zurück zur Startseite

Brenner-
Gespräch (6):
„Wer hat das geschrieben? Ich?“

So viele Leute fahren über die Alpen nach Italien. Quart bittet herausragende Persönlichkeiten an den Straßenrand zu einer Jause und einem Gespräch. Folge 6: der Komponist Salvatore Sciarrino im Gespräch mit dem Bariton Otto Katzameier.

Otto Katzameier: Was ich dich immer schon fragen wollte: Wieso gibt es ein Zitat aus Don Giovanni in deiner Oper Macbeth?
Salvatore Sciarrino: Jedes neue Werk gibt auch Auskunft darüber, was uns jeden Tag zustößt, wenn wir mit unseren Vätern kämpfen, oder wenn wir sie bestätigen … Ich zum Beispiel töte Mozart und Verdi jeden Tag!
K.: Du tötest jeden Tag Mozart und Verdi?
S.: Nicht nur Mozart und Verdi, jeden Komponisten …
K.: Du tötest täglich jeden Komponisten?
S.: Nein, nicht jeden, nur die besten!
K.: Warum?
S.: Weil wir das müssen! Wenn wir es nicht tun, dann bleibt der Vater.
K.: Aber warum können wir nicht unseren Vätern folgen?
S.: Weil es das nicht gibt, das existiert ganz einfach nicht! Wenn du glaubst, deinem Vater zu folgen, dann tust du das in Wirklichkeit nicht.
K.: Du findest deinen eigenen Weg nicht?
S.: Ja, du musst frei sein. Und das heißt: Du musst deine eigene Freiheit erobern!
K.: Verdi und Mozart sind also deine Väter.
S.: Nicht nur meine!
K.: Ich habe die Musiker vom Klangforum Wien gebeten, mir ein paar Fragen an dich mitzugeben, eine davon lautet: Wie sehr beziehst du dich auf überlieferte, klassische, niedergeschriebene Musik? Oder würdest du dir wünschen, dass bis jetzt keine Musik existiert hätte, dass du absolut frei wärst und alles neu wäre?
S.: Es gibt den folgenden Widerspruch: Einerseits unterrichte ich die klassische Tradition, andererseits bin ich in meiner eigenen Musik archaisch, überhaupt nicht klassisch! Ich beginne beim ersten Moment, in dem wir geboren werden, in dem es keine anderen Klänge gibt, als die, die uns umgeben, und die in unserem Körper sind. Es ist sehr schwierig, das auszudrücken, es hat etwas von einem Anfang … Vor vielen Jahren, bei einer Präsentation einer sehr frühen Aufnahme mit meiner Musik, waren wichtige Leute da, ein Radio-Direktor und einer, der später Intendant der Scala wurde, ein guter Kritiker, alles sehr gute Freunde. Sie versuchten, eine Einführung zu meiner Musik geben, aber keiner von ihnen war fähig, die richtigen Worte zu finden. Und dann war da einer, der sagte, er wolle etwas fragen. Er sagte: ‚Entschuldigen Sie, ich glaube, Sie erzeugen eine seltsame Übertragung oder Erinnerung an jene Klänge, die wir fühlen, erfahren, wenn wir noch nicht geboren sind … im Uterus …‘ – Er sprach nur sehr wenige Worte. Was er vorbrachte, war natürlich keine Frage, aber als er geendet hatte, waren die Leute ganz erstaunt.
K.: Ist deine Musik eigentlich italienisch?
S.: Ich weiß es nicht. Jedenfalls ist sie mehr sizilianisch als italienisch. Es ist eine Art von archaisch sizilianischer, mediterraner Musik.
K.: Also eine Musik, die in die Zeit vor all die berühmten italienischen Komponisten zurückreicht, eine Musik vor Monteverdi sozusagen?
S.: Ja, das ist sehr eigenartig, denn meine Musik ist streng, absolut monodisch, nicht gregorianisch. Es herrscht absolute Einstimmigkeit.
K.: Nicht immer!
S.: Doch, immer.
K.: Aber in der ersten Hexenszene von Macbeth zum Beispiel, da ist deine Musik doch ziemlich polyphon!
S.: Ja, aber es ist eine Polyphonie, die immer wie ein einziger organischer Klang ist!
K.: Als du mit dem Komponieren angefangen hast, wie war das genau?
S.: Als ich begann, waren mir nur schlechte Kopien von Musik zugänglich und innerhalb eines einzigen Jahres kam ich bei der zeitgenössischen Musik an. Man kann sagen, ich begann in ein- und derselben Partitur bei Strawinsky und landete schnell bei Bartók, Schönberg, dann Stockhausen …
K.: Als Kompositionsstudent?
S.: Oh nein, mit zwölf oder dreizehn! Ich bekam eine sehr gute Gelegenheit: Da gab es einen Komponisten, der auch die Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik besuchte. Er organisierte ein ‚Sitting-in‘ bei den Settimane Internazionale di Nuova Musica in Palermo, das sich nach Darmstadt zum zweitgrößten Festival für zeitgenössische Musik entwickelt hatte. Ich zeigte ihm meine Partituren und er gab sie mir immer mit guten Ratschlägen zurück. Er sagte nie: ‚Tu das nicht!‘ oder: ‚Das musst du tun!‘, sondern er sagte: ‚Sei vorsichtig, weil die Trompeten, die können so nicht gut funktionieren, schau dir mal dieses Stück von Debussy an …‘ – Für jedes einzelne Problem gab er mir solch einen Ratschlag und so ergab sich für mich die Möglichkeit der Imitation und der Emulation! Ich studierte die Tradition, die beste Tradition, ohne den Zwang einer bestimmten Vorstellung von Technik. Und das Wissen um die Modelle bedeutet schlussendlich ihre Überwindung! Immer stritt ich mich mit meinen Studienkollegen über Mahler, weil der damals von allen Leuten als ein dekadenter Musiker gehasst wurde. Ich sagte: Wie kannst du Orchestrieren lernen, wenn du Mahler nicht kennst?
K.: Also war Mahler für dich wichtiger als Verdi, Puccini oder …
S.: … ja, in Fragen der modernen Orchestration!
K.: Und stilistisch?
S.: Mahler ist stilistisch sehr wichtig, weil er Dinge benützen kann, die sehr einfach und musikalisch sind, und
er fähig ist, sie zu verwandeln. Orchestrieren kannst du meiner Meinung nach bei Puccini, Mahler und Richard Strauss lernen, aber mehr bei Puccini und Mahler!
K.: Du hast drei Komponisten genannt und zwei davon sind Deutsche!
S.: Naja, Beethoven dürfen wir natürlich nicht vergessen! Und Mozart. Als Kind sah ich in den ‚Don Giovanni‘. Mozart richtig entdeckt aber habe ich, als ich ‚Le Nozze di Figaro‘ sah, da war ich bereits achtzehn, mindestens. Ausgehend von einem tiefen musikalischen Denken wie es unter anderem in den späten Quartetten und Sonaten von Beethoven zu erfahren ist, kam ich zu dieser unmittelbaren, unglaublich bestechenden Einfachheit bei Mozart! Deshalb sage ich immer, dass meine Entwicklung als Komponist mit neunzehn begonnen hat, nicht früher!
K.: Ich sah ein Interview mit Louise Bourgois, dieser fantastischen Künstlerin, sie war eine sehr zarte, alte Frau und sagte: ‚Ich bin viel zu klein und viel zu schwach für meine Emotionen. Ich muss große Skulpturen machen, sonst würde ich explodieren!‘ – Schreibst du deine Musik für Hörer oder schreibst du Musik, weil du den Klang in dir hast und ihn irgendwie herausbringen musst?
S.: Das Problem vieler Komponisten ist, glaube ich, dass sie meinen, mit ihrer Musik ihre Ideen und Gefühle transportieren zu können. Die persönliche Erfahrung des Hörers bringt aber ganz andere Gedanken und Gefühle mit sich, trotzdem ist dann vielleicht am Ende etwas Gemeinsames entstanden, aber eben auch der Unterschied. Wir müssen emotional sein für die Musik, aber es gibt keine Möglichkeit, meine Emotionen zu dir zu transportieren, du kannst meine Emotionen nicht fühlen, niemals! Und ich frage mich auch: Wozu? Weil deine Augen, dein Hirn sind anders als meine! Das ist großartig. Jedes Wesen kann diese Individualität haben, muss sie haben, auch eine einfache Zelle. Und das ist Kreativität, das ist die Kreativität der Welt! Von dieser Basis gehe ich aus – eine völlig andere Grundlage als die der meisten anderen Komponisten. Und noch etwas möchte ich dazu sagen: Für gewöhnlich sagen wir: ‚Das ist ein guter Komponist, das ist kein guter Komponist …‘ Aber ich bin mir dessen sicher, dass Kreativität in jeder Person steckt, auch wenn sie manchmal nicht zur Entwicklung gelangt, sie nicht von anderen entdeckt wird, nicht einmal von der betreffenden Person selbst. Es gibt keine menschliche Existenz, kein menschliches Wesen, das nicht kreativ ist.
K.: Aber es gibt trotzdem gute und schlechte Musik, oder?
S.: Ja, aber das ist eine andere Sichtweise, ein anderer Blickwinkel. Du kannst mich fantastisch verführen mit einem schlechten Lied.
K.: Das ist wahr!
S.: Das ist Kreativität! Also können wir sagen, dass es keine Objektivität gibt, dass jede Musik durch die Interpretation gehen muss. Das ist das Leben der Musik. Urteilen zerstört. Wenn wir sagen: ‚Dieser Baum ist gut. Der hingegen ist weniger gut, weil er krank ist! Jener wiederum ist besser, weil seine Form schön ist!‘ – Dann ist das Rassismus! Wir zerstören uns selbst, benützen unseren Kopf schlecht! Jede Sache hat ihren Platz und ihre Funktion. Wenn wir diesen Baum umschneiden, geht die Welt unter.
K.: Wenn Kreativität überall ist und wir nicht urteilen sollten – würde das auch bedeuten, dass jeder, der eine Note Musik schreibt, bei den Salzburger Festspielen aufgeführt werden sollte?
S.: Nein!
K.: Also müssen wir urteilen, oder?
S.: Nein.
K.: Jemand muss urteilen.
S.: Wir müssen auswählen …
K.: Auswählen, ja …
S.: Wir selber, wir müssen auswählen, aber das heißt nicht zerstören, da wir den richtigen Ort auch für die anderen Dinge finden können! Abgesehen davon haben die meisten jungen Komponisten das Problem, dass sie viel zu schnell in den Kreislauf der Aufträge geraten. Wenn ich im jungen Alter solche Aufträge gehabt hätte, wäre ich zerstört worden. Man darf nicht von Beginn an in kommerzielle Produktivität eingebunden sein. Ich sagte immer zu meinen Studenten: ‚Entschuldigt, Schubert schrieb neun Sinfonien. Welche davon konnte er hören? Keine. Aber das war kein so großes Problem.‘ Ich hatte Schüler, die viel besser waren als ich. Aber sie wurden zerstört. Wenn ich nach Donaueschingen* komme, sehe ich es wie einen großen Altar, auf dem so viele junge Komponisten ermordet worden sind und all das Blut sieht man noch …
Ich finde das sehr traurig und schrecklich!
K.: Aber was ist die Lösung für junge Komponisten? Entweder sind sie erfolgreich und müssen dann ein Stück nach dem anderen liefern, oder sie bekommen keine Aufträge.
S.: Ich sage nicht, dass sie keine Aufträge haben dürfen. Sie müssen sie nur zum richtigen Zeitpunkt haben! Ich hab mit dem Komponieren angefangen, spielerisch wie ein Kind, aber es war sehr ernst. Ich habe zuerst einmal für mich geschrieben. Ich brauchte es ganz einfach, um überhaupt einmal alles zu realisieren. Ich komme wie in eine Trance, wenn ich etwas schreibe, und wenn ich zum Ende komme, zum Beispiel bei meinen großen Partituren, dann weiß ich nicht: Wer hat das geschrieben? Ich? Ich bin nicht sicher!
K.: Gott?
S.: Nein. Das glaube ich nicht, entschuldige bitte.
K.: Du bist kein Christ?
S.: Ich bin als Christ geboren, aber …
K.: … du glaubst nicht an Gott.
S.: Ich denke, dass das Universum so perfekt und so schön ist. Es ist Gott, das Universum … vor ein paar Jahrhunderten hätte man gesagt, ich bin Pantheist, wie Beethoven.
K.: Ja, deine Musik kann so spirituell sein, ich finde deine Musik sehr spirituell.
S.: Ja, ich denke, wir müssen spirituell sein! Das ist die Funktion von uns Menschen. Und wir dürfen nicht von Gott wie von einer menschlichen Person denken!

Redaktion: Milena Meller (Übersetzung aus dem Italienischen: Katharina Meller)

*   Die Donaueschinger Musiktage, 1921 gegründet, gelten als eines der wichtigsten Festivals für Gegenwartsmusik.

 

im Heft weiterblättern


Email

registrieren

Ihre Email-Adresse wurde bei uns registriert und zur Liste der Newsletter-Abonnenten hinzugefügt.
Sie erhalten in Kürze ein Bestätigung per Email.