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Am äußersten Rand der Menge

Der Fotograf Edgar Martins, in Portugal geboren, in China aufgewachsen, in London beheimatet, hat sich für Quart mitten im Winter ins hinterste Zillertal gewagt, um den Umschlag und fünf Doppelseiten für dieses Heft zu realisieren. „Black Minutes of Memorial Snow“ nennt er die Serie der Bilder, die nahezu unbereiste Zonen des vielbereisten Tales erkundet: „Die größte Herausforderung war, den obligatorischen V-Schnitt zu vermeiden, der entsteht, wenn du vom Tal aus Berge fotografierst. Ich wollte einen fantasy-artigen, fiktionalen Raum schaffen, der sich aber aus realistischen Elementen zusammensetzt. Verschiedenartigste Ausprägungen von Landschaft füge ich in den Fotografien aus Tux zusammen: schneebedeckter Talgrund, scheinbar von eben dort aufgenommen, und weitläufige Gebiete, die man nur von einer Anhöhe oder vom Flugzeug, nicht aber vom Tal aus erblicken kann. Dabei entsteht – wie oft in meinen Arbeiten – eine beunruhigende Verbindung von Realismus und Fiktion.“ Cyrus Shahrad schrieb im Auftrag des Fotografen zu den Zillertalbildern den folgenden Text mit dem Titel „Versammlung“:

Ich hatte keine Ahnung, wie sie hierher gekommen waren oder wie lange sie schon da waren; in Paaren oder kleinen Gruppen hatten sie sich auf dieser eisigen Ebene zusammengefunden, umgeben von schneebedeckten Berggipfeln, die auf allen Seiten theatralisch emporragten.
Manche hatten ein Getränk in der Hand, obwohl kein Kellner zu sehen war, andere saßen bequem auf gepolsterten Sesseln, wie man sie in einem vornehmen Club erwarten würde, die meisten jedoch standen inmitten kleiner, von zarten Eiskristallen bedeckter Pflanzen im Schnee. Die Männer trugen dunkle Anzüge und Krawatten, die Frauen schwarze Kleider, manche auch einen Hut oder einen Schleier. Ungeachtet der Witterung schien niemandem kalt zu sein; die Atmosphäre war freundlich und entspannt, die Gespräche leichtfüßig und liebenswürdig, und jene, die allein dort standen, hatten sich aus freien Stücken dafür entschieden, für sich zu bleiben und zuzusehen, wie die blasse Sonnenscheibe in der Ferne hinter einem zerklüfteten Gebirgszug unterging.

Als ich näherkam, erkannte ich mehr und mehr Gesichter in der Menge, Menschen aus meiner Vergangenheit, die während all der Jahre, die seit unserer letzten Begegnung vergangen waren, um keinen Tag gealtert zu sein schienen. Die alte Nachbarin meiner Großmutter zum Beispiel, Mrs. Cantley, deren rotgesichtiger Gatte Miniaturwasserspeier sammelte, die er von der griechischen Insel, die sie Jahr für Jahr im Sommer besuchten, mit nach Hause brachte. Ich sah Mrs. Dale, die Volksschuldirektorin, in deren Büro man mir einst eine Standpauke erteilte, weil ich das Gerücht verbreitet hatte, ein Mädchen, das wegen der Windpocken zuhause bleiben musste, wäre in Wahrheit gekidnappt worden, und Mr. Jones, den Mathematiklehrer, der mich mit der Hand im schuleigenen Münztelefon und mit einem Strumpf voller Silbermünzen in der Hosentasche erwischte.
Auch alte Freunde waren da: Richard Hunt, der sich über meinen hausgemachten Haarschnitt und meine billigen Plastikschuhe lustig gemacht und mir mein erstes Pornomagazin gezeigt hatte; Leigh Dane, der auf dem Schulweg sein Hemd nach oben gekrempelt hatte, damit ich die Narben auf seinen Armen und seinem Rücken sehen konnte. Und Frauen, die ich geliebt hatte: Teresa Gersten, deren Mund nach Zigaretten und bitterem deutschen Kaugummi schmeckte; Anna Morgan, die aus Angst vor einem Geist in ihrer Wohnung halbe Nächte lang wach lag; Sara Najafi, mit der ich in eine Stadt an der französischen Küste fuhr und um Mitternacht zum Klang der weit entfernten Wellen tanzte, während der Mond auf dem schwarzen Ozean in tausend Teile zerbarst.
Als ich durch die Menge ging, erkannte ich, dass keines der Gesichter mir völlig unbekannt war. Ich sah Zahnärzte und Busfahrer, Freundinnen früherer Mitbewohner, Reisebekanntschaften, mit denen ich in dem von Rauchschwaden verhangenen Jahr nach dem Schulabschluss einmal ein Zimmer in einer Jugendherberge geteilt hatte. Niemand hier schien mir gänzlich fremd zu sein, und doch ließen nicht einmal meine engsten Freunde erkennen, dass sie meine Anwesenheit wahrnahmen, während ich über die Ebene schritt; kein Blick traf sich mit dem meinen, niemand nickte mir auch nur zu.

Völlig unbeachtet bahnte ich mir meinen Weg durch die Versammlung, ließ schließlich auch jene hinter mir zurück, die vereinzelt am äußersten Rand der Menge standen, und ging weiter, hinein in den Schatten der Berge, dorthin, wo, wie ich wusste, meine Mutter und meine Schwester auf mich warten würden. Als ich sie erreichte, leuchtete der Himmel blau und schwarz, und wir begrüßten uns mit einem Lächeln und einer schweigenden Umarmung, bevor die beiden Frauen sich umdrehten und auf die Hügel zugingen, meine Schwester, deren blondes Haar sich wie ein seidener Fluss über ihren Rücken ergoss, und meine Mutter mit ihren feinen Locken von der Farbe zertrampelten Schnees.
Als ich hinter ihnen herging, überkam mich ein Gefühl, als hätte ich die beiden nur ein paar Augenblicke zuvor genauso gesehen: meine Mutter am Lenkrad ihres Wagens, meine Schwester auf dem Beifahrersitz, während ich vom Rücksitz aus ganz in Gedanken aus dem Fenster starrte. Ich erinnerte mich an das Lied aus den Boxen der Stereoanlage und daran, wie das Prasseln des Regens kurz verstummte, wann immer wir unter einer Autobahnbrücke durchfuhren. Und es war mir, als könnte ich mich an einen Lichtblitz erinnern, ein Geräusch wie Donnergrollen, und die Kassettenhüllen meiner Mutter, die in der Luft zu hängen schienen, als hätte man sie an unsichtbaren Schnüren aufgereiht. Aber ich konnte mir dessen nicht sicher sein.

Alles, dessen ich mir gewiss sein konnte, war das, was um mich war: der Himmel und die Ebene und die bleichen, von Frost umhüllten Pflanzen, und wie sich die Geräusche der Menschenmenge im Knirschen des Schnees unter meinen Füßen verloren, während wir in die immer dunkler werdenden Hügel hinaufstiegen.

(Aus dem Englischen von Astrid Tautscher)

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