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„Berge stellen sich an.“
Landvermessung
No. 3, Sequenz 5 Karwendelrast-Karwendelhaus

Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: In Quart folgen unterschiedliche Autoren mit unterschiedlicher Kondition unterschiedlichen Linien (s. Übersichtskarte oben). Derzeit befinden wir uns auf einer Geraden, die von Obermauern im Osttiroler Virgental nach Garmisch-Partenkirchen führt. In der aktuellen Folge versucht Andrea Grill herauszufinden, ob Wandern ein prähistorisches Verhaltensfossil ist – oder doch ein endloser Hatscher.

Ich weiß nicht, ob ich wirklich gerne wandere. Wandere im direkten Wortsinn, Schritt für Schritt herumstapfen in schweren Schuhen, stundenlang.
Ich denke gern ans Wandern, zurück oder voraus, flitze gern übers Wandern wie über eine Stiege, wenige Sätze: bin schon oben, was vergessen: bin schon unten; jeder Lift wäre mir zu langsam.

Vor dem Wandern kommt eine Fahrt mit dem Zug, elf Uhr vierundvierzig, Stadt Innsbruck.
Ab Salzburg ballen sich am Himmel Wolken zusammen, hoch aber dicht. Wer hat das Wandern erfunden? Das Wandern ist ein Verhaltensfossil aus prähistorischen Zeiten, vor Erfindung der Landwirtschaft; der Zivilisation. Das weiß jeder, sogar junge Kinder, die sich wehren dagegen, lieber SMS-en-ist-Abenteuer-im-Kopf; ich schicke auch mindestens eins. Klage dem Freund, dass ich nicht bereit bin. Dass es regnen wird. Ich dachte, du wanderst schon, piepst es zurück. Ja ich wandere fast.

Jenbach gehört zu den Orten, die nur aus einem Namen bestehen. Oft bin ich hier gewesen, bin ein paar Minuten in einem stillstehenden Eisenbahnwagon gesessen, habe Jenbach im Schnee gesehen, in grellem Licht, im Nebel, in der Dunkelheit – sieben weiße Buchstaben auf blauem Grund; heute steige ich aus. Die viereckigen Wolken, die gestern von der Terrasse eines Wiener Hotels interessant ausgeschaut haben, klatschen verflüssigt auf den Asphalt. Ich drehe mich kurz um die eigene Achse. Für den Notfall – in welcher Form auch immer er auftreten möge – kaufe ich zwei Tafeln Schokolade. Habe nichts Essbares eingepackt, bin überstürzt aufgebrochen, obwohl ich seit mehr als einer Woche vorgehabt habe, heute aufzubrechen. Immer wieder breche ich überstürzt auf, zähle mich zu den notorischen Improvisierern, chronisch Unvorbereiteten, die souverän wirken und für alles bereit. Ständig am Aufbruch, berufsmäßige Aufbrecher; Taschen umarmend wie Stofffreunde, mit Zeitungen wispernd, emsig den telefonisch-digitalen Faden in alle Fernen spinnend sieht man sie gebrochen in ÖBB-Polstern lehnen. Sobald der Zug sich in Bewegung setzt, tritt Heilung ein. Die Brüche des Aufbruchs ähneln denen in Rippen, der Arzt sagt, wird von selber wieder gut, ein Schmerzmittel lindert.

Nehmen Sie ein Taxi, sagte Eva. Die Idee, hierher zu kommen, stammt von ihr, von hier aus einer Linie entlang zu gehen, ein auf der Karte gezogener Strich, Seite b eines gleichschenkeligen Dreiecks; soweit das möglich sei. Wissen Sie, wo Sie gehen müssen? Berufsmäßige Aufbrecher sagen immer ja. Minibusse stehen am Bahnhofsvorplatz, hinten in der Ecke auch zwei Taxis, leer. Das Hotel dahinter wirkt anziehend, wie Hotels, in denen man früher, als ich noch nicht auf der Welt war, Sommerfrische machte. Und wenn ich hier übernachtete? Mich hier einnistete für vier Tage, danach zurückreiste, die Wanderung ohne Umstände im trockenen Zimmer des Hotels zurückgelegt? Versuchsweise nähere ich mich einem der beiden Wägen, stelle mich daneben in den Regen. Jemand ruft; von der Schiebetür der Bahnhofshalle, ein Mann in einem Gilet mit alpinen Mustern, ob ich ein Taxi brauche und: wohin? Gasthaus Karwendelrast. Er schaut mich lange schweigend an, zieht die Brauen so hoch wie möglich, macht unbeschreibliche Augen. Ich zeige es ihm auf der Karte. Dorthin fährt kein Auto, sagt er. Aber Eva kennt sich doch aus, denke ich, Eva kann sich doch nicht geirrt haben. Fahren Sie mich in die Nähe, dann gehe ich zu Fuß. Er erklärt sich einverstanden. Über den Preis verlieren wir kein Wort. Unterwegs telefoniert der Taxifahrer mit jemandem, der ihm erklärt, wie man zur Karwendelrast kommt. Wenn wir Glück haben, können wir hinauffahren, sagt er. Das Glück ist auf unserer Seite und die Straße auch hinter der Karwendelrast noch lange nicht zu Ende.

An der Tür der Karwendelrast hängt ein Schild „Ruhetag“. Ich drehe es um und entdecke auf der anderen Seite ebenfalls das Wort „Ruhetag“, in einem anderen Schrifttyp. Die Wirtin, die ich drinnen aufspüre – die Tür war offen –, wirkt äußerst überrascht, mich zu sehen. Ich habe eine Reservierung. Ach so, sagt sie, führt mich in ein nordseitiges Zimmer, die Toilette ist am Gang. Eva hat eine wunderschöne Aussicht angekündigt; ich sehe dichtbenadelte Bäume. Das Haus ist bis auf einen einzigen anderen Gast leer, an den Türen stecken außen die Schlüssel. Ich öffne die meinem Zimmer gegenüberliegende. Der Raum ist frischer, heller als der mir zugeteilte, es gibt ein Bad, einen Balkon, die Aussicht – ein mir unheimlich vertrauter Blick: eine Alpenlandschaft im Regen. Diesen Blick auf übergrüne Wiesen, vage erbleichte Bergköpfe mit einem Anflug von Glatze ganz oben, die beleibten Häuser – sie machen sich schwer, damit keine Sturmbö sie wegtragen kann – mit ihren bunten Schnurrbärten aus Geranien, eine sie alle verbindende Hochspannungsleitung. Ich kenne ihn so gut, den Blick aus dem Zimmer, das ich unbedingt haben will. Warum hat sie es mir nicht angeboten? Die Bergköpfe könnten Katrin heißen, wenn sie einen leichten Flaum dunkelgrünes Haar oben hätten anstatt der Glatze, oder Olga oder Léon; wenn ihnen ein See zu Füßen läge.

Ich schlucke Blumen. Sehr gesund, hat die Wirtin gesagt; und das Fett neutralisierend, in dem die Schlutzkrapfen schwimmen – hoffe ich. Kapuzinerkresse, wächst hier überall rund ums Haus, hat sie gesagt, nachdem sie mich eine Weile dabei beobachtete, wie ich nur die käsegefüllten Tortellini aß, nicht die dekorativen Blüten, die den Teller zierten. Sie hat mir erlaubt, das bessere Zimmer zu beziehen. Kostet aber ein paar Euro mehr, Komfortzimmer. Ich mache eine Geste, als hätte ich in der Lotterie gewonnen. (Was für eine Geste macht man da eigentlich?)

Zwei andere Gäste sitzen noch in der Stube. Eine Frau, die Zeitung liest, eine Verwandte oder gut Bekannte offensichtlich, denn die Wirtin setzt sich in den freien Minuten zu ihr an den Tisch; und ein Mann, der nichts tut. Stundenlang. Er sitzt da, trinkt einen Apfelsaft und tut nichts. Bis die Wirtin ihm eine Zeitung bringt. Damit die Wartezeit schneller vergeht, sagt sie leise. Auf was wartet er?
Mir bringt sie eine Mappe mit Unterlagen über die Region. Ich bekomme Lust, das Renaissanceschloss in Schwaz zu sehen, Silberstadt, Tratzberg, Burg Freundsberg. Ein Berg voller Freunde! Hollywood war da, berichtet der Tourismusverband, eine Episode von „Hart aber herzlich“ wurde hier gedreht, diese Serie gehörte zum Vorabendglück meiner ORF-Jugend. Das ist mein Boss, Jonathan Hart, ein Selfmademillionär. Der hat Nerven. Das ist Mrs Hart, eine traumhafte Frau, einfach toll. So stellte der Butler des Millionärspaars, Max, die beiden Abend für Abend vor, während sie in ihren Autos über die Highways Kaliforniens brausten und en passant Kriminalfälle lösten.

Und noch ein internationaler Star ist hier vorbeigekommen. Langsam wird mir klar, wem ich hier folge, außer der Linie, wer hier vor mir schon dieselbe Route zurückgelegt hat: Bruno! Er kam aus Italien, klomm ins Vomperloch, zum Ahornboden, ließ die Falkenhütte links liegen, kehrte im Karwendelhaus nicht ein, aß Heidelbeeren, fing Fisch, sammelte Nüsse, graste auf der Almwiese, schlug sich durch diverse Täler hinunter durch bis nach Bayern. Den einen oder anderen Vomp hat er sicher auf dem Gewissen, die sind bekanntlich um diese Jahreszeit recht saftig. Was ist ein Vomp, fragt Eva später, was soll ich mir darunter vorstellen? Ein Wesen, eine Tierart, die hier durch die Wälder zieht, Einzelgänger. Ihm, Bruno, ging es in Bayern an den Kragen. Man erschoss ihn hinterrücks.

Zum Frühstück liegen wieder zwei Kapuzinerkresseblüten am Teller. Die selbstgemachte Marmelade bleibt eine Ankündigung auf einem Schild an der Bar; serviert wird Pflaumenmarmelade (sic!) in für Jahre haltbar gemachten Plastikschälchen mit Abziehdeckel. Die besten Bissen: vier Sauerkirschen. Auf die Frage, ob es genug war, sage ich trotzdem nicht: noch eine Handvoll Weichseln bitte, sondern gehe ins Nebenhaus, hinauf ins Komfortzimmer, packe meine paar Sachen. Die Nebel draußen schleichen hin und her, wie Diebe oder Kameramänner, als suchten sie den effektvollsten Anfalls-Einfallswinkel, einem das Licht zu stehlen. Die übertrieben grüne Wiese hat sich verfärbt, scheint inzwischen zu einer anderen Landschaft zu gehören; leider kenne ich die auch, obwohl ich dazu tendiere, ihre Existenz immer wieder zu vergessen.

Thema Nummer 1 für den Wanderer ist das Wetter.
Heute: Regen, kontinuierlich nass.
Ich gehe die Stiegen hinauf zum Komfortzimmer, überlege, wie oft diese Stiegen in den Abstand passen, den ich bis zur Lamsenjochhütte zurücklegen muss. Tausend Mal?

Zehn Uhr sechsundfünfzig, rote Bänke am Wald und Wiesenrand. „Wir laden Sie zu einer Rast ein und heißen Sie herzlich willkommen“ – Tourismusverband Vomp. Durchs Wandern kommt man an Orte, an die man sonst nicht käme.

Bären-Rast, seit 1973, neben einer Eberesche, gespendet von Agnes Schwarz. Haltet den Bärenbrunnen sauber! Die Natur ist unser höchstes Gut. Den Bärenbrunnen, aus dem weniger Wasser tröpfelt als vom Himmel, dominiert nomen est omen die Statue eines Bären, graubraun, kaum vom Stein zu unterscheiden, lebensgroß. „Hier ward am 14. Mai 1898 von Constantin Graf Thun-Hohenstein der letzte Bär von Nordtirol zur Strecke gebracht.“ – Tiroler-Landes-Jagdschutz-Verein 1875.
An dieser Stelle muss auch Bruno vorbeigekommen sein, Bruno, der internationale Star, der zweijährige italienische Bär mit den slowenischen Großeltern, auch genannt: JJ1. Er wanderte im Jahr zweitausendsechs vom Trentino über Tirol nach Bayern, der erste freilaufende Bär in Bayern seit hundertsiebzig Jahren.
Reiseratgeber für Bären in Mitteleuropa: Zurückhaltend sein, dezent. Achtgeben, niemandem zu begegnen, der sprechen kann. Nicht mit einem Auto zusammenstoßen. Nichts von Menschen Erbautes kaputt machen. Nur wilde Tiere verspeisen, besser noch: ausschließlich Beeren.

Ich wandere seit zwei Stunden. Sehr weit scheine ich noch nicht gekommen zu sein. Noch immer sehe ich Schwaz. Noch immer sehe ich kein Vomperloch, sondern vor allem feuchte, dunstige Luft, Wälder, viel Gras. Es geht kaum bergauf, eher flach dahin, allmählich bekomme ich Hunger. Was wird Bruno gegessen haben, als er vor einigen Jahren hier durchs Vomperloch wanderte? Bruno aß Haselnüsse und Rehe, denke ich mir.

Würde man auch wandern, wenn das Wandern den Ruf hätte, ungesund zu sein? Wenn man in allen Magazinen darauf hingewiesen werden würde, dass es die Gelenke ruiniere, die Haltung verschlechtere, dumm mache und vorzeitig altern lasse?
Zwölf Uhr einunddreißig, Stallenalm. Glockengeläute unsichtbarer Kühe, sie schweben im Nebel oder machen ihn? Nebelproduzierende Kühe, an ihren Rücken kondensiert und verdampft die warme Luft, wären keine Kühe unterwegs, wären die Alpen stets klar und sonnig?

Würde man wandern, wenn in den Sport- und Gesundheits-
rubriken der großen Zeitungen gewarnt würde vor dem Virus, mit dem man sich dabei anstecken kann, dem Virus der Wortkarg-
heit? Was es gibt, steht draußen, sagt der Senner. Ich nenne ihn (heimlich) Almöhi, habe das Gefühl, ihn zu stören, frage zögernd, was es zu essen gibt, nehme an, er wird vermutlich weniger ausführlich kochen, weil niemand sonst da ist, weil es so neblig ist und so kühl. Bitte höflich um Kaiserschmarrn. Komme mir vor, als wäre ich für die Tourismuswerbung meines eigenen Landes gemietet, ja, sie essen tatsächlich immer Kaiserschmarrn.
Der Senner sucht, nicht unwirsch, die notwendigen Zutaten zusammen. Ich sehe ihn eine Palette Eier in die Küche tragen, eine Packung Mehl, eine Dose Gulasch; denn inzwischen sind noch ein paar Leute eingetroffen. Ich krame einen Pullover aus der Tasche. Aus der Küche ist Räuspern zu hören, Husten. Der Senner spricht mit sich selber. Plötzlich erscheint er mit einer blauen Decke, die er mir reicht, er hat gemerkt, dass mich fröstelt. Kann er durch Wände sehen? Man hört ihn Eier aufschlagen, Butter schneiden, seufzen, ächzen. Die anderen Gäste rauchen. In dieser gesunden Luft könnte ich auch einmal mit dem Rauchen anfangen, wenn ich länger bliebe, im Nebel vor der Hüttentür hocken, den Kühen bei der Nebelproduktion helfen, warme Nebelschwaden aus dem Mund in die Umgebung atmen, ausgiebig ausatmen wie alle hier: die Kühe, die Berge, die Gräser, die Fichten, sogar die Wühlmäuse sondern feuchten Nebel ab. Das muss so sein. Der Senner (Almöhi) hat Adidas Sportschuhe an, serviert aus einem Topf.

Beim Wandern hört man die eigenen Schuhe am Boden aufkommen, kleine Steinchen rollen, Wasser rinnen in die Wolfsklamm, an den Stämmen der Fichten herunter, seitlich fliegen immer wieder schwarze Erebia-Falter von der Wiese auf den Weg heraus. Ich habe mich auf Aussichten gefreut (dieser Enthusiasmus über Aussichten, ist das ein prähistorisches Verhaltensfossil wie das Wandern?), darauf, Gemsen zu sehen, Dachse vielleicht; bewege mich unter einer Decke aus feuchter undurchsichtiger weißlicher Luft. Stelle mir das Stallental vor, in weite Hänge ausschweifend, grellbunt. Beuge mich vor und sehe weiß und dann gelb: der Kaiserschmarrn wird auf den Tisch gestellt, deutlich vorherrschend ist ein Geschmack: Rum. Ich vermute, ich habe noch nie einen besseren Schmarrn gegessen.

Vierzehn Uhr zweiundzwanzig, Erdbeeren vom Wegrand gepflückt. Das hat auch Bruno der Bär getan.
Beim Gehen höre ich die Stöcke, klick-klack, nicht meinen Atem. Auch der Wind ist still. Der Senner hat meine Aufgabe hier interessant gefunden, dann geklagt, dass man vom Regen beim Heuen überrascht worden sei, es mehrmals gesagt, dass man nicht mit dem Heuen fertig geworden sei. Bitter, sagt er, und präzisiert damit das Gefühl, das er hat.

Berge stellen sich an. Wie eine stets versprochene, nie gehaltene Liebe. Städte sind leichtlebiger, zugänglicher, werfen sich einem an den Hals, recken sich einem erregt entgegen, bevor man noch den ersten Schritt getan hat.

Die Lamsenjochhütte ist plötzlich zu nahe. Engalm hieße die nächste Übernachtungsmöglichkeit, klingt anziehend. Unspektakulär geht der höchste Punkt meiner Tour vorbei, tausendneunhundertdreiundfünfzig Meter über dem Meeresspiegel. Eh nicht so hoch. Ich sage meine Reservierung hier ab.

Sechzehn Uhr siebenunddreißig, vier rotweiß gestreifte Betonmischmaschinen, eine Hütte wird ausgebaut. Die Hütten hier verlangen eine neue Definition des Wortes: als Hütte wird jedes eine Übernachtungsmöglichkeit bietende Gebäude bezeichnet, das auf über tausend Metern Höhe liegt, auch wenn es keine Hütte ist, sondern ein übergewichtiges Haus.
Vorher, sechs tote Alpensalamander flach wie Abziehbilder auf den Steinen. Die Chauffeuse war eine fröhlich lachende Frau, vorne am Wagen große Tonnen voll Milch. Nur ihr Wagen fährt über diesen unbefestigten Schotterweg, denke ich mir, nur sie kann die Salamander geplättet haben. Ein paar Minuten später hängen in einem Mitsubishi ohne Kennzeichen Kinder aus den Fenstern, können noch alles werden. Zwei junge Hirten – ihre Brüder? – springen ausgelassen in Gummistiefeln über Stock und Stein, eine orange, eine grüne Jacke.

Ich konzentriere mich zu wenig aufs Gehen, lasse mich von allen Lebewesen ablenken. In der Gaststube des Alpengasthauses Eng hängen sechzehn Totenschädel von Gemsen, vier Leichen von Steinadlern. Immer wieder denke ich an das Ende dieser Tour, das Ankommen in Scharnitz, ob es einen Zug geben wird, ob ich es heute noch schaffen kann oder erst morgen; das Ende der Linie, der b-Seite dieses imaginierten Dreiecks auf der Karte. Frage mich, was Eva davon halten wird, dass ich mich so schwer aufs Gehen konzentrieren kann. Was sie sich erwartet, sich wünschen würde von so einem Text über den von ihr gezogenen Strich in der Landschaft, über die b-Seite? Schicke das eine oder andere SMS an den Freund. „galore“ piepst es zurück. Ist das eine Bezeichnung für den Fabrikanten eines hochseetüchtigen Ankers?

Wegen des vielen Regens gibt es viele Teiche auf den Almwiesen. Zu so einer Lacke stapfe ich durch knöcheltiefenMatsch, auch ein Produkt der Kühe, während sie wiederkäuen, zertreten sie die oberste Schicht der Erde, hier und da sieht man Abdrücke ihrer Hufe. Ich ahne, dass sich in diesem Teich etwas besonderes finden könnte, etwas, das ich, ehrlich gesagt, noch nie gesehen habe, aber sofort erkennen werde, falls es da ist. Einige Meter später bestätigt sich die Vermutung, dunkle längliche Flecken im Wasser, in unterschiedlichen Größen, als ich näher komme, bewegen sich ein paar, einer kommt auf mich zu: Alpensalamander.

Im Alpengasthof Eng träume ich, dass wir in Indien reisen, irrsinnig viel Zeug dabei in einem Wagerl hinter uns her ziehen, aus dem es ständig heraus fällt, bunte Gürtel und Seidentücher. Inder helfen uns, das Ganze immer wieder hinein zu werfen; es fällt wieder raus. Wir sind unbesorgt und landen irgendwie wieder fröhlich in Wien mit dem ganzen Kramuri. Ich bin noch nie in Indien gewesen.

Am Abend ist es sonnig gewesen, im flachen Wasser, das ein Fluss durchs Engtal schiebt, haben Touristen ihre Füße gekühlt, am Parkplatz haben die Autos geglänzt und in der Hitze leicht geklirrt. Ich habe überlegt, schwimmen zu gehen, zumindest kurz im Bach zu liegen, bin am Balkon meines Zimmers eingeschla-
fen, ein Balkon übrigens, den man nur erreichen kann, wenn man über einen Hocker durchs Fenster hinaussteigt. Ich habe einen Moment gezweifelt, ob man das darf, aber mich dann erinnert, dass der Gasthof ein Wanderhotel ist. Ich habe für den kommenden Tag auf wolkenlosen Himmel gehofft, ein paar Stunden lang. Am kommenden Tag ist es wieder bedeckt.
Elf Uhr siebzehn, Falkenhütte, tausendachthundertachtundvierzig Meter hoch. Mich hätte er schon mit dem Auto mitgenommen, scherzt der Wirt, als ich mich frage, warum man überhaupt noch zu Fuß hier herauf kommt, während er mit dem Auto fährt. Wir haben auch klein angefangen, mit Pferden, sagt er.
Unter einem Blatt, das ich aufhebe, um seine Unterseite zu betrachten, findet sich ein Ameisennest. Arbeiterinnen tragen ihre schneeweißen Nachkömmlinge eifrig hin und her, bringen ihnen Futter, bewahren sie vor Unbill. Die zarten Würmchen winden sich faul, lassen sich willig tragen. Ich sehe Lungenenziane, ein großer Bestand, suche Eier des Enzianbläulings, finde ab und zu Löcher in den Blütenköpfen und eventuell ein Falterweibchen, das kurz auffliegt, trotz der drohenden Wolken. Die Raupen lassen sich fallen, sobald sie sich durch die Enzianblüten gefressen haben, werden von Ameisen gefunden, aufgeladen und ins eigene Nest transportiert. Hier an der Falkenhütte habe ich den Höhepunkt der Tour erwartet. Ich bestelle Apfelstrudel, denke an die Tourismuswerbung, dass sie manchmal so recht hat.

Vierzehn Uhr siebenunddreißig, Karwendelhaus. Es wimmelt von Radfahrern, Fahrrädern. Auch meine zweite Reservierung sage ich ab. Es ist viel zu früh, um schon mit dem Wandern aufzuhören.

Ob L. böse wäre, wenn er in dieser Geschichte nicht vorkäme, obwohl er tagelang den größeren Rucksack trägt? Wenn ich in Louis nenne, für diese Geschichte?
Weißt du, was ein endloser Hatscher ist?, frage ich Louis. Er hat den Ausdruck nie gehört. Dieser Weg vom Karwendelhaus nach Scharnitz ist ein Hatscher. Ich kann es nicht lassen nachzurech-
nen, ob wir schneller gehen als die angegebenen Wegzeiten; gelbe Schilder mit zugespitzten Enden weisen bei Weggabelun-
gen die möglichen Endziele an. Aber mein Ziel ist ja kein Endziel, wann wohl der letzte Zug aus Scharnitz weggeht? Ich will geschwind weiter, stelle mir vor, wie ich am Sonntag baden gehe, in der Donau, in einem See im Salzkammergut; falls die Sonne scheint.
Überall perlen Tröpfchen, von allen glatten kühlen Flächen, von Louis Wangen. Trotz des bedeckten Himmels bekomme ich am linken Oberarm einen leichten Sonnenbrand. Das ist immer so, wenn man von Osten nach Westen geht, sagt Louis. Neben uns rauscht der Karwendelbach, die junge Isar? Im Tal nach Vomp ist die Quelle der Isar, der Karwendelbach nährt die junge Isar, fällt mir ein, und ich gehe weiter, Schritt für Schritt, mittlerweile ist es mir gleich, wie weit es noch ist, wie lange es noch dauert. Auf jeden Fall mehr als die drei Stunden, die von der Kellnerin oben versprochen wurden; ungefähr drei Stunden bis Scharnitz, aber ich weiß es nicht genau, bin erst einmal gegangen, nämlich vor drei Tagen hier herauf, das hat sie gesagt. Man kann ihr nichts vorwerfen. An einer Stelle ist der Karwendelbach ein bisschen tiefer und ruhiger, kurz vor einer Biegung mit Brücke, und ich will mich abkühlen. Ein einziges kurzes Bad. Während ich mich ausziehe, bleibt unversehens ein Wagen in der Nähe stehen, seit Stunden kein menschliches Wesen zu sehen und ausgerechnet in diesem Moment. Ich tauche unter. Schon nach einer halben Minute spüre ich die Füße nicht mehr. Das Auto gehört einem Jäger, sehe ich dann, er starrt mit dem Feldstecher in die Berge, sticht in die Gipfel, hat bald die abwesenden Adler ausgestochen.

In Scharnitz suche ich ein Hotel Post, finde einen Goldenen Adler, das Haus sieht schön aus von außen, ein Schild sagt aber: keine warme Küche. Von der vielbefahrenen Straße sehe ich in ein Zimmer hinein, im zweiten Stock, den Fernsehapparat auf einem Gestell über dem Bett. Ich entscheide mich für Haus Ilse, ein ordentlicher Kasten, Spielzeug im Vorgarten, läute an der Zimmerglocke „Für Zimmer, bitte hier läuten.“ Nichts geschieht. Läute noch einmal, kurz, um die oder den Hausherren nicht schon durch Aufdringlichkeit beim Läuten gegen mich aufzubringen. Es ist acht Uhr abends, leichter Regen, ich bin seit elf Stunden unterwegs, die meisten davon gewandert, einen Fuß vor den anderen, Schritt für Schritt, jeder Schuh ein halbes Kilo, die Füße – wie schwer wiegt ein Fuß? Eventuell siebeneinhalb Kilo bis zum Knie? Endlich öffnet sich ein Fenster im ersten Stock, eine Frau beugt sich heraus. Ja?, ruft sie. Ob sie ein Zimmer hätte. Ja, ja, schreit sie herunter. Sogar die Ferienwoh-
nung sei frei. Es nieselt weiterhin. Mit Frühstück?, fragt sie aus dem Fenster. Ja, gerne. Ob das die richtige Antwort ist? Ob ich einem Test unterzogen werde, ob ich der Ferienwohnung würdig bin? Kaffee? Wollen Sie Kaffee zum Frühstück? Ich getraue mich kaum zu antworten, wenn ich jetzt „nein“ sage oder um Tee bitte, falle ich vielleicht durch und sie wird mich nicht als Gast akzeptieren. Gleich mache ich Ihnen auf, ruft sie. Wollen Sie Kaffee zum Frühstück? Bitte, sage ich, Kaffee. Zehn Minuten später geht eine Tür seitlich am Haus auf.
Ah, Sie sind noch da, sagt sie, zeigt mir eine große Wohnung mit Schlafzimmer, Küche, Wohnzimmer, Hometrainer. Am Sonntag kommt ein Gast mit Gehbehinderung, deswegen habe ich in der Badewanne schon den Duschsessel installiert. Stört Sie das? Mich stört im Grunde gar nichts mehr, ich schlüpfe neben dem weißen Apparat unter die Dusche, lege mich in ein mit Rosenmuster bezogenes Bett schlafen.

*

Wandere ich gerne?
Warum wandere ich?
Warum wandert man?
Welche Frage würde Eva beantwortet wissen?
Wie weit bin ich gegangen?

Ich sitze im Zug, Liniennetzspinne Nordtirol. Er hält im Ort Rum.
Ob es auch Orte gibt, die Weißwein heißen oder Schnaps oder Limoncello?
Die Geographie ist festgelegt, aber, ist die Geographie festgelegt?
Siebzig Kilometer, nehmen wir an, die Linie, an der ich entlanggegangen bin, b-Seite des gleichschenkeligen Dreiecks, ist so lang, siebzigtausend Meter.
Wenn ich mich umdrehe, dehnt sie sich oder zieht sich zusammen. Am Ende ist ein Tag kürzer gewesen als ein Tag, sind tausend Stiegenhäuser kürzer gewesen als eine Stiegenlänge. Wäre ich überhaupt weggegangen ohne Louis neben mir, ohne Eva, ohne einen Freund irgendwo; oder hätte ich mich nur ein wenig gestreckt, die Stufe als Aussichtstürmchen verwendet, um die drei zu suchen?

Wie frisch gewaschene Wäschestücke trocknen die Gedanken an der Leine. Wandern als Waschmaschine für Gedanken, ob sich das schon jemand gedacht hat? Waschvorschriften: Nicht bügeln. Nicht bleichen. Nicht chemisch reinigen.
Sauber flattern sie im Wind, vom im sesshaften Alltag angesammelten Staub und Schmutz befreit. Als hätte ich endlich wieder einmal alles bedacht.

 

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