zurück zur Startseite

Metapher und Sprachökonomie

Warum wir verstehen, was nicht gesagt, sondern nur gemeint wird. – Auszug aus dem in Arbeit befindlichen Buch „Gehirn und Gedicht“. Von Raoul Schrott

1

Auf Grund diverser Studien lässt sich schätzen, dass wir pro Gesprächsminute im Schnitt vier tote Metaphern verwenden – und dabei zwischen ein und zwei ad hoc formulierte Metaphern einsetzen. Auf zwei Stunden Redezeit pro Tag und eine Lebensspanne von 60 Jahren übertragen, setzen wir also an die fünf Millionen neue und 21 Millionen alte Metaphern in Umlauf. Natürlich ist auch dies kontextabhängig: Amerikanische Talkshows und Nachrichten etwa verwenden schon nach 25 Worten eine figurative Redewendung.
Lernstudien wiederum zeigen, dass Analogien und Metaphern die Aneignung von neuem Wissen erleichtern: vor allem, wenn sie bildhaft konkret sind und damit Details in einem einheitlich Ganzen präsentieren (,Die Deutschen folgten Hitler wie Lemminge‘ ist deshalb weit schneller einsichtig als eine wörtliche Formulierung desselben Inhalts: ,Das deutsche Volk übernahm unkritisch Hitlers Ideen‘).

Figurativer Sprachgebrauch prägt auch soziale Strukturen. Er setzt ein gewisses Maß an Intimität zwischen Hörer und Sprecher voraus und verstärkt sie, indem er einen gemeinsamen Vorrat an Erfahrungen und Interessen ins Spiel bringt, die für die Interpretation einer Metapher notwendig sind. Subkulturen werden so zu einer kaum zu unterschätzenden Quelle neuer Metaphern: ob im Slang von Jugendlichen oder in den Termini von Computerspezialisten. Die figurativen Ausdrücke, die auf sie zurückgehen – von Begriffen für sozial adäquate Verhaltensweisen (von ,hip‘ über ,phat‘ bis ,cool‘) oder all den Namen für Cannabis – sind Legion; und wie sehr Computervokabular sich anderweitig, gerade auf die Hirnforschung applizieren lässt, ist ebenso frappierend.
Die Politik kommt ebenfalls ohne Leitmetaphern nicht aus. Kommentare zu den beiden Irakkriegen griffen mit Vorliebe auf konzeptuelle Schemata wie STAAT IST EINE PERSON (um die militärische Intervention zu rechtfertigen) oder GERECHTER KRIEG IST HEROISCH (um nach Schurken und Helden werten zu können) zurück: Sie personalisieren, konkretisieren und unterstreichen einzelne Meinungen. Es kommt nicht von ungefähr, dass einer der klassischen Vorwürfe gegen die Poesie ihre demagogische Überredungskunst ist, die sie nicht erst seit Johannes R. Becher, Jewtuschenko oder Neruda zum Agitprop einzusetzen verstanden hat.

Genauso wie wir im Alltag überwiegend anhand metaphorischer Schemata raisonieren (und uns LIEBE dadurch als ,Reise‘ in den Hafen der Ehe, als ,Nahrung‘, von der man nicht genug kriegt, als ,Naturgewalt‘, ,Magie‘ oder ,Einheit‘ vorstellen), ist auch der wissenschaftliche Diskurs damit unterlegt. Eine Debatte über Hypothesen greift entweder das Schema auf THEORIE IST EIN GEBÄUDE (indem man sie ,aufstellt‘, solange sie auf ,Fundamenten‘ beruht, etc.) oder THEORIE IST EIN BERG (auf dem man sich ,versteigt‘ oder ,verirrt‘). Spezifische Beispiele sind zahllos: ob in der Physik – die bis zu Nils Bohr die um den Atomkern kreisenden Elektronen in Analogie zu den um die Sonne kreisenden Planeten begriff und deshalb der Quantenphysik anfangs nur wenig abgewinnen konnte – oder in der Psychologie. Eine Studie über die Metaphorik in wissenschaftlichen Artikeln der Psychological Review etwa zeigte zwischen 1894 und 1975 beständig sich verändernde Modellbildungen auf: Zuerst wurde alles Geistige über den Bereich ,Lebewesen‘ konzipiert (,durch das Lügen wird der Geist müde‘; oder ,stark wie vom Schwimmen gegen den Strom‘) dann über den ,Raum‘ (,Alles im Hintergrund Verborgene ist keine geistige Aktivität‘) und schließlich durch Vergleiche aus dem Umfeld ,System‘, ,Elektronik‘ und ,Computer‘.

2

Bei alledem sind wir in der Lage, Metaphern zu interpretieren, ohne dass es klare Regeln dafür gäbe.
Dennoch kommen wir dabei letztlich ohne die Basis von definitiven wörtlichen Bedeutungen aus – selbst noch als Gemeinplatz ist die Metapher ja abhängig von Kultur, Kontext, Individuum und dem jeweiligen Sprechakt. Warum verstehen wir dann Metaphern trotzdem – und das bei all den bereits skizzierten Elementen semantischer Täuschung, die sie mit einbringt? Weil es etwas gibt, das Paul Grice ,konversationelle Implikationen‘ genannt hat.
Ihnen zufolge ist Kommunikation dadurch gekennzeichnet, dass sie zwischen den Zeilen mehr implizit als explizit aussagt. Und das kann sie, weil jeder Dialog auf dem Wissen und der Empathie zwischen Dialogpartnern aufbaut – und jeder Sprechakt eine Intentionalität voraussetzt:

Möchtest Du gerne ein Stück Kuchen?
Ich bin auf Diät.

Um dies überhaupt als Dialog auffassen zu können, müssen wir eine ganze Reihe von Implikationen nachvollziehen. Denn eine eindeutige und kausale Antwort auf die Frage ist ja nicht gegeben: Statt ,Nein‘ zu sagen, wird hier nur ,Nein‘ gemeint. Und auch die Frage ist nur implizit gestellt; sie will eigentlich nur etwas über einen Wunsch wissen; vom Nehmen und Essen wird nichts gesagt.
Grundlage solcher Sprechakte ist das, was Grice mit ,Kooperations-Prinzip‘ betitelte. Es definiert sich dadurch, dass ein Sprecher „einen Beitrag zur Konversation leistet – in dem Maß, wie er erforderlich ist; zu dem Zeitpunkt, wo er gebraucht wird; dem Verlauf gemäß, den die Konversation nimmt; ihrem Ziel oder Zweck entsprechend.“
In Maximen ausgedrückt, lässt sich dieses Kooperations-Prinzip auf folgende vier Punkte reduzieren:

– Maxime der Quantität: Der Gesprächsbeitrag soll so informativ sein, wie erforderlich – nicht mehr.
– Maxime der Qualität: Man sagt grundsätzlich nicht, was man für unrichtig hält.
– Maxime der Relation: Man steuert zu einem Gespräch nur augenblicklich Relevantes bei.
– Maxime des Stils: Man ist dabei so knapp wie möglich, um Ambiguitäten und Unklarheiten zu vermeiden.

Bleibt das Kooperations-Prinzip generell gewahrt, kann man gegen jede dieser Maximen verstoßen – solange der Adressat sich dessen bewusst ist (die Metapher verletzt meistens alle vier Maximen). Die Frage nach objektiven Wahrheitsgehalten stellt sich damit als Frage nach einer Intentionalität, die beim Sender wie beim Empfänger auf denselben ökonomischen Prinzipien basiert. Selbst noch eine schlecht konstruierte, deplatzierte und überinstrumentierte Lüge verrät – an diesem Gebrauchsmodus gemessen – das Kriterium der Intentionalität: Sie will ja etwas sagen, selbst wenn es durch das Gegenteil geschieht.
Das setzt einen Sprachbegriff voraus, bei dem Worte nur ein Medium sind, mit dem Gedanken vermittelt werden, und eine Auffassung von Kommunikation, bei der es weniger um das Verständnis von Sätzen als um das Erkennen von Sprecherintentionen geht. Um das zu gewährleisten, leiten wir vom Gesagten weit öfter Bedeutungen ab, als dass wir uns mit der rein wörtlichen Aussage zufrieden gäben. Dabei greifen wir auf zusätzliche Informationen zurück: auf das, was wir vom Sprecher als Person wissen; auf das, was wir von den Dingen wissen, auf die er sich bezieht; und nicht zuletzt auf das, was wir aufgrund seiner Körperhaltung und Intonation erschließen. Gefragt danach, was jemand gesagt hat, geben wir es darum nur selten verbatim wieder; stattdessen drücken wir das aus, was wir für das eigentlich Gemeinte halten.
Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, ist Sprache abhängig von der kognitiven Fähigkeit zur Empathie. Sie ist weniger referentiell auf Wörtliches und semantische Kategorien bezogen, denn manipulativ auf Intentionalitäten.

Intentionalität ersetzt demnach die Idee ,wörtlicher Bedeutung‘. Diese Sprachpragmatik zeigt sich auch daran, dass bei experimentellen Studien die Reaktionszeit auf figurative wie auf wörtlich gemeinte Sätze etwa gleich lange beträgt. Das Figurative – ob als Idiom, Slangausdruck, Sprichwort oder Metapher – ist also entgegen unseren hinlänglichen Erwartungen nicht schwieriger zu verstehen als das Wörtliche.
Dasselbe gilt für indirekte Aussagen (,kannst du mir das Salz reichen‘) wie für negativ formulierte Sätze. Gängigen Auffassungen zufolge müssten wir beides Mal ja erst das Wörtliche dekodieren und es dann direkt oder positiv umformulieren, bevor wir begreifen können, was gemeint ist. Einen angemessenen Kontext vorausgesetzt, ist dies jedoch nicht der Fall – im Gegenteil: Wir scheinen Wörtliches und Figuratives parallel zu verarbeiten. Entscheidend dafür, was davon dann zu Tragen kommt, ist allein der pragmatische Aspekt – der die jeweilige Aussage auf ihren kontextuellen Rahmen hin einschätzt.

Man kann einer Versuchsperson zwei Beispiele vorlegen: eines ist wörtlich aufgefasst falsch, metaphorisch jedoch verständlich (,Manche Jobs sind Gefängnisse‘); das andere hingegen formuliert dieselbe Bedeutung wörtlich eindeutig (,Manche Menschen sind in ihren Berufen gefangen‘). Die metaphorische Ausdrucksweise leuchtet dann schneller als die wörtliche Ausdrucksweise ein – am längsten dauert die wörtliche Auflösung der Metapher (dass Jobs wirklich ,Gefängnisse‘ sind). Das geht soweit, dass wir bei Bedarf sogar die wörtliche Ebene einfach kurzschließen, um ganz auf die metaphorische Ebene wechseln.

Kommunikation beruht also auf Intentionalität; sie gelingt, sobald sie als solche erkannt wird. Die Reaktionszeit für die Verarbeitung von Information ist dabei allein abhängig von der Identifikation der Sprecher-Intention – egal ob es sich dabei um eine wörtliche, figurative, idiomatische, ironische oder indirekte Aussage handelt.

3

Anwendbar ist dies auch auf das wohl berühmteste Beispiel von wörtlichem Nonsens, das expressis verbis konstruiert wurde, um zu zeigen, dass ein Satz zwar grammatikalisch korrekt, semantisch aber völlig sinnlos sein kann. Gemeint ist Chomskys Farblose grüne Ideen schlafen wütend.

Diese Aussage sollte demonstrieren, dass Worte Symbole sind, die nur innerhalb eines semantischen Kontextes einen Sinn erhalten. Bei einem korrekten Sprachgebrauch kann ,schlafen‘ nicht das Substantiv ,Ideen‘ prädikatieren, ebensowenig wie dieses durch ,wütend‘ adverbialisiert oder ,Ideen‘ durch ,grün‘ adjektiviert werden können (schon gar nicht, wenn dieses Adjektiv noch dazu durch ein zweites wieder negiert wird). Um vorzuführen, dass ,Bedeutung‘ unabhängig von der Grammatik einer spezifischen Sprache funktioniert – und umgekehrt Grammatik nicht das fundamentalste Sprachprinzip ist –, hat Chomskys Beispiel seinen Zweck erfüllt.

Trotzdem lässt sich diesem Satz sehr wohl Sinn abgewinnen. Zum einen bietet bereits die Ebene des Wörtlichen die Möglichkeit, ihm einen Wahrheitsgehalt zuzuweisen. Es genügt, alle davor zu setzen – Alle farblos grünen Ideen schlafen wütend – und schon ist er nicht nur korrekt, sondern auch wahr. Da es keine farblos grüne Ideen gibt, gibt es auch keine farblos grünen Ideen, die nicht auch wütend schlafen könnten – um diese Aussage überhaupt verneinen zu können, bräuchte es existierende farblos grüne Ideen. Vertreter des logischen Positivismus haben solche Argumentationen zuhauf vorgebracht, denen zufolge alle metaphysischen (das heißt: empirisch nicht verifizierbaren) Aussagen sinnlos sind. So etwa hat Rudolf Carnap in einem Essay explizit behauptet, dass fast jeder Satz Heideggers zwar grammatikalisch korrekt, logisch jedoch völlig unsinnig ist.

Zum anderen jedoch – als Ausdruck literarischer Intentionalität verstanden, die gegen alle oben angeführten Maximen verstoßen kann, weil sie uns zwingen, diese Maximen interpretativ wieder zu rekonstruieren – macht dieser Satz figurativ verstanden, nur wenig Probleme. Das sprachpragmatische Kooperationsprinzip einmal ins Spiel gebracht, geht man dabei den Umweg über die Polysemie: ,grün‘ kann lexikalisch auch ,jung, unausgegoren‘ bedeuten, ,farblos‘ auch ,langweilig und charakterlos‘; ,Idee‘ lässt sich als Personifikation auffassen, die das anthropomorphisierende Adverb ,wütend‘ verstärkt; und ,schlafen‘ als konnotativer Ausdruck für eine noch nicht realisierte Potentialität begreifen. Mit ein wenig semantischer Feinabstimmung – über genau jenes Prozedere, mit dem man auch Gedichte interpretiert – gelangt man so zur durchaus sinnvollen Aussage: Undefiniert unausgegorene Ideen stecken voll unbewusster Aggression. Was so verstanden nicht anderes wäre als eine Paraphrase von Goyas Der Schlaf der Vernunft gebiert Monster.

Es gibt noch mehr solcher Beispielsätze. Schon vor Chomsky hat der Linguist Lucien Tesnière den Satz Le silence vertébral indispose la voile licite (,die Wirbelstille beeinträchtigt das zulässige Segel‘) formuliert, um damit ein ähnliches Argument zu illustrieren. Konträr dazu haben Dada und der Surrealismus jedoch gerade eine solcherart semantisch frei assoziierende Sprache als Poesie deklariert. Und Perec, Queneau und Calvino in der Gruppe Oulipo – den ,Arbeitern für eine Potentielle Literatur‘ – benützten die Prinzipien einer generativen Grammatik dazu, um gleichsam mechanisch solche Sätze zu konstruieren.

Größer könnte der Gegensatz zwischen Poesie und Linguistik also nicht sein. Dennoch ist er auflösbar. Drehen wir beispielsweise Chomskys Satz um, um diesmal nicht gegen seine Semantik, sondern gegen seine Grammatik zu verstoßen: Wütend Ideen grün schlafen farblos … – ein sinnleeres Beispiel ist dies nur in einem Kontext, der einen korrekten Gebrauch von Syntax voraussetzt. Als Auszug eines Tagebuchs, hingekritzelte Notiz oder surealistische écriture automatique würden wir diese Wortliste jedoch sofort akzeptieren: und uns (über die Grice’schen Prinzipien) eine passende Syntax dafür erstellen. Oder diesen Satz als Stichwortliste für ein Gedicht betrachten – die oft genug gerade mittels solcher Gedankenstenogramme entstehen.

Dass Chomskys Satz sich auch in ein Gedicht eingliedern lässt, demonstrieren zwei, wenn auch poetisch nicht gerade überwältigende Beispiele. John Hollander lässt einen Maler solch ,farblos grüne Ideen‘ haben und von seiner Palette Chromoxyd (das Viridian oder ,Veroneser Grün‘ genannt wird) und Alizarin (ein aus dem Saft der Färberröte extrahiertes Pigment, das arabisch ,azarah‘, sonst aber auch ,türkische Wurzel‘ genannt wird) auf die Leinwand auftragen:

AUFGERINGELTES ALIZARIN

für Noam Chomsky

seltsam tief, der schlummer karmesinroter gedanken:
während atemlos, in pappigem viridian
farblos grüne ideen wütend schlafen.

D.A.H. Byatt’s Gedicht hingegen bettet Chomskys Satz aus dem Bereich der Malerei in einen biblischen Kontext ein:

so adams stück vom paradies,
      in weit zurückliegender zeit:
der farbwucher von blumen,
      bäume in myriaden von grün;
dank des gesegneten windes
      und eines gemäßigten klimas.
der weg zu primatenhaftem wissen
      noch nicht zu erkennen
schläft er am vorabend noch friedlich mit eva.
einen apfel später, schaut er neugierig
auf diese gärten der farbblindheit
in denen farblos grüne ideen wütend schlafen
und ihrer geburt entgegenfiebern, jeden morgen
bis das schicksal regenbögen bringt,
      die sie sehen endlich.

Es spricht für unsere Assoziationsfähigkeit – nicht für unsere Sprache –, dass wir noch aus allem Sinn zu gewinnen verstehen. Und dass es erst der Kontext ist, der Zeichen mit einem Bedeutungswert versieht.

4

Haben wir uns an anderer Stelle erlaubt, das Abgleiten des Wörtlichen ins Figurative durch ein paar an den OUvriers de la LIttérature POtentielle geschulten sprachgenerativen Methoden zu demonstrieren, bietet sich hier nun die Gelegenheit, ebenso spielerisch das Gegenteil vorzuführen – nämlich wie man anhand von diversen Notaten, Gedankenstenogrammen und Neuansätzen schließlich klare figurative Bedeutungsumrisse herausarbeitet: wobei die Ebene des rein ,Wörtlichen‘ bereits von vornherein mehr als doppelbödig ist …
Zeigen wir also in einem eigenen Beispiel, wie man in sechs Schritten zu einem klassischen Lesebuchgedicht gelangen kann:

1. Der erste Einfall, zwar prägnant, aber derb, gegen zwei Uhr morgens im Tagebuch festgehalten, nachdem das schweizer Hausmädchen einigen Unwillen bezeugte:

Gerne der Zeiten gedenk ich
Als all meine Glieder gelenkig –
Bis auf eines.
Die Zeiten, die kommen nicht wieder,
Denn steif sind all meine Glieder –
Bis auf eines.

2. Nachmittags versucht, Lyrismen einzuführen und alle Endlichkeit des Seins zu offenbaren; poetisch aber noch ein Hänger:

Beizeiten geh zur Ruh,
Spürest alle Glieder du –
Bis auf eines.
Der Zeiten Flug – ein Hauch;
Bald ruhen deine Glieder auch –
Bis auf eines.

3. Aufbruch nach Richterswil zu einem nahegelegenen Berg mit schönem Ausblick auf den Zürichsee; Felsweg geht an auf; Geschener Alp, Teufelsbrücke, Urner Loch; meine Hofratshaxn tun mir weh, aber euphoristische Stimmung nach dem Abstieg; in Alptal das leidige Thema neu aufgegriffen:

Ich gedenk meinen Wanderschuhen
In denen meine Füß ruhen –
Dort oben am Gipfel;
Ich verlor sie beide im Walde
An ein Vöglein gar balde –
Dort oben im Wipfel.

4. Zu touristisch; auch hat sich ein schweizer Dativ eingeschlichen; im ,Ochsen‘ Quartier genommen; gehe das Sujet noch einmal mit dem alten Schwunge an:

All der Zeiten gedenk ich,
Als ich noch v…… inniglich –
Spürest du’s auch?
Einst streckte sich das G…. bis zum Gipfel,
Des Mondes Zipfel über der Bäume Wipfel –
Spürtest du’s auch?

5. Mehr als platt; ich ringe zwar um die Strophenform, dafür aber mißrät alles andere zusehens – auch ist mir die Nosthalgie im Wege. Muß einenteils an der zu sauerstoffreichen Bergluft liegen, andererseits am Schmalz und am Käse, die man uns überall kredenzt; Blähungen; aber versuche jetzt, durch Verschränkungen und Enjambement dem Vorwurf trotzdem noch eine Kontur (embonpoint!) abzugewinnen:

In allen Gliedern
Ist Ruh,
Trotz allen Liedern
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein –
Bis auf eines –
Schweigen im Walde.

Warte nur, balde
Wird auch meines
Ruhen allein.

6. Habe heute am 6. September wieder mein Tagebuch von 1775 hervorgekramt; wußte, daß ich darin noch etwas Unerledigtes finden würde; sehe jetzt alles viel klarer, vielleicht nenn ich’s ,Wanderers Nachtlied‘ – könnte ankommen, als kleines intimes Tableau mit subsummarischer Pointe:

Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.

Johann Wolfgang von Göthe


 

im Heft weiterblättern


Email

registrieren

Ihre Email-Adresse wurde bei uns registriert und zur Liste der Newsletter-Abonnenten hinzugefügt.
Sie erhalten in Kürze ein Bestätigung per Email.