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Satzspiegel *
Von Delugan Meissl Associated Architects

Das Gedankenspiel, eine ägyptische Pyramide auf den Kopf zu stellen, mag absurd oder auch „künstlerisch“ im schlechten Sinne anmuten, es kann aber auch zu der Frage verführen, welche Funktionen sich daraus ergäben. Dieser gewaltige steinerne Sonnenschirm, dem Klima durchaus angemessen, würde unter sich einen sozialen Raum eröffnen, der zwar zentriert, doch ohne betretbares Zentrum wäre. Noch immer wäre die Pyramide skulptural und sakral, ihr scheinbares Schweben geböte Ehrfurcht, gesteigert wäre der Schauder des Erhabenen, markanter wäre die Unwahrscheinlichkeit ihrer Erscheinung. Statisch wird man nur im ersten Moment ein solches Bauwerk für unmöglich halten, denn symmetrische Körper sind auf ihrer Spitze leicht in Balance zu halten.
Wie würde es sich anfühlen, die Schattenzone unter der kopfstehenden Pyramide zu betreten und sich ihrem Auflagepunkt zu nähern? Es wäre mit Sicherheit eine verunsichernde Erfahrung und ein intensives Raumerlebnis, nicht nur kognitiv und ästhetisch, sondern geradezu auf einer psychophysischen Ebene. Das Gedankenspiel führt dazu, von dem, was die leibliche Dimension des Raumerlebens ist, eine klarere Vorstellung zu gewinnen. Die Polaritäten des Sichweitens und Sichverengens, der Schwere und des Schwebens, des Ragens und Liegens, der Himmelsoffenheit und Bedrücktheit würden augenblicklich präsent.
Alle Gewohnheiten der Wahrnehmung von Architektur verlören unter der kopfstehenden Pyramide ihre Orientierungskraft. Denn eine exakt 45° geneigte Fläche macht unentscheidbar, ob es sich dabei um eine „Wand“ oder ein „Dach“ handelt. Unser Gedankenspiel macht bewusst, wie schwer es ist, sich der jahrtausende alten Konvention dieser Unterscheidung zu entziehen und Raum jenseits des Schemas von Horizontal und Vertikal zu denken. Raum, der nicht aus Schachteln gestapelt ist. Bauen, das sich nicht den Grund-riss zugrunde legt, darauf Räume auftürmt und eine vertikale Fassade davorhängt. Eine Architektur ohne Vorderseite und Rückseite, Türen und Fenster. Wie bei allem, was selbstverständlich wurde, bemerken wir nicht mehr die Konventionalität. Darin liegt die Hürde, von Grund auf neu an die Konzeption von Raum heran zu gehen. Obwohl es ja ältere Behausungsformen wie Höhle, Iglu und Zelt gab, die auch keine Unterscheidbarkeit von Wand und Dach aufwiesen.
Wenn man aufhört, den Raum vom Rechteck aus zu denken, ist der 90° Winkel nur noch einer von unendlich vielen möglichen Winkeln, in denen sich nicht nur Volumen artikulieren lässt, sondern auch das Spektrum jener leiblichen Empfindungen, auf die wir gedanklich unter der verkehrten Pyramide gestoßen sind. Je nach Winkel wird eine Fläche dann beispielsweise zum größeren Teil als dachartig, zum kleineren Teil als wandartig wahrgenommen, wenn solche Metaphern überhaupt noch hereinspielen in die Erfahrung eines nicht rechteckigen Raums. Das geknickte flächige Band erlaubt es, anders zu segmentieren und anders zu verbinden, als es mit der Aufeinanderfolge von Schachteln möglich war. Die Freigabe der Winkel eröffnet eine Unendlichkeit feinster Differenzierungen des Erweitens und Verengens, Erhöhens und Verdichtens von Raum. Damit wird Raum artikulationsfähig, ein System von Differenzen, wird zum Medium und zur Sprache. Und zwar nicht nur zur Architektursprache im Sinne eines Stils, sondern im engsten und präzisesten Sinne: einer Sprache des Raums selber.
Ziemlich genau vor hundert Jahren versuchte die Architektur einmal schon, sich vom rechten Winkel zu lösen, im Prager Kubismus etwa oder auch in Deutschland mit der „Gläsernen Kette“, jenen Architekten um Bruno Taut, die gern phantastische Kristallpaläste auf die Spitze der Alpengipfel gestellt hätten. Beide Strömungen waren vom Naturphänomen des Kristalls inspiriert. Der Kristall jedoch hat seine physische Grundlage in der Ausbildung von Symmetrien. Löst man sich auch noch von der Symmetriepflicht, eröffnet sich die Möglichkeit, Raum jenseits aller Konventionen nur noch für das Funktionieren zu gestalten. Und zwar nicht etwa für das Funktionieren einfacher Entwurfs- und Bauführungsprozesse, sondern für das Funktionieren des menschlichen Erlebens, Bewegens, Interagierens und Handelns.
Proportionen, traditionell zwischen Tragen und Lasten, Wand und Dach gesucht, vervielfältigen sich, sobald der Gesamtraum aus geometrischen Teilflächen aufgespannt ist, die alle in proportionalen Verhältnissen zueinander stehen. Die alte Unterscheidung zwischen „gerade“ und „schief“ kann nicht mehr getroffen werden. Nicht im rechten, im funktional richtigen Winkel bewegt sich dann jede Fläche, die Raum einräumt und konturiert.

— * Nutzfläche auf der Seite eines Buches, einer Zeitschrift oder anderen Druckwerken; ein bedruckten Flächen zugrundeliegendes schematisches Ordnungssystem, das den Grundriss von Schrift, Bild und Fläche definiert.
— Aufforderung, Sätze zu formulieren, die für die eigene Arbeit stehen und deren Grundgerüst bilden; das eigene Schaffen zu spiegeln
und dabei die tagtäglich gebrauchten professionellen Ausdrucksmittel möglichst außer Acht zu lassen.

 

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