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„Das kann mein Kind auch!“

Joseph von Westphalen über einen Satz, der beim Betrachten zeitgenössischer Kunst schon des Öfteren ausgerufen wurde.

Wem eine Opern- oder Theateraufführung nicht gefällt, der macht nach dem Fallen des Vorhangs seiner Enttäuschung mit lauten Buhs Luft, wenn er nicht schon vorher demonstrativ den Zuschauerraum verlassen hat. Und selbst die kritiklosen Feuerzeugfans der seichtesten Mainstream-Popmusik haben ihre Schmerzgrenzen und randalieren, wenn ihre Stars das Konzert zu lustlos abliefern.

Lesen ist kein öffentlicher Vorgang. Schade, sonst würde man es hören, wenn tausend Leser ein künstlich hochgejubeltes Buch genervt zuklappen und in die Ecke schmeißen.

Anders die Museumsbesucher. Sie lassen sich einiges bieten. Sie stehen wie die Schafe stundenlang an, um in eine Ausstellung zu kommen, die man gesehen haben muss, obwohl in der ständigen Sammlung gleich nebenan die viel besseren Bilder hängen, der Eintritt billiger ist und die Räume nicht überfüllt sind. Wenn sie die heiligen Hallen endlich betreten haben, machen sie Andachtsgesichter wie verlogene Barockmärtyrer, flüstern scheu und lassen sich von sadistischen Wärtern widerstandslos auf Distanz zu den Kunstwerken bringen, damit nicht schon wieder die überempfindliche Alarmanlage ausgelöst wird. Sie zücken die kleine Kamera nicht, obwohl das Fotografierverbot eine Frechheit ist, denn vom einzigen Bild, das einem wirklich gefällt, gibt es weder eine Postkarte noch ist es im Katalog zu sehen.
Trotz aller Schikane pressen Museumsbesucher die Lippen zusammen und murren nicht noch so leise vor sich hin, geschweige denn schimpfen sie laut, obwohl schimpfen das einzige sein dürfte, was in Museen nicht verboten ist.

Seit Jahrzehnten kann man jedem Katalogtext entnehmen, dass die zeitgenössische Kunst nicht etwa gefallen, erheitern oder gar entzücken will, sondern dass es ihr finsterer Auftrag ist, zu provozieren, zu irritieren. Auf Ausstellungseröffnungsreden wird diese schicke Ansicht immer wieder neu verkündet. Bei großen Ereignissen sind es gar Kanzler und Minister, deren Redenschreiber in den Festvortrag geschrieben haben, dass Kunst ein Störfaktor sei, dass man sich an ihr reiben und dass sie gelegentlich weh tun müsse.

Allein schon die Art, wie die glattesten Bürgermeister und Kulturbeauftragten mit Inbrunst derart von der verletzenden Kantigkeit großer Kunstwerke schwärmen, sollte die innere Alarmanlage anspringen lassen und zu einem Pfeifkonzert des Publikums führen. Doch dieses fühlt sich nur geschmeichelt, zur großen Vernissage geladen worden zu sein, und der anwesende Künstler, der damit quasi die Vollmacht zum Foltern der Kunstbetrachter bekommen hat, senkt feierlich und stolz beschämt sein Haupt bei diesen großen Worten.

Sich gegen die Zumutungen des Neuen zu wehren, ist eine natürliche Reaktion. Rückblickend erscheint diese Reaktion allerdings oft als reaktionär. Kaum noch nachzuvollziehen die anfängliche Ablehnung des Impressionismus. Längst akzeptieren wir die Werke der damaligen Avantgarde als göttlich und dauerfrisch, manchmal sind wir ihrer himmlischen Harmonie fast überdrüssig. Und doch waren es nicht nur die Künstler und Liebhaber der schwülen Salonmalerei, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gegen das geniale Geflimmer wetterten. Selbst ein Maler, den man auf Grund seines kühnen Pinselstrichs durchaus als Vorläufer der Impressionisten bezeichnen kann, Adolf Menzel nämlich, konnte mit den französischen Kollegen nichts anfangen. Als das Berliner Kunsthändlerehepaar Bernstein 1882 stolz mit einem Monet und einem Sisley aus Paris zurückkam, war Menzels giftiger Kommentar: „Haben Sie wirklich Geld für den Dreck gegeben?“


Heute geben Politiker vor, sich an der Kunst zu reiben, früher rieb sich jede neue progressive künstlerische Stilrichtung am Widerstand der herrschenden und ihrer konservativen Anhänger. Der Widerstand hat der neuen Kunst nicht geschadet, vielleicht hat er sie groß gemacht.

Mit nennenswertem Widerstand aber hat die zeitgenössische Kunst schon seit Jahrzehnten nicht zu rechnen. Nicht nur das Publikum lässt sich alles gefallen, auch die Kunstkritik hat die Hieb- und Stichwaffen längst abgelegt und akupunktiert den einen oder anderen Künstler allenfalls vorsichtig. Neben der geschilderten Angst, das geniale Neue womöglich nicht zu erkennen und sich mit seiner Ablehnung später zu blamieren, ist es der Kunstmarkt mit seinen Millionenumsätzen, der elementare Kritik nicht zulassen kann, weil zu viele Menschen von der in den Markt hineingepumpten Heißluft und von der Spekulation mit Kunst leben. Und diese Bank, diese Vermögensanlagen dürfen nicht auch noch zusammenbrechen.

Indirekt Mitschuld an der weitgehenden Unantastbarkeit der zeitgenössischen Kunst hat auch die perfide Ästhetik der Nationalsozialisten. Die widerwärtigen Nazis machen es einem noch nach über 65 Jahren nicht nur schwer, die heutige israelische Siedlungspolitik mit der gebührenden Vehemenz zu verdammen, sie haben mit ihrem abartigen Gefasel von der „Entarteten Kunst“ und den entsprechenden Säuberungen der Museen auch dafür gesorgt, dass man besser schweigt, auch wenn es einen insgeheim drängt, ein Kunstwerk für den letzten Schmarren zu halten. Man kann all das nicht sagen, man traut sich nicht, es wäre eben nicht nur reaktionär, schon schlimm genug, es wäre auch noch verdächtig nazinah. Man wagt nicht einmal, so über ein Kunstwerk zu denken. Man würde sich vorkommen wie Joseph Goebbels. Die Folge dieser selbstverordneten Korrektheit ist, dass eine stümperhafte Kohlezeichnung von Max Pechstein oder Erich Heckel für Zigtausende versteigert werden kann. Denn wertsteigernder als jede Expertise ist der Hinweis darauf, die Werke eines Künstlers hätten in der Nazizeit als entartete Kunst gegolten. Im Gegenzug dazu kann man für einen Spottpreis von unbekannten Malern aus dem späten 19. Jahrhundert feinste unverstaubte Landschaftsbilder bekommen, wie sie Corot und Courbet nur selten hingekriegt haben. Sie haben nur einen Makel: Sie wurden nie als Geschmier oder entartet abgestempelt. Damit fehlen ihnen die höheren Weihen.

Menzel konnte im Zusammenhang von Kunst noch unbefangen und wunderbar ungerecht von „Dreck“ sprechen. Wer weiß im Übrigen, worauf er sich bezog, wahrlich nicht jedes Bild von Monet und Sisley ist gelungen. Heute aber ist dieses Wort verboten, der Kunstliebhaber verbannt es ängstlich aus seinem Wortschatz und Bewusstsein wie der Erzkatholik den unkeuschen Gedanken. Und wenn dem Betrachter manche gepriesenen Bilder oder Skulpturen noch so dilettantisch hingeschmiert und hingekleckst und vollkommen belanglos erscheinen, wenn ihm eine Installation hirnverbrannt verblasen und mit künstlicher Bedeutung aufgeschäumt vorkommt, lieber beißt er sich auf die Lippen und presst sein Ohr an den Audioguide, als elementare Zweifel anzumelden. Und schon gar nicht erlaubt er sich die Einwände vorzubringen, die vor vielen Jahrzehnten beim Aufkommen der gegenstandlosen Malerei zu hören waren und die seitdem als Inbegriff der bürgerlichen Ignoranz und der Infantilität gelten: „Das soll Kunst sein? Das kann ich doch auch. Das könnten ja meine Kinder besser!“

Manches Bild von Picasso hat sich in den 1950er Jahren, als die moderne Kunst auch in Deutschland und in den von ihm ehemals beherrschten Gebieten wieder gezeigt werden konnte, diese Vorhaltungen machen lassen müssen. Seltsamerweise war das Nachkriegsbildungsbürgertum nicht gierig auf die ihm von 1933 bis 1945 vorenthaltene Kunst (auch nicht auf den „verpassten“ Jazz der 30er und 40er Jahre), sondern schüttelte zunächst nur verständnislos den Kopf. Erst die junge Nachkriegsgeneration bekam dann jede Menge kubistische und expressionistische Bilder in die entnazifizierten Schulbücher geschrieben, begann für die eben noch verfemte Kunstzu schwärmen, erklärte die Expressionisten und Kubisten, Surrealisten und Suprematisten zu Heiligen und übersah in der Begeisterung, dass der lustige Dalí seine Masche peinlich zu Tode reitet, dass Max Ernst hölzern und steril malt, dass der gepriesene abstrakte Kandinsky viel weniger abwechslungsreich ist als der frühere figurative, dass Matisse manchmal auch nur ein besserer Tapetenmaler ist und dass im riesigen Werk des genialen Picasso natürlich Hunderte von völlig uninspirierten Arbeiten nicht annähernd die künstlerischere Qualität und Kraft der besagten Kindergartenmalereien haben.

„Kunst kommt von Können, dachte ich! Jedes Kind kann so malen! Das kann mein Bub auch!“ Wenn auch diese Sätze in den Museen nicht mehr zu hören sind (schon weil die Leute, die sie auf den Lippen haben, nicht ins Museum gehen), werden sie vermutlich noch immer munter in den eigenen vier Wänden ausgerufen – an denen solche Kunst natürlich nicht hängt. Vielleicht war man beim Chef eingeladen, der etwas besseres zu sein glaubt und über seinem Sofa ein Bild gedübelt hat, das nur aus einer roten Farbfläche besteht.

Das Bedauerliche und Problematische ist nicht die kunstfeindliche Banausenhaftigkeit solcher Einwände, sondern die Tatsache, dass sie meist von den falschen Leuten vor den falschen Bildern vorgebracht werden. Falsch plus falsch – da kann durchaus ein richtiges Ergebnis herauskommen. Denn bei dem bespöttelten Bild handelt es sich möglicherweise um das Machwerk eines kolossal kreativen Provinzmatadors, der die Welle der Moderne nur nutzt, um seine läppischen Arbeiten an den Mann zu bringen. Wobei noch die Frage zu klären wäre, ob dieser Künstler selbst seine Sachen für große Kunst hält oder die Welt nur betrügen will.

Das Bedauerliche: Weil der Das-kann-doch-jeder-Idiot-Einwand von gestrigen und ahnungslosen Kleingeistern gepachtet ist, kann der Mensch mit Kunstverstand dieses primitive Argument nicht mehr vorbringen. Für manche auch in stattlichen Museen reichlich vertretenen Primitiven, die in der Beuys-Nachfolge Steine auf das Parkett der Ausstellungsräume legen oder in der Victor-Vasarely-Nachfolge ohne Sinn und Verstand geometrische Formen auf die Leinwand auftragen, wäre der spöttische Hinweis auf die kinderleichte Nachahmbarkeit dieser Kunstwerke vielleicht ein hilfreiches Korrektiv. Das ratlose Schweigen schützt diese schlechten Werke und macht sie erst zur Kunst.

Denn so inkompetent und naiv und banausenhaft die der modernen Kunst vorgehaltene Schmähung auch ist, so muss man ihr doch zugute halten, dass sie den Marktwert ausklammert (der auch bei der originellsten und entzückendsten Kinderarbeit Null ist, während man selbst für eine miserable Arbeit von Picasso genug Geld bekommt, um drei neue Kindergärten zu bauen). Und der Marktwert ist tatsächlich nicht alles.
Jeff Koons und Damian Hirst sind keine Narren. Sie wissen selbst, dass sie von ihren hundert Handwerkern fragwürdiges Zeug für einen überdrehten Kunstmarkt fabrizieren lassen. Was genau Kunst ist, weiß man eh schon lange nicht mehr so genau. Deutungen und Bedeutungen gehen einem zunehmend auf die Nerven. Da ist es cool und clever, einfach den Markt bestimmen zu lassen und zu sagen: „Wenn der Kunstmarkt bereit ist, Geld für meine Ausgeburten zu bezahlen, dann muss es wohl Kunst sein. Und wenn er große Summen ausgibt, scheint es sich um große Kunst zu handeln. Ich weiß zwar nicht, was meine Sachen sollen, aber wenn den Kunstkritikern dazu hochintellektuelle Katalogvorworte einfallen, dann wird schon etwas dran sein.“ So ähnlich argumentieren die Großkünstler unserer Tage. Ganz offen. Man kann ihnen nicht einmal Scharlatanerie vorwerfen. Diese Kunstkaiser sagen selbst, dass sie nackt sind. Ist das nicht ziemlich fragwürdig? Klar, Kunst muss doch die Welt in Frage stellen! Und wenn es dafür auch noch reichlich Kohle gibt, wäre man doch doppelt blöd, das nicht zu tun.

Eine Kunst zu erzeugen, die sich ausschließlich über ihren Marktwert definiert – das ist tatsächlich auch eine Kunst; und zwar eine, die nicht jedes Kind kann. Dass es so weit kam, daran ist Joseph Beuys nicht unschuldig. Auch er ein unantastbarer Säulenheiliger der Moderne. Sein erweiterter Kunstbegriff, sein nettes Geschwätz von der sozialen Plastik und die romantische Behauptung, dass jeder Mensch ein Künstler sei und alles zur schönen Kunst werden könne, hat Gestalten wie Damian Hirst erst möglich gemacht. Mit seinem Fett und Filz und seinen ausgequetschten Uhu-Allesklebertuben in alten Militärschränken ist Beuys allerdings noch ziemlich liebenswert, verglichen mit den kaltschnäuzigen Erfolgsproleten der ihm nachgefolgten Künstlergeneration.

Wir sind durch diese frivole Entwicklung, durch den übergroßen Hirst-Haifisch und die Jeff-Koons-Mickey-Mäuse aus aufgeblasenem Aluminium daran gewöhnt, die Kunst nach ihrem Marktwert einzuschätzen. Da führt die etwas aus der Mode gekommene Frage, ob ein Kind nicht unter Umständen der bessere Künstler sei, zurück zur Malerei und zu der gar nicht so dummen Anschlussfrage, worin denn der ideelle Wert eines Kunstwerks jenseits des Marktwerts besteht.

Diesen ideellen Wert muss es auch geben, sonst hätten die Museen dieser Welt schon dicht machen müssen. Klar strömt die kunstbeflissene Bildungsmasse blindlings in die als spektakulär geltenden und zehnfach gesponserten Event-Ausstellungen. Als Vertreter des modernen Kulturbürgertums schließt man sich brav den Führungen an und nickt alles Angepriesene folgsam ab, auch wenn das Schwärmen involvierter Kunsthistoriker sich manchmal nicht von der Propaganda unterscheidet, mit der Arzneimittelvertreter den Ärzten teure neue Medikamente aufschwatzen. Daneben aber gibt es zum Glück genügend Menschen, die auf eigene Faust ungestört durch die ständigen Sammlungen der Galerien schlendern und sich an einzelnen Bildern erfreuen, egal, wie hoch deren Marktwert ist und ob gerade der 500. Geburtstag des Malers abgefeiert wird oder nicht. Wenn man das Glück hat, in ein Museum ohne supersensible Überwachungsanlage und mit freundlichen Wärtern geraten zu sein und sich ein paar alte Meister aus allernächster Nähe anschauen kann, besteht das Entzücken zu einem Teil auch darin, dass sich die alberne Frage, ob ein anderer das nicht auch könnte, sich hier nun wirklich nicht stellt. So wie Lucas Cranach oder Vermeer kann tatsächlich niemand malen, kein Wunderkind, kein Meisterfälscher. Die Perlen, die Stoffe, das kriegt keiner so hin.

Es kann aber auch das Bild eines ganz unbekannten Malers sein, das einen da plötzlich packt. Es muss kein Virtuose sein, und es ist egal, aus welcher Epoche das Bild stammt. Aus dem fernen 16. oder unserem 21. Jahrhundert, pingelig gemalt oder locker hingeworfen. Auch ein Foto kann es sein, von einem gefeierten Kamerakünstler oder von einem anonymen Postkartenfotografen. Es muss nicht viel zu sehen sein. Eine Frau schaut vor sich hin, ein Mann steht daneben. Das ist vielleicht schon alles. Und doch kann einem so ein Bild in einem Sekundenbruchteil so viel Welterkenntnis vermitteln, wie sämtliche Dramen Tschechows zusammen, egal ob es 10 Millionen wert ist oder ob man es für 5 Euro auf dem Flohmarkt bekommt.

Wem eine Leinwand zu altmodisch ist, der kann ja Marina Abramović beim Stillsitzen zuschauen. Und wenn es tatsächlich Kunstliebhaber gibt, deren hochsensibles Sensorium das Figurative nicht mehr benötigt und denen ein Quadratmeter Blütenstaub auf dem Museumsboden als Vermittler geheimer Botschaften genügt – auch gut, kein Spott. Die Geduld und den Bienenfleiß übrigens hätte kein Kind der Welt, so viel gelben Staub aus den Blüten zu sammeln. Und die Kinder möchte ich sehen, die wie die Abramovic´ wochenlang stillhalten können.

 

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