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Im Ernst

Über den schreibenden Wanderer, wandernden Schriftsteller Walter Klier. Von Christian Seiler

Zum ersten Mal traf ich Walter Klier in Graz, ein Zufall. Es war spät, Klier kam mit seiner Lebensgefährtin Stefanie Holzer und ein, zwei Kollegen ins Schlossberghotel, wo ich nach einer Veranstaltung beim Steirischen Herbst auch herumsaß, so liefen wir uns in die Arme. Klier stellte sich als Mitglied der österreichischen B-Nationalmannschaft der Literaten vor. Das war mehr Selbstironie, als ich von einem Schriftsteller jemals gehört hatte, was ich, damals Legionär in der Kritikerreserve der Schweiz, sehr zu schätzen wusste.
Wir wanderten weiter in ein Café am Jakominiplatz und nahmen uns ein bisschen Zeit, um Wichtigkeiten durchzugehen. Erzählerische oder befindlichkeitsschwangere Literatur? Erzählerische, klar. Angelsächsische oder mitteleuropäische? Kommt drauf an. Liest Du Wissenschaft? Science fiction? Nein? Warum nicht? Musst du! Geht nicht ohne …
Ob es jetzt zwei oder vier war, als wir von der Bedienung höflich gebeten wurden, das Etablissement zu verlassen, weiß ich nicht mehr. Es war Sperrstunde, und ich ging mit dem Gefühl zurück in mein Hotel, endlich einen interessanten, einen viel zu kurzen Abend mit einem österreichischen Schriftsteller verbracht zu haben, interessant deshalb, weil da einer war, der nicht über zu kleine Auflagen, unfähige Verleger oder sein ungewürdigtes Leben jammerte, sondern voller Leidenschaft von Büchern erzählte, vom Erzählen, von gelungenen Sätzen, von Themen, die man irgendwann, aber besser bald, auch einmal in Literatur verwandeln sollte, oder, falls bereits verwandelt, lesen, lesen, lesen.

Wir trafen uns wieder in Klagenfurt, 1990. Klier selbst hatte bereits 1982 am Wettlesen um den Bachmann-Preis teilgenommen, einem Wettbewerb, bei dem ironischerweise die heutige Suhrkamp-Verlegerin Ulla Berkéwicz mit dem „Stipendium der Verleger“ ausgezeichnet worden war. Klier war ungekrönt geblieben, aber er hatte Gefallen an der Veranstaltung gefunden, war wieder nach Klagenfurt gereist und betrachtete mit sichtbarem Vergnügen, wie sich die Literaturbranche traf, präsentierte, produzierte, wichtig nahm, betrank und befeindete, küsste und umwarb.

Hätte ich damals gewusst, dass Klier und Holzer dieser Branche gerade eine böse, aber virtuose Falle gestellt hatten, hätte ich ihre offen gezeigte Freude am Exhibitionismus der Kollegen besser verstehen können, aber mit Ausnahme der Autoren wusste damals noch niemand, dass eine Fantasiefigur namens Luciana Glaser gerade einen sehr, sehr kurzen Roman namens „Winterende“ am Start hatte, der an der Oberfläche vom tragischen Künstlerleben des Südtiroler Poeten Norbert C. Kaser handelte, subkutan jedoch den Auftrag hatte, die Branche, die den Roman gerade mit Werken von Büchner, Hölderlin, Rilke oder Thomas Bernhard verglich, zu blamieren.
Den Roman selbst hatten Klier und Holzer binnen einer Woche zusammengestrickt. Das Schicksal des deliriernden Kaser, eine Prosa, die schmerzvergessen in ihre Hauptfigur hineinschlüpft, Künstlerdramatik, Schmerzsensibilität, Alkohol, Schnee, Frost und Sätze, denen man in die Ergriffenheit folgen kann: „Alles, was wir gelernt haben, war falsch“, lautet der Schlusssatz der Erzählung, da schwingt der ganze imaginierte Künstlerwelt-
schmerz der Luciana Glaser mit – und der einfühlsame Zynismus ihrer Schöpfer Klier und Holzer, der sich weniger gegen ihre Figuren richtet als vor allem gegen deren einfühlsame Rezipienten.
Weil sie genau wussten, dass der Text durch ein bisschen außerliterarische Melodramatik noch gewinnen würde, ließen Klier / Holzer die Autorin, zu der nicht mehr als eine biographische Notiz existierte – Luciana Glaser, geb. 1958 in Rovereto … – gleich ganz verschwinden. Sie lebe, hieß es, „in solcher Zurückgezogenheit, dass keine Photographie zur Verfügung steht“. Als „Winterende“ auf die Bestsellerlisten kletterte, flatterte dem irritierten Verlag eine Nachricht von Luciana Glaser ins Haus, in dem sie sich matt über den Erfolg ihres Buches freut, aber gleichzeitig rigoros ablehnt, für Interviews oder Pressegespräche zur Verfügung zu stehen: „Ich habe eine Zeitlang in einem Verlag gearbeitet und dort lernen können, was es für einen Autor und mehr noch für eine Autorin bedeutet, sich auf diesen Markt der Körper zu begeben. Ich bin nicht in der psychischen Verfassung, mir das zuzutrauen.“ Stattdessen, ließ das Phantom verlauten, gehe sie nach Nizza, um dort als Datatypistin zu arbeiten.

Der Luciana Glaser-Coup wurde schließlich vom „Spiegel“ aufgedeckt und führte zu einem Rachefeldzug der Kritiker, deren Nebenberuf bekanntlich die Humorlosigkeit in eigener Sache ist, an Klier. Er habe also absichtlich schlechte Literatur geschrieben, um die Branche zu decouvrieren, soso. Und was sei mit seiner eigenen, „guten“ Literatur? Warum habe noch niemand von „Flaschenpost“ gehört oder von der Erzählung „Die Anfänger“? Mhm?
Klier kann gut lachen. Er lacht über Luciana Glaser, er lacht über die Vorhersagbarkeit des Coups, er kann heiter über die Möglichkeit referieren, ein publikumstaugliches Werk zu verfassen, das alles besitzt außer den Respekt seines Verfassers – was wiederum sein eigentliches Verhältnis zum Schreiben definiert: Klier meint es ernst. Literatur ist kein Spiel. Geschrieben wird, was gesagt gehört, und wenn das kein großes Publikum wissen will, okay, dann eben nicht. Aber das ändert natürlich nichts an der Tatsache, dass es gesagt gehört.

Klier ist ein Tiroler Kind, aufgewachsen an der Schnittstelle von Freundschaft zur Natur und Unversöhnlichkeit gegenüber der Politik. Mit seinen Eltern Henriette und Heinrich Klier schrieb Walter eine Reihe von Wanderführern über alle wichtigen Bergregionen Tirols, uneitle, geradlinige Gebrauchswerke, die nur in ihrer handwerklichen Perfektion den Geist des gehobenen literarischen Bewusstseins ihrer Verfasser spüren lassen.
Heinrich Klier hatte in den fünfziger Jahren einige gut verkaufte Romane veröffentlicht, darunter „Feuer in der Nacht“, eine Geschichte des Tiroler Aufstands gegen die Franzosen im Jahr 1809. Als 150 Jahre nach der identitätsstiftenden Erhebung der Tiroler gegen den Feind von außen das entsprechende Jubiläum begangen wurde, begann es in Südtirol zu gären. Zwei Jahre später brannte es, und Heinrich Klier, der den Aufständlern mit seinem Roman das Motto vorgegeben hatte, fand sich in den frühen Sechzigern höchst aktiv in der Südtiroler Unabhängigkeitsbewegung wieder, inklusive persönlicher Teilnahme an Sprengstoffattentaten auf Strommasten. Für seine Urheberschaft an der Sprengung des Mussolini-Denkmals in Waidbruck 1961 wurde Klier in Abwesenheit zu 21 Jahren Gefängnis verurteilt, eine Strafe, die erst Ende der neunziger Jahre vom damaligen italienischen Staatspräsidenten aufgehoben wurde.
Walter, Jahrgang 1955, inhalierte diese Dualität, dieses brisante Gemisch aus Patriotismus und Wehrhaftigkeit, aus inniger Liebe zur Natur und der Ablehnung jeglicher Kompromisse.
Als junger Mann reiste er nach England und Frankreich, Mutterländer seiner obsessiven literarischen Beschäftigungen, bekannte sich nach einem Zwischenaufenthalt in Berlin jedoch zu seinem Standort Innsbruck. Auf die Qualitätsstandards, die er sich während des Studiums seiner Leidenschaften erworben hatte, wollte er freilich nicht verzichten.
Nachdem Klier schon früh in den achtziger Jahren Mitheraus-
geber der satirischen Zeitschrift „Luftballon“ gewesen war – Untertitel: Beiträge gegen den Wahnwitz –, gründete er 1989 mit seiner Lebensgefährtin Stefanie Holzer nach dem Vorbild der „New York Review of Books“ die Zeitschrift „Gegenwart“, für einige Jahre das Schärfste, was das österreichische Geistesleben zu bieten hatte (und in ihrer Kombination aus Randständigkeit und Qualitätsbewusstsein mindestens ein Onkel des schönen Magazins, in dem Sie diese Geschichte lesen).
Gegenstand der „Gegenwart“ war alles, was spannend war – also alles, was Klier und Holzer spannend fanden. Zu dieser Zeit sah man die beiden oft in den schummrig beleuchteten Bogenlokalen unter den Bahngleisen sitzen, wo sie zum abenteuerlichen Lärm der Gruftmusik dicke Bücher durchhechelten, bis tief in die Nacht. Substrate eines eigenwilligen, dem Schwierigen zugeneig-
ten, aber dem Populären nicht verschlossenen Kulturbegriffs fanden Ausgabe für Ausgabe ihren Weg in die Zeitschrift, die in Wien Unterstützung durch das gallische Dorf der „Extra“-
Redaktion der Wiener Zeitung fand und ansonsten freiwillige Korrespondenten in den Hauptstädten Europas verpflichtete.
Die „Gegenwart“ war ein frühes Meisterstück von Klier und Holzer, deren Engagement genauso untrennbar war wie ihr intellektueller Bedarf und ihre ironische Attitüde: „No poems please“ stand im Impressum der „Gegenwart“, womit sehr klar ein Trennstrich gegen die hektographierten Provinzliteraturblätter aus aller Welt gezogen war, hier ging man nämlich ins Ganz oder Gar nicht.
Erwin Chargaff erörtete, was 1989 wirklich wert gewesen sein könnte, Reinhard Christl konstatierte eine Krise der Wirt-
schaftswissenschaften, Stefanie Holzer nahm Elfriede Jelineks Selbstdarstellung in einer Kritik ihrer Porträtfotos aufs Korn. Beiträge drehten sich mit derselben Ernsthaftigkeit um Fukuyamas „Ende der Geschichte“ wie um die Veränderung des Männerkörpers jenseits der Vierzig, befassten sich mit Erkenntniskritik und immer wieder mit dem Literaturbetrieb – auch die große Aufklärungsgeschichte über die Intentionen des Luciana Glaser-Fakes stand selbstverständlich in der „Gegenwart“ und bescherte ihr zwischenzeitlich die Aufmerksamkeit, die ihr regelmäßig zugestanden hätte.
Klier und Holzer holten für die „Gegenwart“ immer wieder Welt nach Tirol. Aber sie vernachlässigten Tirol nicht. Sie kämpften mit Robert Schediwys Streitschrift „gegen das Populäre“ in der alpinen Architektur und gingen mit größter Selbstverständlichkeit den eben doch populären Phänomenen ihrer unmittelbaren Nähe auf den Grund, Stichwort Tourismus, Blasmusik und ähnliches.
Dabei blieb Walter Klier stets das Erwartbare schuldig. Er krampfte sich zum Beispiel nie auf eine dogmatische, tourismuskritische Position ein, genauso wenig, wie er sich dem linksliberalen Mainstream der österreichischen Kulturschaffen-
den zurechnen ließ. Die EU kritisierte Klier bereits, als sie noch EG hieß, damals nannte er sie „Ostblock mit Geld“. Das war mutig.
Aber auch in philologischen Fragen exponierte sich Klier, in dessen Wesen das Exponieren sonst gar nicht vorgesehen ist. Er nahm sich der unergründlichen Frage an, wer Shakespeare wirklich gewesen sei, und identifizierte den 17. Graf von Oxford, Edward de Vere, als reale Figur hinter dem Pseudonym. Keine Überraschung, dass auch diese Stellungnahme umstritten blieb.
Nachdem die „Gegenwart“ wegen Überlastung der Herausgeber, die auch als Setzer, Sekretäre und Layouter herhalten mussten, geschlossen wurde, transferierte Klier seine literaturkritischen Tätigkeiten ins Feuilleton der „Frankfurter Allgemeinen“.
Kliers Lebensthema aber bleibt die Verarbeitung der Prägung, die ihm als Kind widerfahren war, ganz in der Tradition des schönen Spruchs von Heimito von Doderer: „Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln wie er will.“
1991 schrieb Walter den Roman „Aufrührer“ über Heinrich Klier, eine literarische Expedition, die ihn die Motivlage des starken Vaters ergründen – und weitgehend verstehen ließ. Seiner eigenen Rolle im Leben des „Aufrührers“ widmete Klier fünfzehn Jahre später die Titelgeschichte des autobiographischen Erzählungsbandes „Meine konspirative Kindheit“. Der Montageroman „Leutnant Pepi zieht in den Krieg“ fügte der Familiengeschichte Kliers 2008 die Basis hinzu: eine fantastische, unsentimentale Schilderung der Kriegsjahre 1914–1918 in Originalbriefen und Notaten von Kliers Großvater Josef Prochaska, die Walter zu einer großen Dokumentation über die untergehende Welt des Habsburgerreichs montiert hat, Baustein für Baustein, Postkarte für Postkarte, Emotion für Emotion.

Walter Klier arbeitet weiter an seiner Geschichte, die eine Geschichte seiner Welt ist, also eine Geschichte Tirols, die Geschichte eines Menschenschlags, der auf eigenwillige Weise genauso mit seiner Landschaft verheiratet ist wie mit seiner Geschichte. „Wir Tiroler sehen uns als Volk“, schrieb Walter Klier zuletzt in einem Artikel für die „Furche“, „auch wenn das unter dem postmodern-hedonistischen Schillern der globalen Gegenwartskultur normalerweise verborgen liegt. Allein in der Art, wie wir ‚in die Berg‘ gehen, definieren wir uns als Tiroler. Und ein leises Staunen können wir lebenslang nicht darüber unterdrücken, dass auch Leute von anderswo ‚in die Berg‘ gehen, zumal in unsere. Zur Nation haben wir es wie viele andere Kleine nie gebracht; doch (…) Nationalstolz ist durchaus vorhanden und mangels Siegen stammt sie ganz wesentlich aus historischen Niederlagen.“
In diesen Sätzen ist Walter Klier ganz bei sich. Ich kann ihn lächeln hören, so ernst ist es ihm.

 

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