zurück zur Startseite

In der Wunderkammer des Schmerzes

Der Komponist Pietro Antonio Cesti lebte 13 Jahre lang in Innsbruck, wo das erste Opernhaus im deutschsprachigen Raum gebaut worden war. 341 Jahre nach seinem Tod bekommt er nun am einstigen Wirkungsort einen Gesangswettbewerb. Ein Höreindruck vor Ort – von Olaf A. Schmitt

Leiden war nie so schön wie im 17. Jahrhundert. Natürlich war das Leid die Liebe, und dafür fanden die Komponisten zwischen Renaissance und Barock die schönsten Klänge – oft zerreißend langsam lamentierend und sich quälend von einem schmerzerfüllten Ton zum nächsten hangelnd. Warum ich das schön finde, habe ich aufgehört mich zu fragen, es muss etwas mit diesem in sich ruhenden Gesang zu tun haben, der trotz aller Affektgeladenheit seine Mitte nicht verliert. Mein Körper beginnt nach wenigen Sekunden innerlich zu wiegen wie ein Pendel, nach wenigen Sekunden dieser grandiosen Musik, die heute Alte Musik heißt und neben dem Schmerz für sämtliche anderen Affekte die richtige Klangsprache parat hat. Vielleicht erzeugen gerade diese klar geordneten Affekte eine Sicherheit, so dass ich mich als Mensch einmal verstehen kann. Innerhalb der drei Tage, die ich bei den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik verbracht und den Ersten Internationalen Gesangswettbewerb für Barockoper verfolgt habe, hat mich dieses wiegende Gefühl nie verlassen. Das lag wohl auch daran, dass die Musik dieser Epoche so organisch wirkt und sich bei aller Energie und Konzentration der Interpreten immer eine Leichtigkeit bewahrt – zumindest in einer Ausführung, die sich auf historische Quellen stützt. Diese Musik spricht zaubernd und dient allein dem Ausdruck der gesungenen Worte, die im Gegensatz zur vorangegangenen Zeit die Vorherrschaft übernehmen. Mit der Geburt der Oper im 17. Jahrhundert und all den Vorformen wie dem Madrigal ergreift die Monodie das Szepter, der solistische Gesang, der einzig dem Affekt der Worte dient und sich bewusst von der Vokalpolyphonie absetzt.

Bevor die Musik in die allzu starren Formen geriet, wie sie in den Opern Georg Friedrich Händels zu Beginn des 18. Jahrhunderts zu erleben sind, wurde mit der jungen Kunstform Oper in Italien experimentiert. Claudio Monteverdi hat sich heute als erster Name der Operngeschichte etabliert, sein Orfeo wurde 1607 in Mantua uraufgeführt. Francesco Cavallis La Calisto von 1651 ist ein weiterer, vor allem komischer Meilenstein in der frühen Operngeschichte. In Innsbruck wird der Name Pietro Antonio Cesti besonders hochgehalten, da er zwischen 1652 und 1665 als Kammerkapellmeister am Innsbrucker Hof wirkte und mit seinen Werken die Stadt zu einem bedeutenden Opernzentrum nördlich von Italien machte. Seine Opern sind heute kaum mehr zugänglich, der langjährige Künstlerische Leiter der Innsbrucker Festwochen, René Jacobs, nahm die 1656 in Innsbruck uraufgeführte Orontea auf CD auf – zu kaufen ist sie heute nicht mehr. Meine musikalische Reise begann deshalb mehrere Wochen vorher durch Bibliotheken und das Internet, wo ich Cesti zwischen Lexikonartikeln, erhaltenen Aufnahmen, Partituren, Büchern über die Innsbrucker Hofmusik und italienischen Symposionsbänden aufsuchte. Ein lokales Phänomen war Cesti keineswegs, der gebürtige Florentiner kam durch die geschickte Heirat von Erzherzog Ferdinand Karl mit Anna de’ Medici nach Tirol. Bereits dessen Vater Leopold V. profitierte von dieser einflussreichen kunstliebhabenden Familie, da er mit Annas Tante Claudia verheiratet war. Cestis erste beiden Opern wurden in Venedig uraufgeführt, eine davon 1658 in München nachgespielt, Orontea kam später auch in Florenz und Rom auf die Bühne. Nach dem Aussterben der Habsburger Linie in Tirol durch den plötzlichen Tod von Ferdinand Karls Nachfolger Erzherzog Sigismund Franz wurde Cesti an den Kaiserhof nach Wien gerufen, wo 1668 seine spektakulärste Oper Il pomo d’oro mit immensem Aufwand aufgeführt wurde. Es spricht also einiges dafür, einem in Innsbruck neu ins Leben gerufenen Gesangswettbewerb für Barockoper den Namen Pietro Antonio Cesti zu geben.

Wer leidet am schönsten?, wäre meine völlig subjektive Frage bei einem solchen Wettbewerb. Gelegenheiten zur Beantwortung fanden sich allein im Finalkonzert reichlich. Die englische Sopranistin Ruby Hughes gab sich im wohl bekanntesten Largo aus der Feder Händels, Almirenas „Lascia ch’io pianga“ aus der Oper Rinaldo, ihren Tränen hin, die Spanierin Anna Alàs Jové verabschiedete sich als verstoßene Ottavia herzzerreißend aus ihrer Heimat mit dem stotternden „Addio Roma“ aus Monteverdis L’Incoronazione di Poppea, der slowakische Tenor Jurai Hollý litt ebenso wie sein ungarischer Kollege Dávid Szigetvári mit Pan, dessen Liebe zur Jagdgöttin Diana nicht erhört wird – nur eine der vielen augenzwinkernden Liebes-Leidensgeschichten in Cavallis La Calisto. „Man leidet nicht, weil die Liebe sinnlich ist und irdische Begier weckt; man leidet, weil sie sich noch nicht erfüllt hat oder weil sie in der Erfüllung nicht das hält, was sie verspricht“, schreibt der Soziologe Niklas Luhmann in Liebe als Passion über die barocke Lust am Leiden. Der Waldgott Pan zieht bei Cavalli alle Register, er ruft die „Götter der Wildnis, / Wächter und Genien / schweigender Wälder, / steinhafte Felsnymphen, / benetzte Baumnymphen“ an, sie mögen doch bitte ihr Haar hängen lassen und „düsteren Antlitzes“ an seinem eigenen Leichnam die Totenklage singen, denn diese „Natter“ Amor habe ihn Unseligen tödlich gebissen. Cavalli lässt in der spärlichen instrumentalen Begleitung, dem Generalbass, der die Worte noch besser zu Geltung bringen soll, die Musik in quälend langsamen Halbtonschritten nach unten schreiten gleich einer Träne, die über die Wange läuft.

Aus La Calisto mussten alle Teilnehmer des Wettbewerbs etwas singen. Der Grund dafür war ganz einfach: Aus ihrem Kreis sollten Sänger für eine Neuproduktion von Cavallis Oper bei den Festwochen 2011 gefunden werden – praktisch für die Festspielleitung, aber vor allem Anreiz für die Teilnehmer, da Wettbewerbe viel zu oft lediglich gut für die Biographie und im besten Fall für das Bankkonto des Sängers sind. In Innsbruck wird diese Produktion unter dem Titel „Barockoper:jung“ als zusätzliches Opernprojekt in das Festspielprogramm aufgenommen werden. Außer dem Calisto-Pflichtstück hatten die Teilnehmer vier Arien oder Soloszenen von folgenden Komponisten vorzubereiten: Claudio Monteverdi, Pietro Antonio Cesti, Francesco Cavalli, Henry Purcell, Antonio Vivaldi, Georg Friedrich Händel. Wer ins Finale kam, musste neben Calisto sich aus einer vorab im Internet verfügbaren Liste ein weiteres Pflichtstück eines dieser Komponisten aussuchen, das im Finalkonzert großzügig als frei gewähltes Stück angekündigt wurde. Diese Regeln erleichterten es der Jury natürlich, die Sänger zu vergleichen, waren aber auch notwendig für den reibungslosen Ablauf. Schließlich begleiteten mehrere Cembalisten die Teilnehmer in den Vorrunden, im Finale gar ein ganzes Ensemble, die abgesehen von der Verfügbarkeit des alten Notenmaterials die Stücke auch proben mussten.

Subjektivität ist bei künstlerischen Wettbewerben trotz klarer Regeln dennoch ein entscheidender Faktor. Wie sollte es auch anders sein, nimmt doch jeder Mensch einen Künstler auf der Bühne anders wahr. Meine Frage nach dem schönsten Leiden spielt also durchaus eine Rolle. Der Vorsitzende der Jury, Sebastian F. Schwarz, der als Casting-Direktor am Theater an der Wien alltäglich Sänger beurteilt und auswählt, zählt daher auch eher subjektive Kriterien wie Stimmschönheit und die Fähigkeit, eine Persönlichkeit auf der Opernbühne zu verkörpern, zum Bewertungskatalog. Objektivierbare Kriterien gibt es natürlich, zu ihnen gehören Musikalität, Stimmvolumen und Intonation, die oft verbunden ist mit der Stimmtechnik, die ein Sänger gelernt hat. Hier wirft Schwarz den Gesangslehrern eklatante Fehler vor: „95 oder vielleicht sogar 98 Prozent aller Gesangslehrer wissen nicht, was sie sagen und haben leider häufig nur den eigenen Vorteil im Blick. Sie drängen auch junge Sänger auf den Markt, obwohl sie hören müssten, dass deren Talent leider nicht ausreicht.“ Er war selbst jahrelang als Sänger aktiv, bevor eine Krankheit seine Karriere beendete, und berichtet von einer Lehrerin, die ihm für eine bestimmte Phrase immer den Gedanken an grüne Bäume nahelegte: „Eiche, Kiefer, Tanne, Ulme …?“ – mehr als Ratlosigkeit vermochte dieser Ratschlag nicht zu erzeugen.

Dieser Ratschlag hätte auch dem Tenor Jurai Hollý nicht viel genutzt, der Händels anderes berühmtes Largo „Ombra mai fu“ aus der Oper Serse in seinem Wettbewerb-Repertoire hatte, dessen Text einzig in den Worten „Nie gab es lieblicheren, liebenswerteren und entzückenderen Schatten eines Baumes“ besteht. Überhaupt Händel. Für die meisten Teilnehmer schien dieser Komponist der zugänglichste zur Barockoper zu sein, einige hatten gar nur Händel-Arien im Gepäck, abgesehen von der Cavalli-Pflichtnummer.

Wer nicht gerade an einem Spezialinstitut wie der Schola Cantorum Basiliensis studiert oder studiert hat und mit der Musik des 17. Jahrhunderts vertraut wurde, hat in diesem jungen Alter wohl mit Händel die meiste Erfahrung gemacht. Der deutsche Komponist, der erst in Italien mit seinen Opern, dann in England mit seinen Oratorien Erfolge feierte, erlebte schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Renaissance und hat sich in den letzten Jahrzehnten einen festen Platz im Opernrepertoire erobert. Mit Händel setzte auch an den Opernhäusern ein Bewusstsein für die historisch informierte Aufführungspraxis ein, wie sie zu Beginn der Bewegung nur Spezialensembles wie Nikolaus Harnoncourts Concentus musicus erforschten. Händels Musik mit einem normalen Opernorchester in historischem Bewusstsein aufzuführen war zudem leichter möglich, da sie weniger alte Sonderinstrumente erforderte als das Repertoire des 17. Jahrhunderts. Nicht zuletzt bietet Händel durch seine klaren Formen und die strenge Trennung von Rezitativ und Arie eine strukturelle Sicherheit, die bei den ausschließlich an den vertonten Worten orientierten früheren Opern nicht gegeben ist. Dort gehen ariose und rezitativische Abschnitte ineinander über. Diese Verbundenheit erschwerte es gerade bei La Calisto, einzelne Passagen für den Wettbewerb herauszulösen.

Wahrscheinlich war es genau diese Mischung aus der vertrauten Welt Händels und der eher unbekannten Cavallis und Cestis, die zu meiner wiegenden Stimmung führte. Für meine Ohren wechselte die Stimmung dennoch ständig. Wer mit deutschsprachigen Orchestern vertraut ist, dessen Stimmung liegt bei 443 Hertz – einzigartig weltweit und dem lauteren und volleren Streicherklang dienlich, nicht immer zum Vorteil der Sänger. Mit dieser Schwingungszahl stimmen sich Orchester – angeführt vom Kammerton a der Oboe – vor einer Aufführung ein, obwohl die Stimmkonferenz 1939 in London 440 Hertz bei 20° als Standard-Frequenz festgelegt und von der Europäischen Union Bestätigung erfahren hat. Eine derartige Vereinheitlichung gab es bis ins 19. Jahrhundert nicht, die jeweilige Stimmung war von der Region, dem Ort und der Art der Musik abhängig. Als ich zum ersten Mal den Saal des Tiroler Landeskonservatoriums betrat, wo der Wettbewerb ausgetragen wurde, fand ich die beiden wahrscheinlich auf 443 Hertz gestimmten Flügel abgedeckt in die Ecken der Bühne verbannt, in der Mitte standen zwei Cembali, die nicht nur unterschiedlich aussahen – alte Tasteninstrumente sind oft wahre Kunstwerke –, sondern auch unterschiedlich gestimmt waren: 415 Hertz für die Musik Purcells, Händels und Vivaldis, 440 Hertz für Cavalli, Monteverdi und Cesti. Also alles andere als wiegende Sicherheit und gefundene Mitte? Eher lustvolle Verwirrung des Bekannten? Für die französische Barockoper stimmen sich Ensembles gar auf 392 Hertz ein. Die weltbekannte Sängerin Waltraud Meier fordert generell eine tiefere Stimmung der Orchester, um den Möglichkeiten der Sänger besser gerecht zu werden. Die Teilnehmer des Wettbewerbs hatten sich der vorgegebenen Stimmung zu fügen, was für die Erarbeitung der Partien eine Herausforderung darstellte. Keiner der jungen Sänger, die zwischen 22 und 32 Jahren alt waren, wird zwei unterschiedlich gestimmte Cembali zuhause stehen haben. Viele behalfen sich mit digitalen Instrumenten, die einen schnellen Wechsel der Stimmung ermöglichen.

„Ich hätte nie gedacht, dass ich das Finale erreiche!“, sagte Marie-Sophie Pollak, mit 22 Jahren die jüngste Teilnehmerin des Wettbewerbs. Einen großen Gewinn brachte ihr die intensive Arbeit mit Andrea Marchiol, dem Dirigenten des Finalkonzerts. Bevor sie am Abend und dem Vormittag davor mit dem Ensemble proben konnte, hatte sie eine halbe Stunde Zeit, um ihre beiden Finalstücke mit Marchiol, dem langjährigen Assistenten von René Jacobs, zu proben. „Diese Arbeit empfand ich durchaus als hart. Doch nachdem ich auf seine Vorschläge eingegangen bin, konnte ich mir gar keine andere Möglichkeit mehr vorstellen, eine bestimmte Stelle zu singen.“ In der Barockmusik fühlt sich die gebürtige Stuttgarterin sehr wohl, ihre Mutter ist Blockflötistin, sie selbst wirkte als Studentin der Hochschule für Musik und Theater München schon in mehreren Projekten der dortigen Abteilung für Alte Musik mit. Den Wettbewerb empfand sie auch deshalb als so angenehm, weil sich die Jury Zeit für Gespräche nahm und vor allem jederzeit Philip Brunnader zur Verfügung stand, der als Organisationsleiter nicht nur im November 2009 das Regelwerk des Wettbewerbs erstellt, die Anmeldung und Vorbereitung koordiniert hatte sowie die Homepage betreute, sondern auch während des Wettbewerbs mit bewundernswerter Ruhe für eine entspannte Atmosphäre sorgte. Der Jury verordnete er am Vormittag der Einzelproben einen Ausflug auf Schloss Ambras unweit von Innsbruck, wohin ich einen Vormittag später am einzig sonnigen Tag fuhr, um in die Welt von Erzherzog Ferdinand II., Ferdinand Karls Onkel, abzutauchen.

Der Stadtbus hält am Fuße eines Berges, an den eine lautstarke Autobahn gebaut ist, die offensichtlich langfristig komplett in eine Röhre verlegt werden soll. Kein Schild zum Schloss, dafür ein unwirtlicher Weg durch die Baustelle. Am Ziel angelangt, ist der Lärm vergessen, der Wind hat wohl mitgeholfen. Vorbei an unzähligen Ritterrüstungen und Waffen, einer phantastisch kuriosen Wunderkammer, aus der ich am liebsten für sämtliche Verwandten und Freunde, vor allem aber für mich die passenden Souvenirs mitnehmen möchte, einer ermüdenden Anzahl von beeindruckenden Porträts gelange ich zur eigentlichen Sensation dieses Vormittags: die Sonderausstellung mit kolorierten Kupferstichen von der Hochzeit Erzherzogs Ferdinand II. mit seiner zweiten Gemahlin Anna Caterina Gonzaga von Mantua, die 1582 gefeiert wurde mit einer spektakulären Parade von Tänzern, Musikern, Gauklern und vor allem allegorischen und mythischen Figuren, in denen sich die Festgäste präsentierten. Der Bräutigam selbst trat in Gestalt des trojanischen Helden Aeneas auf. Weder Kosten noch Mühen wurden gescheut, um die Hochzeit des Herrschers zur opulenten Machtdemonstration zu machen. Selten wird einem so deutlich vor Augen geführt, wie die Kunst jahrhundertelang der Repräsentation diente. Noch einmal gehe ich an meinem vorläufigen Lieblingsgemälde vorbei, das Reichsgraf Gundakar von Dietrichstein zu Ross zeigt in seinem Kostüm zur Verkörperung der Erde im Rossballett Sieg-Streit dess Lufft und Wassers. Freuden Fest zu Pferd, das 1667 anlässlich der Vermählung Kaiser Leopolds I. mit der spanischen Infantin Maria Teresa gegeben wurde. Neben seiner Rolle hatte Gundakar auch die Gesamtleitung des Rossballetts inne, war sozusagen Regisseur. Ich frage mich, ob diese theatrale Form der Repräsentation heute noch möglich wäre, und stelle mir sämtliche Politiker in Kostümen vor. Natürlich ist die Freiheit der Kunst nicht hoch genug zu schätzen, doch die politische Repräsentation hat dadurch jede Kreativität verloren und ist zum Schaulaufen verkommen.
Welche abgedankte Politikerin bekommt heute schon eine Oper komponiert, wenn sie zum Katholizismus konvertiert? Christina von Schweden machte 1655 auf ihrer Reise nach Rom Station in Innsbruck und legte dort öffentlich das Glaubensbekenntnis ab. Die erste Oper, die Pietro Antonio Cesti für Innsbruck komponierte, wurde zu diesem Anlass im neuen erzfürstlichen Comedihaus direkt an der Hofburg uraufgeführt: L’Argia. Ein Jahr zuvor war der von Ferdinand Karl initiierte Theaterneubau als erstes Opernhaus im deutschsprachigen Raum mit der Überarbeitung von Cestis Oper Il Cesare amante unter dem Titel Cleopatra eröffnet worden. Das Theater war Ferdinand Karls Bühne der Politik, deshalb nannte ihn eine Ausstellung auf Schloss Ambras auch treffend „Sonnenkönig in Tirol“. Hatte Leopold V. die Hofkapelle bereits deutlich vergrößert und den monodischen Stil, den er in Italien kennengelernt hatte, als vorherrschenden in Innsbruck eingeführt, erlebten nach den Sparmaßnahmen während des Dreißigjährigen Krieges Musik, Theater und bildende Kunst unter Ferdinand Karl eine neue Blütezeit. Seine Vorliebe galt der Oper, die Anzahl der vorrangig italienischen Musiker in der sogenannten Cammer, dem Instrumentalensemble, wurde vergrößert und für Cesti der neue Posten des Kammerkapellmeisters geschaffen. Insofern irrt das Gedenkschild am Haus gegenüber des Domes, das Erzherzog Ferdinand Karl seinem Komponisten 1659 geschenkt hatte, dort heißt Cesti Hofkapellmeister, diesen Posten hatte aber seit 1648 Ambrosius Rainer inne. Ein neues Theater, opulente Feste, neu geschaffene Musikerstellen, Repräsentationsoper – als nächster Schritt folgte mit der Oper Orontea ein völlig freies Kunstwerk, das keinerlei repräsentativem Zweck diente und auf einem unterhaltsamen Theaterstück aus dem neapolitanischen Volkstheater beruht. Die Königin Orontea möchte der Liebe entsagen, um ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Natürlich gelingt ihr das nur so lange, bis der fremde Alidoro auftaucht, dessen Herkunft unbekannt ist. Nach allerlei Verwicklungen erliegt sie ihm, und als sich auch noch seine adelige Abstammung herausstellt, steht der Hochzeit nichts mehr im Weg.

Anna Alàs Jové hatte die getragene Arie „Intorno all’idol mio“ im Gepäck, mit der Orontea ihren Geliebten in den Schlaf singt. Sie ruft die lieblichen Winde an, ihn zu umwehen und durch seine Träume das Geheimnis ihrer Liebe zu ihm zu tragen. Irgendwie leidet Orontea in dieser langsamen Arie auch an ihrer Liebe, noch weiß sie nicht, ob sich ihre Sehnsucht erfüllen wird. Ich brauche mich also nicht zu wundern, warum mich dieses Stück so bewegt. Die spanische Sängerin, 1980 geboren und ausgebildet in Catalunya, Karlsruhe und dem Opernstudio des Staatstheaters Nürnberg, sucht auf der Bühne sofort den Kontakt zum Publikum, was ihrer Ansicht nach nur über die Geschichte geht, die sie erzählt. „Lügen bringt nichts“, sagt sie, das spüre das Publikum sofort. Ich glaube es, ihre Authentizität auf der Bühne ist sofort spürbar, als sie im Semifinale Xerxes’ Arie „Crude furie“ aus Händels Oper singt. Als Mezzosopranistin singt sie häufig männliche Partien, die früher von Kastraten dargestellt worden sind, wodurch sie viel über die männlichen Gefühle gelernt habe. Der Cesti-Wettbewerb bedeute ihr viel, da es kaum vergleichbare gebe und die Barockoper ihr sehr am Herzen liege. „Die Stimme kann leicht sein, muss aber dennoch richtig im Körper platziert sein.“ Dieses Ideal überträgt sie auch auf späteres Repertoire, aus dem sie schon einige Rollen gesungen hat. Momentan fügt sie ihrer Ausbildung in Berlin einen Master in Liedgesang hinzu. Auch für die Britin Ruby Hughes ist der Liedgesang eine wichtige Komponente, um ihre Stimme zu veredeln. Zunächst als Cellistin ausgebildet, sammelte sie schon am College erste Erfahrung mit der Musik Monteverdis und Händels. 2009 gewann sie beim Händel Festival in London den ersten Preis sowie den Publikumspreis. Sie ist bereits bei einer Agentur unter Vertrag und nutzt den Wettbewerb vor allem, um Kontakte zu knüpfen. Sie teilt meine Vorliebe für Lamenti, die sie eine tiefe Verbindung mit dem Publikum eingehen lassen. Daher entschied sie sich für „Lascia ch’io pianga“ als zweites Stück im Finale.

Die Möglichkeit, die Menschen kennenzulernen, „die den jungen Sängern das geben können, was sie am meisten brauchen, nämlich Berufspraxis“, war für Sebastian Schwarz ein wichtiges Anliegen, als er die Jury zusammenstellte. Deshalb befanden sich neben dem Künstlerischen Leiter der Festwochen, dem Dirigenten Alessandro de Marchi, und dem Countertenor Jochen Kowalski auch die Betriebsdirektorin der Norwegischen Nationaloper, Anne Gjevang, der Geschäftsführer der Eutiner Festspiele, Josef Hussek, der lange Jahre als Betriebsdirektor bei den Salzburger Festspielen und an der Hamburgischen Staatsoper tätig war, sowie der Künstleragent Paolo Monacchi in der Jury. Ruby Hughes freute besonders, dass keine Gesangslehrer in der Jury saßen, da diese immer etwas zu mäkeln hätten. Die Britin ging im Finale leer aus. Die Russin Anna Gorbachyova belegte den ersten, Anna Alàs Jové den zweiten, Hanna Herfurtner den dritten Platz. Diese deutsche Sopranistin und der ungarische Tenor Dávid Szigetvári werden vom Sonderpreis profitieren, den das Wiener Festival Resonanzen in Form einer Auftrittsmöglichkeit vergab. Der Tenor schätzt diese Gelegenheit besonders, denn in seiner ungarischen Heimat werden schon für Mozart-Partien oft sehr voluminöse Stimmen besetzt, die er nicht besitzt. Der 26-jährige fühlt sich momentan mit dem barocken Repertoire am wohlsten, weil er damit seine Stimme nicht überanstrengt und sie in Ruhe wachsen lassen kann. Sein warmer, schlanker Klang prädestiniert ihn für Rollen wie den Evangelisten in Bachs Passionen. Während des Wettbewerbs hatte er auch schon seine nächste Rolle in Domenico Mazzocchis Oper La Catena d’Adone in Belgien vor Augen.

Heute brauche es zwar auch aufgrund der größeren Theater, in denen Barockoper gespielt wird, eine voluminöse Stimme, sagt Sebastian Schwarz und ist froh, dass „das körperlose Gesäusel“ der achtziger Jahre nicht mehr als Ideal der barocken Stimme angesehen wird. Volumen sei aber lange nicht so wichtig wie bei Verdi oder Wagner, für das barocke Repertoire benötigten die Sänger eine Erfahrung mit der spezifischen Artikulationsweise und vor allem der Verzierungstechnik, die zwar erlernbar sei, wofür die Sänger jedoch ein besonderes Gespür entwickelt haben müssen. Es ist ein Gespür für die Feinheiten in der Musik, den unvermittelten Tonartwechsel, der uns erschauern lässt, das flüchtige Ornament. Und dieses Gespür brauchen auch wir Zuhörer, um das Gefühl mit dem Sänger zu durchleben. Vielleicht liebe ich einfach nur diese Konzentration.

 

im Heft weiterblättern


Email

registrieren

Ihre Email-Adresse wurde bei uns registriert und zur Liste der Newsletter-Abonnenten hinzugefügt.
Sie erhalten in Kürze ein Bestätigung per Email.