen eigentlich nicht sprechen, äh … aber ich würde Sie gern interviewen … für einen Bericht, für ein Kulturmagazin …“ stammle ich, mich in Anbetracht der Nicht-Reaktion meines Gegenübers immer doofer anstellend. Während ich langsam zum Gedanken übergehe, ins Englische zu wechseln, starren mich zwei riesige Augen von oben an und ein nahezu unbeweglicher Mund sagt: „Um fünf. Hier. Geht das?“

Entschlossen, konsequent, gewissenhaft, zäh, eisern, hartnäckig, starrsinnig, ausführlich, verbissen, beharrlich, fest, konstant, umfangreich, widerstandsfähig, entschieden, insistierend, stetig, umfassend, resistent, durchhaltend, fleißig, krampfhaft, beständig, unbeirrbar.
Wahnsinn, wie viele Synonyme es für das Wort „standhaft“ gibt.
Zielbewusst, felsenfest, starr, widerborstig, störrisch, unbeirrt, unbeugsam, zielsicher, eigensinnig, verbohrt, halsstarrig, rechthaberisch, ausdauernd, unverdrossen, resolut, folgerichtig, starrköpfig, widersetzlich, trotzig, unentwegt, unerschütterlich, erbittert, kompromisslos, verständnislos, stur, geduldig, zielstrebig, willensstark, unnachgiebig, steifnackig, widerspenstig, zielbewusst, unermüdlich.
Es scheint gar nicht mehr aufzuhören. Ich denke an solche Eigenschaften, wenn ich sogenannte lebende Statuen in der Stadt sehe. Sie bespielen ganze Plätze, stieren stundenlang statisch, bewegen sich praktisch nicht, verziehen keine Miene, haben ihren Körper unter absoluter Kontrolle, zucken scheinbar nie. Bis zu jenem einen magischen Moment, in dem der Rubel rollt, in dem die Moneten fließen, in dem der Taler im Hut sich regt, in dem die Passanten „schmeißen“. Da kommt Leben auf, da passiert was, da ist was los. Ansonsten betreiben lebende Statuen „Dastehende Kunst“.

Überfrohen Mutes begebe ich mich um fünf zu meinem Interviewpartner. Frustriert merke ich, dass er nicht mehr da ist. Von wegen standhaft. Die reinste Zeitverplemperung. Da schauen mich zwei riesige Augen aus gleicher Höhe an und ein nahezu unbeweglicher Mund in einem ungeschminkten Gesicht sagt „Hallo“.

Name: Mario Boho.
Beruf: Statue.
Alter: 24.
Schuhgröße: 44.
Körpergröße: keine Ahnung.
Körpergröße der Figur, die er darstellt: auf Grund des Sockels etwas größer als Mario.
Arbeitszeit: immer.
Arbeitsort: überall.
Herkunft: Slowakei.
Mario kann man: für Feiern oder ähnliches buchen.
Mario hört: alles.
Mario liest: nichts.

Mario kleidet sich gern normal. Dann fällt er nicht so auf. Das ist aber ganz anders bei der Arbeit. Da muss er ja auf sich aufmerksam machen. Deshalb steht er auch auf einem Sockel. Erstens ist das für eine Statue ganz normal und zweitens kann er da über die Köpfe der Leute hinwegsehen. Er kann die Leute beobachten und „Kundschaft wittern“. Heute war Mario eine silberne Figur, mit weitem wallenden Gewand, Kapuze und silbern bemaltem Gesicht. Die Kostüme näht und repariert er selbst. Ab und zu leiht er ein Kostüm von seinem Cousin aus, der auch als Statue arbeitet, genau wie Marios Bruder. Die Kos-
tüme seines Cousins sind die schönsten. Eine genau definierte historische Figur oder eine Persönlichkeit stellt Mario aber nie dar.
Mario verleiht lieber der Phantasie der Menschen Flügel, als sie selbst anzulegen.

Mario lauscht, was die Passanten sagen. Da schnappt er Gesprächsfetzen auf und formt Geschichten daraus. Die verstrickt er in seine Gedanken an Geld, Autos oder womit er sich sonst ablenkt. Ablenken muss er sich nämlich dann, wenn die Leute nicht schmeißen. Dann ist es langweilig. Dann denkt Mario auch an die Kälte. Die ist oft ziemlich hemmungslos, auch wenn er unter dem Kostüm viel anzieht. Wenn die Leute aber schmeißen, ist ihm warm. Dann spürt er auch die Hitze im Sommer nicht. Jedenfalls braucht er im Sommer viel mehr Schminke. Fast eine Tube Wasserschminke pro Tag, weil er den ganzen Kopf bemalt. Im Winter trägt er meist eine Kapuze, passend zum Kostüm, das ist wärmer. Ganzkörperkostüme mag er gar nicht.
Mario schwitzt im Sommer und friert im Winter.

Mario spricht sehr leise, freundlich und höflich. Beim Arbeiten versucht er das Sprechen zu vermeiden. Wenn ihn Passanten aber etwas fragen, antwortet er meistens. Er will ja nicht unhöflich sein. Wirklich gesprächig ist er aber mit Sicherheit nicht. Er teilt sich derzeit ein Zimmer mit einem Freund. Mit dem redet er oft. Wirklich viel redet er nur, wenn er getrunken hat. Das kommt aber selten vor. Er hätte gern mehr Freunde, aber das ist nun mal nicht so leicht. Er geht gern fort, aber nicht wirklich oft. Irgendwann wird er eine eigene Wohnung haben, was bald der Fall sein wird, dann wird er auch öfter weggehen und Leute treffen.
Mario genießt Gesellschaft nämlich.

Mario ist normal. Dieses Wort fällt immer wieder und ist ihm sehr wichtig. Sein Beruf ist normal, sein Lebensstil ist normal, sein Charakter ist normal. Seine Jeans sind normal, Nase, Haarschnitt: alles normal. Sein Leben ist normal. Schließlich wollen wir alle das Gleiche: Geld verdienen. Denn Geld macht das Leben leichter. Geld macht mobil. Das haben wir alle gemeinsam. Das ist normal. Dass jemand sein Leben für außergewöhnlich halten könnte und das durchaus im positiven Sinne?
Mario glaubt das nicht.

Mario kann von seiner Arbeit gut leben. Im Winter geht das besonders gut, weil es der Konkurrenz meist zu kalt ist. Die trauen sich dann nicht raus. Mario aber ist immer da. Er hat keinen freien Tag, das haben viele Menschen in anderen Berufen schließlich auch nicht. Das ist also normal. Nur bei Regen stellt er sich nicht hin. Regen macht frei. Bei Schnee arbeitet er aber sehr wohl. Sein Durchschnittstag ist selbstverständlich auch ganz normal. Um 8.30 Uhr steht er auf, dann geht er bis ca. 10.30 Uhr spazieren. Von 10.30 bis 16.15 Uhr arbeitet er. Mittagessen geht er nicht. Was er am Abend macht? Fernsehen? Wenn, dann nur Nachrichten. Was in der Welt passiert ist wichtig. Versichert ist Mario nicht. Wenn er zum Arzt muss, dann geht er hin und bezahlt die Behandlung. Das klappt jetzt problemlos und wird auch in Zukunft klappen.
Überhaupt spielt sich vieles in Marios Zukunft ab:
Ein Handy? Das wird er bald haben.
Eine eigene Wohnung? Die wird er bald haben.
Einen Fernseher? Den wird er bald haben.
Ob er ins Kino geht? Bald wird er das. Wenn er eine Freundin hat. Und die wird er bald haben. Auch eine Familie. Das wird sich dann ergeben. Dann wird er auch ein Bankkonto haben. Das Geschäft läuft recht gut. Ein Tag ist besser, der andere schlechter. Insgesamt pendelt sich das ein. Die Leute wollen überrascht werden. Sie wollen wissen, was sich Mario ausdenkt, wenn sie schmeißen. Das verrät er aber nicht. Das ist sein Geheimnis. Die Leute sollen kommen und es herausfinden.
Mario spürt die Finanzkrise auf diese Weise nämlich nicht.

Mario wuchs in der Slowakei auf. Seine Mama starb, als er sechs war. Sein Vater kam dann nicht mehr klar mit den Kindern. Also war das Kinderheim die einzige und letzte Lösung. Marios Augen sprechen mehr als seine Lippen, die das Thema schnell abhaken. Heute hat er keinen Kontakt mehr zu seinem Vater. Ob er nach Hause fährt? Wo ist nach Hause? Die Schule hat er abgebrochen, er hatte zu wenig Zeit dafür. Gelernt hat er auf der Straße, das ist die beste Schule. Da hat er mehrere Sprachen gelernt, je nachdem, in welchem Land er gerade sein Kostüm auspackte. Wenn er wohin fährt, dann nimmt er den Zug. Weg fährt er aber nur um zu arbeiten.
Mario braucht keinen Urlaub.

Mario lebt jetzt in Innsbruck. Seit einem Monat. Aber von nun an für immer. Immer an seinem Platz. Immer an der Ecke in der Altstadt. Beim McDonald’s. Mario braucht keine extra Standgenehmigung in Innsbruck. Das ist bei Pantomimen anders als bei Straßenmusikern. Er muss auch nicht laufend seinen Platz ändern. Mario schminkt sich immer im McDonald’s ab. Dafür braucht er nur 5 Minuten und etwas Wasser. Das Kostüm zieht er auf der Straße aus. Wenn die Leute ihn fragen, was er macht, sagt er „Pantomime“. Wie er nach Innsbruck gekommen ist? Mit dem Zug. Er hat es einfach versucht, dann hat es ihm gefallen, jetzt will er bleiben. Für immer. Dabei hat er schon einige Orte auf dieser Welt besucht. Aber am besten gefällt es ihm in Innsbruck. Das hängt sicher damit zusammen, dass die Leute hier viel schmeißen. Überhaupt sind die Österreicher und die Deutschen die Großzügigsten.
Mario findet die Menschen in Ungarn am schönsten.

Mario riecht gut. Sehr gut sogar. Das fällt trotz Respektsabstand sofort auf. Bei der Frage nach seiner letzten größeren Investition lüftet er das Geheimnis. Heute morgen hat er sich ein Parfüm gekauft. Hugo Boss. Ab und zu leistet er sich gerne etwas, aber ansonsten spart er. Mario isst heute auch keinen Kuchen. Obwohl ich den gern bezahlen würde. Er hat aber gerade gegessen. Außerdem soll ich auch sparen. Man könne ja nie wissen. Gegessen hat er kurz vor unserem Gespräch, und zwar hat er gekocht. Mario kocht alles und isst alles. Ganz unkompliziert.
Mario kocht gerne.

Mario würde gern mit Nicolas Cage essen gehen. Fragen würde er ihn gar nicht so viel. Er würde ihm bloß sagen, dass er ein toller Schauspieler ist. Auch Mario kann schauspielern. Das zeigt sich besonders, wenn er ernst bleibt, obwohl die Leute ihn zum Lachen bringen wollen. Oder wenn sie ihm eine Münze einen Millimeter unter die Nase halten, das kommt immer wieder vor. Darauf nicht zu reagieren benötigt viel Disziplin und Selbstbeherrschung. Mario ist eben standhaft. Das Wort kann man aber auch anders lesen, denn das Stehen ist manchmal wie eine Haft. Und eine Standhaft ist sehr anstrengend. Haft bedeutet Freiheitsentzug. Seine Bewegungen sind bei der Arbeit nicht frei. Sie hängen von der Großzügigkeit der Leute ab. Wenn sie viel schmeißen, ist das wie eine Befreiung. Aber schließlich hat er sich ja frei zu diesem Beruf entschieden und macht ihn gern.
Mario liebt es, sein eigener Herr zu sein.

Mario braucht trotz der körperlichen Anstrengung keine Thrombozytenaggregationshemmer gegen Throm-
bosegefahr, Physiotherapie oder Blutdrucksenker. Da kann er nur lachen. Sicher tut ihm ab und zu etwas weh. Natürlich ist es anstrengend, den ganzen Tag zu stehen, sich wenig zu bewegen, fast nicht und wenn, dann nur unbemerkt zu blinzeln. Aber das ist ja nur so, wenn die Leute nicht schmeißen. Wenn die Münzen klingen, spürt er die Anstrengung nicht.
Mario versucht, ganz einfach zäh zu sein.

Mario betont, dass er glücklich ist. Ob ich wisse, wie schön Österreich sei? Wie schön das Leben hier sei? In der Slowakei ist alles schlecht. Oder vieles. Jedenfalls ist das Leben dort schlecht. Deshalb will er auch nicht mehr zurück. Nur auf Besuch. Mit den Taschen voller Geld. Schmeißen bedeutet für Mario Glück. Dieser Moment verwandelt den scheinbar ewigen Stillstand in Menschlichkeit. Zeit ist ein wesentlicher Baustein im Leben einer Statue.
Mario kann die Zeit verwandeln.

Mario malt mir seine bisherige Lebenskurve auf. Es ist gar keine Kurve. Es ist eine Linie, die steil nach oben geht, quer über das Blatt. Er befindet sich derzeit auf ungefähr der Hälfte der Linie. Es war hart in der Vergangenheit. Aber es ging aufwärts. Und das wird auch in Zukunft nicht aufhören. Sein Tag sieht übrigens so ähnlich aus. Der beginnt bescheiden, wird immer besser – bis es nur mehr steil bergauf geht.
Mario hat ein Super-Leben. Ein Super-Mario-Leben. Er hat seinen Traumberuf gefunden. Er weiß, dass er besser und glücklicher lebt als viele andere Menschen.
Mario will nichts anderes machen, nie im Leben.

Mario wehrt sich. Denn nicht immer ist das Statue-Sein nur schön. Schon zweimal hat man versucht, ihn zu bestehlen. Beide Male hat er die Polizei gerufen und beide Male konnten die Diebe gestellt werden. Die haben sich dann wenigstens entschuldigt. Im Prinzip hat Mario aber ständig schöne Erlebnisse mit Passanten. Ein besonders schönes zu erzählen fällt ihm dennoch schwer, aber wenn die Leute lächeln oder lachen, ist das wunderbar, und wenn sie dann noch schmeißen, ist die Welt in Ordnung.
„Statue gelernt“ hat Mario von seinem Bruder. Der arbeitet jetzt in Genua. Den hat Mario gern. Wenn es so was überhaupt gibt, dann ist er seine Familie. Er hat ihn zu diesem Statuen-Beruf gebracht. Er hat gesagt: „Wenn du gut bist, kannst du gutes Geld verdienen.“ Seit er 18 Jahre alt ist, arbeitet Mario nun als
Statue. Mario ist gut. Aber er ist alleine gut. Es gibt nämlich Kollegen, die sich mit anderen lebenden Sta-
tuen zusammenschließen und so gemeinsam ein größeres Repertoire entwickeln.
Mario arbeitet lieber als Einzelgänger. Das macht keine Probleme.

Mario wird gebucht. Für Stadtfeste, Feiern oder ähnliches. Da kann man sich eine Figur aussuchen, die er darstellen soll. Er hat keine Karte. Die Leute sprechen ihn an und engagieren ihn. Von der Straße weg. Du bist gut oder du bist nicht gut. Die Leute sehen das.
Mario ist auf Youtube unter „Pantomime in Lindau“ zu finden.

Mario hat eine Lebensphilosophie und die ist herrlich einfach und einleuchtend. Wenn die Leute schmeißen, ist es nicht langweilig. Wenn die Leute schmeißen, tut ihm nichts weh. Wenn die Leute schmeißen, ist alles gut. Dann sind sie und er glücklich, denn dann passiert etwas, er bewegt sich. Geld macht beweglich, Geld mobilisiert, sagt Mario.
„Aber wenn ein hübsches Mädchen vorbeikommt, dann bewege ich mich auch, ohne dass jemand schmeißt – vielleicht sogar schöner und besser …“
Mario lächelt.

 

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