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Karl auf der Mauer

In der Vinschgauer Ortschaft Mals stehen seltsame Wörter an den Wänden. Das kam so: Othmar Prenner notierte von sämtlichen Gemälden eines einheimischen Malers – Karl Plattner (1919–1986), in Südtirol gleichermaßen umstritten wie als Ikone verehrt – lediglich deren Titel und legte sie den Dorfbewohnern vor. Wer sich einen aussuchte, bekam ihn auf seine Hausmauer geschrieben. Ergebnisse dieser künstlerischen Intervention sind hier zu sehen. Von Andreas Hapkemeyer

Was ist ein Werktitel? Er ist ein Name oder eine Bezeichnung für ein Werk. Die einfachste Form ist zum Beispiel ein Porträt, das „Porträt (von N.N.)“ betitelt ist. Eigentlich kann jeder selbst erkennen, dass es sich um ein Porträt handelt, nur wenige aber wissen, wen denn der Künstler dargestellt hat. „Tote Mutter“ etwa, eines der wichtigen Werke Karl Plattners. Eindeutig ist, dass es sich um eine liegende alte Frau handelt. Theoretisch könnte sie aber auch schlafend dargestellt sein, vielleicht als Anspielung auf den nahenden Tod. Um zu verstehen, dass die Dargestellte also tot und zudem die Mutter des Künstlers ist, bedarf es des Titels. „Rio de Janeiro“ lautet der Titel eines Bildes von Karl Plattner aus dem Jahr 1952: Es zeigt in der unteren Bildhälfte ei-
ne horizontale Anordnung rechteckiger geometrischer Formen, die Häuser darstellen. Darüber ein Berg, der durch den Titel als der Zuckerhut identifiziert wird – das Wahrzeichen Rios.

Plattners Titel sind im Wesentlichen solcher Art: Sie beschreiben das, was man sieht bzw. sie geben zusätzliche Information, die über das Sichtbare hinausgeht. Abgesehen davon erfüllen Titel eine Ordnungsfunktion: Sind alle Werke eines Künstlers als „Ohne Titel“ bezeichnet, gibt es häufig Zuordnungsprobleme, da dann nur noch die Maße (und bis zu einem gewissen Grad das Entstehungsjahr) einen Anhaltspunkt bei der Identifikation gewähren. Eine andere Situation ist gegeben, wenn es sich bei den Werken – etwa bei einem Künstler wie Max Weiler – um stark abstrahierte Werke handelt. Da erlaubt der Titel überhaupt erst eine Vorstellung von dem, worum es dem Künstler geht. Der Titel soll das Interpretationsverhalten lenken, das der Betrachter dem Werk gegenüber einnimmt.
Ein besonderer Fall tritt im Zusammenhang mit der Fotografie auf. „An dieser Stelle hat die Beschriftung einzusetzen …“, schreibt Walter Benjamin gegen Ende seiner Abhandlung über die Geschichte der Fotografie. Er will damit sagen: Obwohl auf einem Foto alles mehr oder weniger klar ersichtlich ist (und um 1930 auch noch als Beweis dafür dienen konnte, dass sich etwas tatsächlich so zugetragen hat), bedarf es des Titels, der erklärt, wann und wo das Foto aufgenommen wurde und was es darstellt. Eine Veränderung des Titels kann Zusammenhänge verfälschen und manipulierend eingesetzt werden. Roland Barthes schreibt, dass es sich eigentlich bei jedem Foto so verhalte, als würde man mit dem Finger auf ein Objekt zeigen und sagen: „das, das da hat es wirklich gegeben, so hat es sich zugetragen“.

Für Mals hat sich der Künstler Othmar Prenner eine ganz spezielle Vorgangsweise ausgedacht. Er geht von einer Liste mit den Werktiteln von Karl Plattner aus, die – wie gesagt – relativ geradlinig sind:

(…)
16. DIE NÄHERIN
17. HÄUSER IM VINSCHGAU
18. LANDSCHAFT
19. FRAU MIT KIND UND VASE
20. OCHSEN
21. KONVERSATION
22. KATZE
23. FRAU AUF ROTEM GRUND
24. DRAMATISCHE BEGEGNUNG
25. LANDSCHAFT
26. FRAUENKOPF
27. SITZENDE
28. FRAU MIT MELONE
29. MUTTER MIT KIND
30. ALTES PAAR
31. SCHAFE
32. SCHAUFENSTER
33. BALKON
34. ENGEL
35. ZWEI OCHSEN
36. DIE LIEGENDE
37. VÖGEL

Ein Titel wie „Frau auf rotem Grund“ bezeichnet eben tatsächlich das Bild einer Frau vor einem roten Hintergrund. „Häuser in Planeil“ – ein Titel, der sich nicht unter den eben angeführten befindet – zeigt wirklich eine malerische Sicht auf Planeil usw. Wie kann man aus diesem relativ einfachen Verhältnis zwischen Bild und Titel nun ein interessantes Projekt ableiten? Denn um ein solches handelt es sich ohne Zweifel bei Othmar Prenners Plattner-Titel-Projekt in Mals. Prenner kehrt das Verfahren der Namensgebung einfach um: Was passiert, wenn man nur den Titel angibt, ohne das Bild dazu zu zeigen? Welches Bild ordne ich dann einem Titel zu? Prenners Kunstgriff basiert auf der Tatsache, dass Bild und Text auf Grund ihrer natürlichen Eigenschaften unterschiedlich abbilden. Ein Bild zeigt eine Häusergruppe, genau diese und keine andere, ganz unabhängig davon, ob es diese Häusergruppe nun auch in Wirklichkeit gibt und ob sie genauso aussieht oder nicht. Der Titel „Häusergruppe“ hingegen erlaubt die Vorstellung von allen möglichen und denkbaren Häusergruppen – hier oder woanders, heute oder in der Vergangenheit, im Dorf, in einer Stadt oder in einer Metropole. Sprache gibt – sofern sie nicht eindeutige Namen verwendet – nur einen generellen Rahmen, ist allgemein und insofern abstrakt.
Othmar Prenners Konzept sieht also die Loslösung der Plattner’schen Titel von ihren Bildern vor. Was passiert? Es fehlt nun der konkrete Bezugspunkt, es fehlt das Bild, das beim Titel eine eindeutige Zuordnung zuließe. Wählt nun jemand den Titel eines Bildes, das er genau kennt, trägt er eine (mehr oder weniger) genaue Vorstellung vom Bild mit sich herum. Hat jemand einen Titel einfach seines Klangs wegen gewählt, ohne das Werk zu kennen, so entsteht in ihm wahrscheinlich eine Vorstellung, die er möglicherweise dann einmal anhand eines Katalogs vergleicht mit dem Werk Plattners, auf das sich der Titel bezieht: Er mag dann hoch erfreut darüber sein, seine Vorstellung durch das reale Bild zu ersetzen oder dem Plattner’schen Bild zumindest neben seiner eigenen Vorstellung einen Platz zuzuweisen, sodass zwei Bilder koexistieren.

Grundsätzlich ist wohl davon auszugehen, dass es Othmar Prenner darum ging, in Mals einen konzeptuellen Vorgang auszulösen. Ausgangspunkt ist dafür das Werk eines Künstlers, den im Vinschgau, vor allem in Mals, jeder kennt und dessen Werk sich großer Anerkennung erfreut. Dieser vertraute Ausgangspunkt ermöglicht es dem Künstler, gemeinsam mit einer beachtlichen Zahl von Mitbewohnern, auf inzwischen weit über einhundert Häusern schwarze Schriften in das Dorfbild einzustreuen. Diese Texte (genauer: Werktitel) erfüllen eine mehrfache Funktion: Sie stellen einerseits einen Bezug zum Werk Plattners her; andererseits eröffnen sie einen Vorstellungsraum, der sich bei jedem Betrachter anders ausnimmt; und schließlich: Die Schriften stellen in ihrer Uniformität des Schriftbildes ein abstrakt-konzeptuelles Gestaltungselement dar, welches das Erscheinungsbild des Dorfes verändert. Das Dorf Mals wird zu einem konzeptuellen Kunstwerk.

Entscheidend ist aber, dass in dieses Kunstwerk die Bewohner einbezogen sind: nicht nur, indem sie zulassen, dass eine bestimmte Schrift auf ihrem Haus angebracht wird, sondern indem sie sich auf einen komplexen Vorstellungsvorgang einlassen, der an einem ihnen mehr oder weniger bekannten Ausgangspunkt ansetzt, um sie dann aber ins Offene zu tragen. Das wird am Ende ihr Denken nicht unverändert lassen. Sie sind schließlich nicht nur Statisten, sondern Mitakteure eines künstlerischen Vorgangs.

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