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Vom Mangelreiz der Bilder

Es war nicht die erste Auszeichnung für Christian Berger, wohl aber die bislang aufsehenerregendste: die Oscar-Nominierung 2010. Walter Groschup hat den erfolgreichen Kameramann, Produzenten, Regisseur und Drehbuchautor getroffen und erfahren, dass Wahrnehmung nicht delegierbar ist, dass man hauptsächlich sieht, was man sich wünscht, und dass Anita Ekberg nicht nackt war, als sie im Trevi-Brunnen badete.

Walter Groschup: 1985, als du erste große internationale Anerkennung und ebensolche Preise für deinen Film „Raffl“ bekamst, hatte ich bereits das Vergnügen, mich mit dir über das Filmemachen zu unterhalten. Wir streiften damals auch den Begriff „Heimat“. Inzwischen ist dieser Begriff durch unzählige neue Denkanstöße arg zerzaust worden. Ist vom ihm deiner Ansicht nach überhaupt noch etwas Nennenswertes übrig geblieben?

Christian Berger: Heimat ist dort, wo ich lebe und leben kann, und die Orte, Lichter und Gerüche der Kindheit.

G.: Du bist inzwischen nach Wien ausgewandert, aber den Rücken gekehrt hast du Tirol, dem Land, in dem du groß geworden bist, nicht?

B.: Natürlich nicht, ich habe auch keinen Grund dafür, es waren einfach die persönlichen Umstände. Und auswandern hieße wohl etwas anderes. Nämlich, dass man aus wirtschaftlicher Not gehen muss, oder, dass man vertrieben wird, sich seiner Freiheit oder seines Lebens nicht mehr sicher sein kann. Dinge, die bei uns vor noch nicht all zu langer Zeit geschehen sind, das will ich nicht vergessen, und die auch heute ständig um uns herum passieren. Daher möchte ich in meinem Fall diesen Begriff keinesfalls verwenden. Wir leben diesbezüglich in unserem Land in einer privilegierten und glücklichen Zeit.
Was mich sehr irritiert, ist, dass wir scheinbar immer weniger gewillt sind, dieses Glück auch anderen zuzugestehen. Wir vergessen offenbar, dass auch wir es zugestanden bekommen haben. Es ist kein privater Besitz.

G.: Was mir, solange du in Tirol gelebt hast, besonders aufgefallen ist: Du hast dich unbeirrt für eine Verbesserung der sozialen und politischen Verhältnisse eingesetzt, bist aber nicht in die Rolle des „Mahners in der Wüste“ geschlüpft.

B.: Ich tue dasselbe in Wien, oder tät’ es, wo immer ich leben würde, glaub’ ich. Vielleicht bin ich inzwischen etwas altersruhiger. Und Mahner wollt’ ich so wenig sein wie Priester. Ich bin immer bewusster und aus vollem Herzen Anti-Fundamentalist.

G.: Kommen wir zu deiner Oscar-Nominierung für „die beste Kamera“. Dein Brotjob ist Kameramann und du hast in deiner Branche die höchsten Weihen erhalten. Macht dich das zufrieden?

B.: Natürlich ist es wohltuend, wenn man plötzlich auf hohem Niveau gesehen und gewürdigt wird für etwas, was man lange Zeit relativ einsam denkt und tut.

G.: Für deine Kamera beim Welterfolg „Das weiße Band“ hast du das Prädikat „Best Cinematographer of the Year 2009“ erhalten und die höchste Gilde der Branche, die American Society of Cinematographers (ASC), verlieh dir den Preis „Outstanding achievement in cinematography in 2009“. Was zeichnet deine Arbeit an diesem Film – durchaus im Sinne einer subjektiven Selbsteinschätzung – aus?

B.: Kein Spielfilm-Kameramann wird was ohne einen herausragenden Regisseur – das ist die Wahrheit! Viel von dem Erfolg hat ganz einfach Michael Haneke gemacht. Ohne die ständigen Herausforderungen durch ihn wär’ ich nicht so weit gekommen. Und natürlich hängt der Erfolg von vielen Aspekten ab. In den USA etwa war es die Summe der Ungewöhnlichkeiten, die die Aufmerksamkeit für den Film verstärkt hat: kein Star, keine Musik, Überlänge, kein wirkliches Ende und alles auch noch in schwarz-weiß … und da steht die Kamera ja wirklich ganz gut da! Wobei man beim Drehen ja nicht an so etwas wie Oscars denkt.

G.: Bei den Kritiken zu „Das weiße Band“ war einige Male zu lesen, dass im Film die Grausamkeit so gut spürbar sei. Ich hab’ sie nicht gesehen, die Grausamkeit!

B.: Haneke will die Grausamkeit ja nicht real zeigen, sondern sie in unserem Kopf evozieren. Er hasst die sogenannte „Überwältigungs-Dramaturgie“ und ist lieber ein eindringlicher Erzähler. Das beginnt schon mit dem Drehbuch, in dem die Bilder nie konkret – oder höchstens sehr, sehr reduziert – Gewaltdarstellung beinhalten. Mich erinnert deine Frage an einen amerikanischen Kritiker, der mich gefragt hat, wie man so einen Dreh aushalten könne – mit all den Grausamkeiten! Und als ich ihm entgegnete, was er denn da konkret gesehen habe, dachte er nach und sagte dann: Stimmt, eigentlich gab es nichts Grausames zu sehen …

G.: Das ist ja wie bei Fellini! In seiner Biografie wird die Geschichte vom Skandal bei „La Dolce Vita“ erzählt, als Anita Ekberg angeblich nackt im Trevi-Brunnen badete, was gar nicht stimmte: In Wirklichkeit war sie nämlich angezogen. Man sah nichts, aber die Leute, die in dem Film waren, erzählten es sich trotzdem. Mit der Kamera etwas sichtbar machen, was nicht da ist – was ist das für ein Gefühl, wenn so etwas gelingt?

B.: Ich hab bei den Don Bosco-Brüdern in Wien, wo ich eine zeitlang im Gymnasium war, zwei Wochenenden Hausarrest bekommen, weil ich als 15-Jähriger entgegen dem Gebot der katholischen Filmkritik natürlich auch „La Dolce Vita“ sehen musste und dabei erwischt wurde. Wir alle im Publikum haben Anita Ekberg nackt gesehen – weil wir es uns gewünscht haben! Und wie das so ist mit Wünschen, bedeutet die reale Erfüllung ja immer auch ein bisschen Ernüchterung, während man im Fall der Nichterfüllung den Wunsch weiterwünschen darf. Fellini hat uns diesen Wunsch am Leben erhalten, indem er Anita in ihrem – raffinierten – Kleid beließ. Immerhin war es ja dann nass – und das war der Trick! Man muss mit und in den Bildern einen Mangelreiz gestalten. Das Schwierige daran ist die Dimensionierung dieses Reizes: zu wenig funktioniert nicht, zu viel ist peinlich. Aber wenn’s funktioniert, verwandle ich einen vorerst passiven in einen aktiven Zuseher.

G.: Wim Wenders hat einmal erklärt, was eine „gute“ Kamera ist: Du filmst einen Mann in einer dunklen Gasse. Wenn du das „falsche“ Objektiv wählst, sieht man den Mann in der Gasse nur irgendwo hingehen, nimmst du hingegen das „richtige“ Objektiv, kommt der Mann näher und der Zuschauer fragt sich: Was macht er? Wohin geht er? Was will der Mann? Der Zuschauer wird so in die Geschichte des Mannes hin-
eingezogen und teilt dann mit ihm diese Geschichte. Was umtreibt dich am meisten, wenn du mit der Kamera zu „modellieren“ anfängst?

B.: Vielschichtigkeit zu erzielen! Das Abbilden allein ist zuwenig. Ich weiß allerdings nicht wirklich, wie das geht. Das sorgfältige Gestalten von Atmosphären ist wahrscheinlich das Wichtigste. Hinter oder in jedem Bild stecken andere Bilder und dahinter wieder andere … Nur so hat der Zuschauer die Freiheit, selbst zu sehen, zu erkennen.

G.: Luc Bondy hat über dich gesagt, du würdest mit der Kamera arbeiten wie „ein Maler aus der flämischen Zeit“. Als Kameramann verstehst du dich als „Mann des Lichts“. Und als solcher hast du ein neuartiges Licht erfunden, weil dir die gängige Apparatur viel zu behäbig war. Bitte erklär mir, dem Laien, was das Neuartige an deinem Lichtsystem ist!

B.: Das von mir erfundene Film-Beleuchtungssystem vereinfacht die Arbeitsmethoden am Film-Set und tritt dem Diktat der Technik entgegen: Es gibt weniger Blendung, keine Temperaturbelastung und sehr häufig ist es tatsächlich möglich, dass der Drehort frei von Stativen, Kabeln und Lichtkränen ist. Das bringt nicht nur der Kamera neue ästhetische Möglichkeiten, sondern vor allem der Regie mehr Flexibilität und den Schauspielern neue Freiheiten. Entstanden ist das System einerseits, weil ich genug hatte von diesen technischen Einschränkungen beim Dreh, andererseits durch mein Bestreben, die Schönheit des natürlichen Lichts zu erhalten. Und nicht zuletzt auch auf Grund meiner Freundschaft mit Christian Bartenbach: Sein Lichtdenken hat mich sehr inspiriert und bereichert. Licht soll man sehen, wo es drauf fällt, nicht wo es herkommt.
Meine Referenzfilme, die ich bisher mit dem „Cine Reflect Lighting System Berger/Bartenbach“ gemacht habe – alle, von der Klavierspielerin (2001) bis zum Weißen Band (2009) – schaden auch nicht wirklich und so wächst jetzt die internationale Aufmerksamkeit. Erste Erfolge sind nun endlich spürbar!

G.: Dass es dir um’s Modellieren von Licht geht, um Gestaltung, hat dir Isabelle Huppert, die Hauptdarstellerin in „Die Klavierspielerin“, liebevoll bestätigt. Sie sagt: „Es gibt sie nicht oft, die sich für ein Gesicht interessieren, die es modellieren können. Christian Berger gehört zu diesen wenigen.“ Welches Interesse ist das, was Huppert da anspricht?

B.: Genauigkeit im Beobachten und Hingabe im Gestalten.

G.: In deinen Reflexionen sprichst du davon, dass das Sehen an sich der verlässlichste Sinn des Menschen sei, der aber immer mehr von anderen Einflüssen überlagert werde. Verlernen wir das Sehen?

B.: Das wäre ein Früher-war-alles-besser-Standpunkt, den ich gar nicht teile. Es sind natürlich die Augen-Zuschütt-Möglichkeiten – das gilt auch für die Ohren oder die Nase – quantitativ enorm gestiegen. Aber das Individuum kann ja lernen zu wählen, zu entscheiden und zu handeln. Die Fragen lauten also: Wer lässt sich was und warum gefallen, oder wer wehrt sich wie, oder wem sind seine Sinne wichtig genug, dass er sie wach halten, trainieren und verteidigen will? Der Verfall oder Verlust der Sinne – die Verrohung – ist systemimmanent und war es wohl auch immer. Ein Hinterfragen, eine wache Neugier ist also ständig vonnöten.

G.: Dein erster Film aus dem Jahre 1974, „Der Untergang des Alpenlandes“, den du gemeinsam mit Werner Pirchner gemacht hast, ist ein skurriler 30-Minüter, in dem vor allem eine unbändige und lustvolle Lebenshaltung der damaligen Gegenkultur zum Ausdruck kommt: Auflehnung, Spiel mit den Traditionen und den gängigen Glaubenshaltungen … und sichtlich war viel Spaß bei der Arbeit. Der Film hat drei, vier Kinogenerationen überstanden und wirkt auf das heutige Szene-Publikum immer noch erheiternd. Er war dein Anfang in die Selbständigkeit als Filmemacher. Was gibst du den heutigen Jungen mit auf den Weg?

B.: Dass man seine Probleme selbst definieren muss; dass einem niemand die kreativen Nöte abnehmen kann; dass Wahrnehmung nicht delegierbar ist. Dass Werkzeuge keine Lösungen bringen, bestenfalls Möglichkeiten; dass wir Menschen uns auch weiterhin gegenseitig unsere Sensationen und Geschichten erzählen wollen, egal ob digital oder in 3D. Und dass die Interessen der Hardware-Produzenten eher selten auch die unseren sind. Lasst uns über’s Essen reden, nicht über’s Besteck!

G.: Die Newcomerin Melanie Hollaus hat vor einem Jahr ihren Experimentalfilm „New Kaisertal City“ vorgestellt. Beim Betrachten dieses Films kam mir manchmal „Der Untergang des Alpenlandes“ in den Sinn. Ich fragte Melanie: Was würdest du gerne von Christian Berger wissen? Hier ist eine ihrer Fragen: „,Der Untergang des Alpenlandes‘ war Ihr Filmerstling und eine Low-Budget-Produktion. Inwiefern beeinflusste eine ‚kollektive‘, ‚anarchistische‘ Arbeitsweise Ihre Kameraarbeit und inwieweit trainiert ein Weniger an Budget den Erfindergeist?“

B.: Kollektiv kann eine künstlerische Äußerung bestenfalls anteilig und im Vorfeld entstehen, anarchistisch schon eher – aber solche Überlegungen haben wir damals nicht angestellt, sonst wär’s ja zur Ideologie geworden und das wollten wir nicht. Viel Geld macht noch keinen guten Film, wenig Geld aber leider auch nicht. Und was mangelnde Mittel sind, wird bestimmt durch die Definition von Mangel: Was ist wofür nötig bzw. genug, ab wann wird das Ergebnis auf Grund fehlender Mittel schlechter? Manchmal wird’s durch die aus dem Mangel gespeiste Phantasie ja tatsächlich besser. Darauf würde ich mich aber nicht verlassen, das ist kein Rezept, eher ein schmaler Grat, die Grenzen sind fließend und abhängig von den Qualifikationen der beteiligten Personen. Für mich ist der geringstmögliche Aufwand für eine klar definierte Aufgabe der sowohl ökonomisch effektivste wie auch ästhetisch beste Weg. Ich suche diesen Weg immer, unabhängig vom Budget.

G.: Melanie Hollaus steht heute da, wo du 1974 warst, als du den Untergang gemacht hast. Was sagst du zu ihrer zweiten Frage? – „Sie arbeiten seit 1991 als Kameramann für Haneke, bis in die 90er Jahre haben Sie vorrangig Autorenfilme gemacht. Wie wirkt sich Ihre Autorenschaft auf die Kameraführung aus und welche Vor- oder Nachteile haben Produktionen, in denen Sie ausschließlich als Kameramann tätig sind?“

B.: Bei der Kamera-Arbeit in Spielfilmen ist für mich die Regie-Erfahrung wichtig, weil ich die unvermeidbaren kreativen Nöte kenne und Schauspieler mag und besser verstehe. Genauso wichtig ist mir aber auch meine Dokumentarfilm-Erfahrung, weil sie mich Flexibilität gelehrt hat und die Qualität des Beobachtens. Fähigkeiten, die mir in noch keinem Projekt geschadet haben. Multifunktion geht letztlich doch immer zu Lasten der einen oder anderen Funktion, deshalb waren die Doppelfunktionen für mich immer eher Notlösungen, als die Überzeugung, dass nur ich das könnte.

G.: Dein zweiter großer Kinofilm als Regisseur, „Hanna Monster Liebling“, den du mit deiner Frau Marika Green als Hauptdarstellerin gedreht hast, entstand gegen Ende der 1980er Jahre. Es ist berührend, was du in deinen Reflexionen darüber schreibst, und nicht minder berührend, was Marika darüber schreibt. Wieviel reine Liebeserklärung darf ein Kinofilm, der für die Allgemeinheit bestimmt ist, haben?

B.: Das ist wie bei Liebesgedichten: Jeder hat das Recht, eines zu schreiben, nur: Nicht jedes muss oder sollte man veröffentlichen. Wenn das Private das Allgemeine miterzählt und damit jeden betrifft, dann ist es gut – wenn nicht, sollte man es besser für sich behalten, sonst wird’s ein peinlicher Gemeinplatz. Ich hoffe natürlich, mir ist das Erstere gelungen.

G.: Gibt es ein Aufhören für dich? Oder haben sich künstlerisch zu Werke Gehende nicht ohnedies das Privileg verwirkt, irgendwann den verdienten, ruhigen Lebensabend antreten zu können? Dein portugiesischer Berufskollege Manoel de Oliveira hat bei der Berlinale 2009 mit 101 Jahren seinen neuesten Film präsentiert. Fernando Birri ist 85 und noch immer locker, wenn er auf der Bühne steht. Er strahlt jugendliche Frische aus, wenn er vor dem Publikum über’s Kino spricht. Wirst du deine Kamera jemals an den Nagel hängen und sagen: Ich hab’ genug getan?

B.: Weiß ich nicht, glaub ich nicht, kann ich mir nicht vorstellen. Nicht aus einem Forever-young-Lebensgefühl heraus, eher als ein Forever-curious-Wunsch.

G.: Eine letzte Frage: Du hast in deiner Jugend Bob Dylan gehört und er sang The times they are changing. Wie interpretierst du die Redewendung heute?

B.: Ich war kein Dylan-Fan, ich war und bin Musik-Fan. Damals begeisterte ich mich für Musik von Vivaldi bis Zappa, heute begeistere ich mich für gute Musik und gute Interpreten. Und die wechseln weniger inhaltlich sondern mit den Generationen, mit manchmal neuen Formen. Die Grundthemen im Leben und in der Kunst sind ziemlich überschaubar und verändern sich weniger im Was als im Wie.

 

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