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Exoten unter der Brennerautobahn

Zu Karl Unterfrauners fotografischen Streifzügen in eine fremde Pflanzenwelt. Von Beate Ermacora

Reisende passieren Tirol von Nord nach Süd und umgekehrt auf der Brennerautobahn, die das enge Wipp- und Eisacktal von Innsbruck nach Bozen durchquert. Sie wurde in den 1960er und 1970er Jahren als eine der ersten Gebirgsautobahnen der Welt gebaut und ruht auf einer gigantischen Brückenkonstruktion. In seiner neuen Werkserie mit dem Titel „Neophyten“ hat sich Karl Unterfrauner mit der Kamera auf eine Entdeckungsreise unter diese Autobahn begeben. Dort ist er auf eine vom Menschen unberührte, dschungelartige Pflanzenwelt getroffen, die sich in freiem Wildwuchs entfaltet. Sein Augenmerk galt dabei ausschließlich jenen Pflanzen, die ursprünglich nicht zur heimischen Flora gehörten, sondern sich hier angesiedelt haben. Botaniker bezeichnen diese Einwanderer als „Neophyten“. Der Begriff wurde erstmals 1912 von Albert Thellung in die Wissenschaft eingeführt. Die Geschichte des bewussten oder auch zufälligen Transfers von Pflanzen und Samen aus anderen Ländern geht jedoch bis ins Jahr 1492 zurück, als Europa Amerika entdeckte und die Geschichte der Globalisierung ihren Anfang nahm.

Als konzeptueller Fotograf hat Karl Unterfrauner sein Fotoprojekt nicht allein ästhetisch angelegt, sondern verfolgt mit ihm spannende Spuren, die von der einfachen Wiedergabe eines Gewächses hin zu kulturgeschichtlichen und gesellschaftspolitischen Fragen führen. Ausgangspunkt ist die Untersuchung eines Niemandslandes, eines Unorts, der nach dem Bau der Autobahn ein Schutthaufen war, wobei die ursprüngliche Vegetation zerstört wurde. Die Fotografien lassen nur ab und an wie beim chinesischen „Götterbaum“ das architektonische Umfeld erahnen. Dieser ist ein typisches Beispiel für eine Pflanzenwelt, die sich auf Böden ansiedelt, deren ursprüngliches Gefüge zerstört wurde. Die Neubesiedlung solcher Terrains wird auch als Ruderalflora bezeichnet. Nach dem Krieg waren die spezifischen Standorte dieser neuartigen Flora und ihrer Pionierpflanzen städtische Trümmerflächen, in denen sie besser als andere Pflanzen überleben konnten. Unterfrauner interessiert sich nicht nur für das Erscheinungsbild der Pflanzen, sondern vor allem auch für deren Überlebensmechanismen, die er in seinen Bildern aufgreift. Die Fotoserie „Neophyten“ ist künstlerisch und wissenschaftlich zugleich aufgebaut und geht den vielfältigen Strategien einer kraftvollen Natur nach, die sich in unserer zivilisatorisch geprägten Umwelt zu behaupten weiß.

Um dies sehen und verstehen zu können, bedarf es eines Vorwissens, das sich Karl Unterfrauner bei einem Botaniker geholt hat, der ihn auf seinen Streifzügen durch die Unterwelt der Autobahn begleitete, die auch für Schlangen und andere Tiere ein paradiesisches Biotop ist. Die Fotos fokussieren einzelne Pflanzen, geben sie jedoch nicht wie in Sachbüchern isoliert von ihrer Umgebung wieder, sondern zeigen sie in ihrem natürlichen Umfeld. Dies ist kein leichtes Unterfangen, denn der Künstler muss mit den Bildern klarstellen, dass es ihm nicht um eine romantisch gestimmte Naturaufnahme geht, in der alle Gewächse von gleichwertigem Inter-
esse sind. Seine Bildkompositionen entstehen in einem ausgeklügelten Verfahren, wobei er erstmals mit der Digitalkamera arbeitet. Sie folgen stets einem ähnlichen Schema, bei dem die anvisierte Pflanze durch gezielte Beleuchtung mit externen Blitzlichtern magisch hervorgehoben wird. Die Hintergründe sind, der Bedeutungsperspektive folgend, dunkler, um die Hauptdarsteller zur Geltung zu bringen. Sein Augenmerk liegt jedoch nicht auf der Wiedergabe einzelner Pflanzen, sondern er lenkt subtil unseren Blick auf ihre artspezifischen Eigenschaften. Der aus China stammende „Sommerflieder“ etwa, der stets von unzähligen Schmetterlingen umschwärmt wird, wurde als Ziergewächs eingeführt und zeichnet sich, wie für Neophyten typisch, durch die Gleichzeitigkeit von Blüten- und Samendolden aus. Der „Japanische Flügelknöterich“ ist ein bambusähnlicher Strauch, der bis zu 30 cm am Tag wachsen kann und sich nicht über Samen, sondern über seine tiefen Wurzeln vermehrt. Das mit dem wunderbaren Namen „Götterbaum“ versehene Gewächs, das Mitte des 18. Jahrhunderts von Asien nach Europa kam, ist ebenfalls schnellwüchsig, mitunter schlecht und ätzend riechend, jedoch bei Seidenspinnern und Bienen sehr beliebt. Wie die Fotografie zeigt, ist er überaus genügsam und wächst auch unter widrigsten Bedingungen. So hat jede Pflanze ihre eigene Geschichte. Unterfrauner versieht sie wie in einem wissenschaftlichen Kompendium mit ihren Herkunftsorten und ihren lateinischen Bezeichnungen, die weltweit verbindlich sind. Er fügt auch die deutschsprachigen Namen hinzu, die regional unterschiedlich sein können, jedoch im gesamten Tiroler Sprachraum gleichlautend sind.

Anhand von unscheinbaren, unkrautähnlichen Pflanzen spinnt der Künstler ein feines dramaturgisches Netz an Bezügen, das von der Geschichte in die Gegenwart führt und auf überraschende Weise von kulturellen Transfers, von Überlebenskämpfen, der Verein-
nahmung von Territorien, von unglaublicher Anpassungsfähigkeit und der unterschwelligen Veränderung von Ökosystemen erzählt. Unterfrauners Auseinandersetzung mit Neophyten lässt eine gewisse Parallele zu den Arbeiten von Lois und Franziska Weinberger erkennen, die 1997 auf der documenta X auf einem stillgelegten Bahngleis am Kasseler Kulturbahnhof zwischen die bereits vorhandene Vegetation gezielt Ruderalpflanzen aus ost- und südeuropäischen Ländern setzten. In ihrem Werk, zu dem auch die 1998/99 entstandene „Einfriedung“ vor der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Innsbruck zählt, thematisieren sie anhand von Prozessen in der Pflanzenwelt soziopolitische Diskurse wie etwa die europäische Migrationsproblematik. Während der künstlerische Ansatz der Weinbergers darin besteht, Neophyten immer wieder gezielt in anderen Kontexten anzusiedeln, um deren Verhalten zu analysieren, sucht Karl Unterfrauner die Pionierpflanzen in einer Umgebung auf, die sie selbst gewählt haben. Er beobachtet die Pflanzen über lange Zeiträume hinweg, bis er den geeigneten Moment findet, um sie zu fotografieren und das Typische an ihnen festzuhalten, wobei er auch der Frage nachgeht, ob und wie sich ihre Ästhetik bei wenig Wasser oder ungenügendem Licht im Lauf der Zeit verändert. Zum Begreifen der Komplexität des Naturgeschehens gehört zudem die Neugierde, wissen zu wollen, wie und warum diese Außenseiter in unsere heimische Landschaft gelangten. Dabei stößt man auf interessante Geschichten, wie etwa die, dass die „Gewöhnliche Robinie“, die ursprünglich als Zierbaum aus Nordamerika eingeführt wurde, aufgrund ihrer starken Wurzeln, die Hänge sichern können, für den Eisenbahnbau ins Eisacktal gekommen ist. Vor allem aber wird man auch, vertieft man sich in die Materie, damit konfrontiert, dass Neophyten Problempflanzen sind, die man vielerorts bekämpft. Unter der Brennerautobahn bekommen sie allerdings immer neuen, exotischen Nachschub, denn von der Transitstrecke fallen regelmäßig aus fernen Ländern mitgeführte Samen von den Autos auf fruchtbaren Boden, in dem sie sich neu entfalten und ihre Umgebung nachhaltig prägen und beeinflussen. Ausgehend von einem grundsätzlichen Interesse an der Natur, deren ruhige Atmosphäre ihn zum Nachdenken einlädt, hat sich Karl Unterfrauner dem brisanten Thema der Neophyten zugewandt und festgestellt, dass sich die Natur nur so bewegt wie der Mensch, der Pflanzen zu seinem Vergnügen, zu seinem Nutzen oder aufgrund seiner Mobilität zufällig in neue Gebiete bringt.

Der Südtiroler Künstler, der 1994 einen Studienaufenthalt bei dem Konzept-, Foto- und Medienkünstler John Baldessari in Los Angeles verbrachte, wurde durch seine radikalen Bildkompositionen bekannt, in denen er Fotos von Garagentüren oder Heizungskörpern in einem Größenmaßstab von eins zu eins an die Wände von Ausstellungsräumen hängte. So wie er
sich diesen Objekten annäherte, näherte er sich auch zunächst der Pflanzenwelt an. 2005 zeigte er in der AR/GE KUNST Galerie Museum, Bozen eine fotografische Installation, in der jedes Foto einen Zweig, losgelöst aus seinem Kontext, vor neutral weißem Hintergrund wiedergibt. Während des Fotografierens vermaß der Künstler die exakten Abstände zwischen den Zweigen eines Baumes, um diese Relationen im White Cube der Ausstellungssituation exakt zu simulieren. Indem er die Bilder in demselben Verhältnis gruppierte wie die Äste gewachsen waren, ging er der Frage nach, warum Natur Ruhe und Harmonie ausstrahlt und wie sie auf uns wirkt. In der neuen Fotoserie der „Neophyten“ arbeitet er hingegen auf eindringliche Weise den Zwiespalt zwischen kontemplativer, ästhetischer Naturbetrachtung, dem Kampf der Pflanzen unter sich und den zivilisatorischen Eingriffen in Ökosysteme heraus. Prägte die Romantik den Naturbegriff als intellektuelles Konstrukt, dem wir heute noch anhängen, so eröffnet uns Karl Unterfrauner mit seinen Fotos eine Naturwelt, die unsere Vorstellungen von heiler Natur unterläuft und auf eigenartige Weise doch wieder zu bestätigen scheint.

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