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Zeitschleifen
oder: Von der Heiterkeit des Geistes

Zum Anfang des Brenner. – Der Rechtsanwalt und Autor Michael E. Sallinger rezensiert das Heft 1 einer Zeitschrift, die im Juni 1910, genau vor 101 Jahren zum ersten Mal erschien: „Der Brenner. Halbmonatsschrift für Kunst u. Kultur / herausgegeben von Ludwig v. Ficker“.

I Stufen

Die Kiesel knirschen, ein wenig, unter dem Schuhwerk. Der Blick auf Mühlau; hinüber zur Villa, in der Ludwig von Ficker ein halbes Lebtag lang lebte; auf die Kirche und den alten Friedhof. Der Gang in den neuen Friedhof. Mit den Jahren hat sich die Summe der Freunde, Bekannten und Begleiter gewaltig erhöht, die dort – ja was? In den Worten der Konfession: die dort freudig die Auferstehung des Fleisches erwarten. Indes, nicht viele von ihnen werden in dieser Gewissheit gestorben sein; wenn es denn eine solche Gewissheit geben kann, wenn nicht doch eines Tages die Angst durchbricht vom Grunde der Seele und das Dunkel des Nichtdenkbaren Gestalt gewinnt: die Ahnung von der Gestalt des Nichts. Jedes Jahr einige Male, immer am vierundzwanzigsten Dezember besuche ich das Grab Ludwig von Fickers und das Grab Georg Trakls, dessen Dichtung mich immer unberührt gelassen hat. Aus der Begegnung mit dem späten Brenner und den Briefen des späten Ficker ist mir eine Verbindung zugewachsen, die ich nicht missen möchte, und die sich, stets zur Vertiefung neigend, erhalten hat. Die Zeit: ihrer werde ich an diesem Orte gewahr, mehr als sonst. Wir suchen ihr eine Brücke zu schlagen. Doch hat uns ein Facharzt aus Berlin-Schöneberg, Bozener Straße 20 (von dem weiter unten noch die Rede sein wird), dazu bereits ausreichend lyrisch belehrt: Leben heißt Brücken schlagen, über Ströme, die vergehn. Aus der Zeit reichende Bruchstücke: das ganz Alte, die Uralten. Die Großmutter, deren Lehrerin am Salzburger Mozarteum eine Frau kannte, die der Witwe von Mozart befreundet war. Die Großtante der Blumenfrau in Vöcklabruck, die viel von ihrem Onkel, Anton Bruckner zu erzählen wusste. Der Großvater Marion Dönhoffs, der vor Goethes Tod (1832) geboren war. Schnell verschwimmen die Grenzen, und schnell lösen sich die Begriffe der Zeit auf. Nicht ganz freilich: der Stachel des Nichtdenkbaren bleibt. Man sucht, sich tot zu denken, und kann es nicht. Anders der Traum: in ihm habe ich mich tot gesehen; einige Male. Man möchte das Adjektiv in einem weichen „d“ enden lassen; das wäre weniger grob und zugleich musikalischer.

II Holzbohlen

Holzbohlen und Bretter lagen in dem Hause Innsbruck, Erlerstraße 3 aus. Es war ein älteres Haus aus der ers-
ten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Vor einigen Jahren wich es der Vorstellung moderner Bankarchitektur, wich, indem es sich zusammenzog und schließlich ganz leise brach. Auf stieg daraus der Staub, der Staub der Zeit. Der Greifarm des Baggers hatte mit seinen schweren Zähnen die Bohlen herausgerissen. Bohlen und Bretter, über die einst der Verleger des Brenner-Verlages und Herausgeber der Halbmonatszeitschrift „Der Brenner“, Ludwig von Ficker ging; ob leichten Fußes, ist eine andere Frage. In diesem Hause waren Sitz von Verlag und Redaktion. Das Vermögen des Herrn Ficker von Feldhaus reichte aus, ein Leben zu führen, das nicht den Pflichten des Broterwerbs unterlag. Man wird sagen dürfen, wollte man das Vokabular einer späteren, materialistischen Weltsicht anwenden, dass dies ein nicht wenig privilegiertes Leben war. Der Herr Ficker von Feldhaus war nicht eben einer, der in den Stolz der väterlichen und verwandtschaft-
lichen Linie zu passen schien; keine akademische Karriere und Faxen im Kopfe: Gedichte und kleine Dramen; der Erfolg war wohl mäßig. Er schrieb unter Pseudonymen, auch, wenngleich nicht nur.
Der da über die Bohlen und Bretter dahin ging und hinauf stieg, neben dem Druckhaus, das die Zeit ebenso verschliffen hat wie das innerstädtische Leben in diesem Viertel im Ganzen, gründete die Zeitschrift „Brenner“. Gab sie heraus. Ließ sie erscheinen. Erscheinen hier in dem Sinne: etwas zum Vorschein bringen.

III Inkluse

Im Bernstein bildet sich ab, was einmal war, zur Starre, aber schön zur Betrachtung und die Zeit aufhebend. Inklusen nennt man die Käfer und Fliegen, die eben noch ansetzten zum Sprunge und überrascht wurden vom Einbruch des Schicksals in die Zeit. Feuerstürme, Magmahäufen und Lavendelduft, alles in einem. Inklusen: auch des Denkens. Das zum Vorschein bringen: Mehr als vierzig Jahre nach dem ersten Erscheinen des ersten Hefts wurden die Fragen der Sprache dringend. In Martin Heidegger fand Herr Ficker von Feldhaus den Deuter des Worts. Doch zog er sich zurück: auf jene Jahre der Begründung des Brenner; nur nicht an diesem, sondern am Beispiel und Werk Norbert von Hellingraths. Der Editor Hölderlins, der als erster die späten Fragmente ans Licht, eben zum Vorschein brachte, wurde zum verbindenden Autor zwischen Heidegger und Ficker. Hellingraths Ästhetik, die in den wenigen Jahren bis zu seinem frühen Tod sichtbare Gestalt gewann, hat mit jener des Gründungsbrenner gar nichts zu tun. So haben wir hier einen Bernstein, der den Sprung und Rücksprung durch vierzig Jahre, von 1910 bis 1950 und von 1950 bis 1910 anzeigt. Auf längere Sicht und im Rahmen eines gröberen Begriffes der Zeit nichts Anderes als eine Momentaufnahme. Man sagt: sub specie aeternitatis und weiß, dass die Unendlichkeit nur in Mathematik, Physik und Theologie eine tragende Konstante sind. Im Leben des Einzelnen eher weniger.

IV Enttäuschungen

Man kann sich – siehe den Abschnitt über die Zeit – über die Zeitmauer der eigenen Erfahrung nicht hinaus versetzen; sie nicht überspringen. Daher läuft man immer am eigenen Stein und in den eigenen Fesseln. Jeder ist sich selbst ein Sisyphos. Nimmt man heute den ersten Jahrgang des Brenner zur Hand – in meiner Bibliothek findet sich ein aufgebundenes Exemplar aus der Bibliothek von Heinrich von Schullern-Schrattenhofen, wer erinnert sich seiner? – und liest darin, dann ist man ein wenig betroffen. Eine lose Folge von Gedichten, Überlegungen, etwas Prosa, einiges für den Tag und die Stunde. Die Karikaturen Max von Esterles blitzen heraus, in ihnen kündigt sich eine in sich selbst stehende Substanz an, deren Frische sich bewahrt hat. Nein, ich könnte, als ein Heutiger, nicht sagen, dass diese ersten Hefte mehr atmen als Anfang. Ich erspare mir den wissenschaft-
lichen Duktus des Interpreten und die Eunuchiade der Retrospektion. Nehme die Hefte, wie sie sind. Und freue mich daran, dass das Unternehmen, späterhin, eine andere Wendung genommen hat.

V Virtual Minds

Es hätte, damals, 1910, Einer schreiben können:

Nun also. Etwas Neues. Der BRENNER. Er erscheint in Innsbruck und Bozen. Was in der Nachbarschaft erscheint, nimmt man zur Hand, nicht eben aufgeregt und ohne eigentliche Not; wie auch: als gäbe es an Zeitschriften, Heften und dergleichen nicht schon genug. Wir erinnern uns an die Versuche des Jungtirol, die nicht lange zurück liegen, an den SCHERER oder an den FOEHN. Allerlei nichts Langlebiges; Kurzfristiges und dem Tage Geschuldetes. Es scheint ja, allenthalben, als würden solche Unternehmungen, wenngleich schmalbrüstig und nur von kurzer Lebensaussicht, immer wieder empor wachsen aus allerlei Richtungen; wenig gefestigt und ohne den nötigen Ernst, auch ohne die nötige Heiterkeit.

Der Anspruch, der aus dem Vorspruche des vor mir liegenden ersten Heftes spricht, ist ein allzu bekannter: die Kunst und die Dichtung sollen befördert werden; also ob es eine Zeit gegeben hätte, in der Kunst und Kultur mehr geblüht hätten als in der unsrigen. Es ist die Zeit eines langen Friedens. Bedenkt man die Epoche, die mit dem unseligen Jahre 1848 ihren Ausgang nahm, so sind alle Wirrungen jener Tage nur noch Geschichte. Vor einigen Jahren, 1908, wurde in allen Ländern unserer Monarchie das sechzigste Jubiläum der Regierung seiner Majestät, des Kaisers begangen. Von Czernowitz bis nach Bregenz, von Prag bis nach Triest haben die Völker der Kronländer und Ungarns dankschuldig und dankbar dies Jubiläum begangen. Niemals zuvor blühten die Wissenschaften, und vor allem die Kunst, mehr als in diesen Jahren.
Es war dies vor allem eine Epoche, in der sich Kunst und Kultur nach allen Richtungen hin frei entfalten konnten, und mehr noch, unter dem Eindruck der ungeheuren Kraft des aus allen Disziplinen mutig hervor stürmenden Fortschritts zu ungeahnten Ergebnissen führten.

Seit Jahren aber bemerken wir Entwicklungen, die aus einem scheinbaren Widerspruche der Kunst zu ihrer, also unserer Zeit sich speisen und, ungeachtet der kolossalen Entfaltung der Künste in jenen Jahren bis heute, erneut nach einem Aufbruche oder einem Anbruche rufen; so, als wäre das Erreichte nur Chimäre und würde es einer weiteren Erneuerung bedürfen; es wird, vermehrt, nach den Kräften der Natur gerufen und, nicht selten, gewinnt man den Eindruck, als gerieten Theosophie und Radikalität zur gleichen Zeit in den Vordergrund, schleuderten sich nach vor und meinten, Hässlichkeit würde sich durch das kunstfertige Wort rechtfertigen. Man nennt dies den Expressionismus, der, vor allem im Reich, mitunter ebenso Abstoßendes wie Skurriles hervorbringt. Ich erinnere mich eines dünnen, nicht minder grässlichen Heftes eines Berliner [?] Arztes namens Gottfried Benn, Morgue –
eine Sammlung von Scheußlichkeiten, in lose Reime gebracht. Nun also, nochmals. In Wien erscheint ein Heft, das, in Rot eingebunden, seit Jahren, im Wesentlichen die Ideen seines Erzeugers in alle Welt schleudert, es heißt die FACKEL; nun, seit 1912 schreibt Kraus alle Beiträge allein; es hat dem Heft nicht gut getan; die Farbe des Umschlages scheint das Programm zu sein. Wir können verzichten.

Gewiss, der BRENNER ist keine FACKEL. Er kommt schon anders daher: indes, man soll sich nicht täuschen lassen. Das Format ist nicht unähnlich dem jener Hefte aus Wien; das soll Handlichkeit vorschützen und das ist von Weitem wohl auch das Programm: Lesbares dem Leser von heute lesbar zu machen. Der BRENNER erscheint, so belehrt uns die erste Seite, in Innsbruck und in Bozen. Das will uns glauben machen, dass das ganze Land als Rezipient in Frage kommen solle. Wie denn – dem BRENNER kommt – schon als Begriff –
kaum eine Bedeutung zu. Längst nämlich hat sich die Erhebung, die das Wippthal durchschneidet, der modernen Technik gebeugt. Bequem kann der Reisende von heute ihn queren. Auch hier haben die Zeit und ihre Möglichkeiten ganze Leistung erbracht. Seit 1867 – dem Jahr der rühmlichen Staatsgrundgesetze – fährt die Brennerbahn nun; schade ist, dass die Pläne, die vor einigen Jahren erwogen worden sind, auch das Stubaithal anzubinden, zu keinem Ergebnis geführt haben. So will es scheinen, dass der Name wohl doch ein Programm ist: nach dem Brennerpasse kann er sich nicht orientieren. Scheint’s als wolle jemand ein ganzes Land entzünden, und über die eingangs genannte FACKEL hinaus-reichen und weithin sichtbar, loderndes Feuer geben.

Ei, freilich: bislang aber reicht die Halbmonatsschrift nur für ein Feuerchen hin. In loser Folge aufgereiht sind Gedichte und kleine Abhandlungen; bisweilen ein wenig gegen den Strich gebürstet; aber doch brossé. Es ist ein Unternehmen Ludwig von Fickers, den man in Innsbruck durchaus kennt, und sei’s als Sohn seines verdienstvollen Vaters. Der junge Ficker ist in den letzten Jahren als Dramatiker hervor getreten, wenn es denn gleichwohl bescheidene Schritte des Hervortretens waren. Bisweilen hat man ihn als Dichter gehört; heutzutag keine besondere Distinktion. Alle Welt dichtet und alle Welt erlebt; die einen in bunten, die anderen in mehr finsteren Farben. Ganz hübsch sind die Zeichnungen, die Max von Esterle beisteuert. Der Rest ist, fast überwiegend, beliebig. Im Ganzen also: ein Strohfeuer und kein Brenner.

VI Zu- und Abstiftungen

Die Zustiftungen: Karl Kraus, Georg Trakl, Ludwig Wittgenstein, Carl Dallago, Else Lasker-Schüler, um nur einige zu nennen. Im ersten Moment seiner Bewegung gewann der Brenner an Geschwindigkeit und an Substanz. Er erhob sich – ein anderes Wort ist mir nicht geläufig dafür – aus dem Umfeld seiner Gründung und erlangte ein eigenes Leben: seltsam genug, dass es an Brüchen aufstieg.

Zustiftungen des Bunten. Zustiftungen der Zeitgenossenschaft. Übertritt aus dem Lokalen; das Feuer des Heraklit. Hier nicht Agathons Feuer, aber das Feuer der Zeit. Geronnen in den Augenblick einer ganz kurzen Zeit. Eine weitere Inkluse. Sie ist noch spürbar; doch das ist Reflexion.

Die Abstiftung: Der Krieg, der Tod Georg Trakls, der Zusammenbruch und das Ende der alten Monarchie. Aus ihnen schliff sich eine zweite Gestalt, die nicht mehr in diese Betrachtung gehört.

VII Zustiftung 2

Dies geschah im Jahre 1914. Als Ludwig von Wittgensteins Vater starb, erbte der Sohn und stiftete einen Betrag von einhunderttausend Kronen zur Verteilung durch Ludwig von Ficker: zehntausend waren dem Brenner zugedacht; der Rest wird von Ficker wie folgt verteilt1:
Georg Trakl 20.000 Kronen, Rainer Maria Rilke 20.000, Carl Dallago 20.000, Oskar Kokoschka 5.000, Else Lasker-Schüler 4.000, Adolf Loos 2.000, Borromäus Heinrich 1.000, Hermann Wagner 1.000, Georg Oberkofler 1.000, Theodor Haecker 2.000, Theodor Däubler 2.000, Ludwig Erik Tesar 2.000, Richard Weiss 2.000, Karl Hauer 5.000, Franz Kranewitter 2.000 und Hugo Neugebauer 1.000.
Eine Krone entsprach (2009) einem Betrag von € 4,68.2

Man kann dies nur so stehen lassen. Aber es ist ein Denk-Stein.
VIII Anfang

Schon der Anfang ist eine Schleife, die die Zeit um den Hals trägt, und zugleich eine Binde, die wir vor den Augen tragen. Das ist kein Satz der Vorsokratiker und das ist das Gegenteil der entbergenden Lichtung der Aletheia (siehe die Nummern 1 und 3). In dieser Zeitschleife liegt die Betrachtung des Anfanges des Brenner.

Ich ziehe an ihr und sie zieht an mir.

Verwunderungen darüber, dass dies wurde aus jenem. Darin ist das Unbegreifliche der Fuge, die kein Schicksal schickt, sondern die Zeit freilässt. Aleatorisch? Gewiss. Doch so ist das Leben, und nicht nur dieses.

IX Krachmandeln

Im Wiederlesen des eigenen Texts. Ein Wider- und ein Wiederlesen; auch gegen den Strich gebürstet. Kann man tatsächlich so weit zurück sehen, dass man zu den Anfängen geht? Im Falle des Brenner ist der Blick sehr verstellt. Ludwig von Ficker als Figur, der späte Ficker, beinahe enthoben schon. Schließlich Ficker auf dem Totenbett unter seinem eigenen Bild – ein expressionistisches Portrait. Darunter liegt, ob einem Diwan ausgestreckt, in seinem Sonntagsstaat, ein sehr alt gewordener Mann; federleicht beinahe. Enthoben, eben schon. Das Antlitz des Mannes, zerfurcht, zugleich zart. Einen weiten Weg ist Ludwig von Ficker gegangen. Im letzten Aufgang des Brenner sehr Entrücktes. Man darf es nicht esoterisch nennen, aber es berührt den Anfang nur noch in der Person des Stifters. Man muss sich selbst zurücknehmen, gerade in solcher Betrachtung. Nicht teilnehmen an der allgemeinen Kanonisierung; nicht teilnehmen an jenem Blick zurück, der in der Vergangenheit nur das Gute und das Edle sieht. Kein laudator temporis acti. Als ob man auf eine Krachmandel beißt und sie – nur mühevoll – nachgibt. Nachgiebt hat man im Anfang des Brenner noch geschrieben und Brod. Brod möchte ich heute noch schreiben. Wegen Hölderlin und Max. Max Brod eben.
X Krachmandeln 2

Es soll nicht übersehen werden, dass Person und Gestalt des Brenner und seines Schöpfers in den Jahren nach 1945 maßgeblich das bestimmt haben, was so genannte Kultur war in Tirol; die Auswahl war nicht weit gefächert, sich reichte bis in die bildende Kunst. Wer was dagegen zu sagen hatte, hatte nicht viel zu sagen. Das trübt das Bild ein wenig, aber es ist nicht falsch. Eine Metaphorik der Wirkung, Metaphern des Firnis; eines Firnis, der sich über die Geschichte zieht und über die Herzen. Nicht der Anfang (VIII), sondern das Ende zählt. Nicht der Inhalt, sondern die Figur. Nicht der Tanz, sondern die Arabeske. Es kocht sich ein Bild ein: Das Bild wird zu einer eigenen Gestalt und wirft seine Leimrute aus, der viele auf den Leim gehen; auch ich. Das spielt keine Rolle und eine Rolle zugleich: Die Rolle, die es spielt, zieht man aus und lässt sie hinter sich: Häutungen. Die Rolle, die es nicht spielt, ist die wesentlichere. Essenz des Übergangs. Essenz des Verganges. Essenz der Wandlung.

XI Krachmandeln 3

Nicht angelegt im Konzept des Brenner war, wenn man ihn von seinem Anfang aus betrachtet, das auf besondere Innigkeit Ausgelegte. Die esoterische Komponente der Wirkung, der Geltung und vor allem die Chimäre des Besonderen, also der Berufung auf transzendentem Grund, war dem Brenner nicht in die Wiege gelegt. Weniger Hellingrath, mehr Esterle. Eine vollständige Edition der Briefe Ludwig von Fickers wird das zeigen, sie soll im Gange sein. Der Mann aus der Turm in Tübingen, seine letzten Niederschriften, seine Hymnen und das Dunkle, das er ins Licht tauchte, stand nicht am Anfang des Brenner – er wölbte sich seinem Ende eher entgegen; im Auftreffen auf die Gestalt Martin Heideggers. Das Wissen um die Geistesspeisen war ein weit verbreitetes Phänomen, vor allem nach dem zweiten Kriege. Die Arcana mussten für Einiges herhalten. Sie sind geschwunden; man muss es nicht beklagen. Am Anfang, wir kommen auf den Begriff zurück, war der Brenner frei vom Raunen des Geheimnisses.
XII Mühlau

Vom letzten Platz aus auf den ersten zu sehen. Jedes Jahr am vierundzwanzigsten Dezember gehen wir nach Mühlau hinauf. Stehen im Frühlicht der Gräber. Ich, für meinen Teil, mehr Schreiber als sonst was, stehe gern dort. Ich sehe in das Frühlicht der Gräber hinein; es ist wie eine Gouache aus Gegenwart und Vergangenem. Dort ist zugleich der Anfang des Brenner begraben als eine Wurzel, als ein Teil der Schleife, die das Leben windet. Man kann auch sagen, dass alles nichts ist. Man kann, ganz anders, sich Goethe zuwenden, der lange davor war. Eine Fülle gegen eine andere Fülle. Die Eisfliege umkreist die mürrisch und taub gewordenen Blätter des verwundenen Lorbeerreis’. Paul Celan ist an diesem Grabe gestanden, einmal – am Grabe Georg Trakls. Grund, nein, Ursache genug, dort fortzustehen und den Gedanken kreisen zu lassen, zurück an jenes Jahr, in dem erstmals der Brenner erschien. Seine Buntheit ist – wie anders nach den Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts – verwelkt und dem Versuche gewichen, in verantworteter Ernsthaftigkeit etwas von der Essenz des Productiven zu bewahren. Das alles gibt es.

XIII Man sollte

Man sollte der Seele eines aus „deutschen“: dass die Zeit ein Wirrsal ist und aufzubrechen beliebt, ohne Ankündung. Dann aber zeigen sich Figuren, Masken und Genien, deren Gestalt ebenso überraschend wie heiter ist. Sie überwinden die Erinnerung und weisen auf den Ursprung hin, aus dem alles, auch das Produktive springt: die anfängliche Heiterkeit des Geistes, die, hin oder her, auch dem Brenner Pate stand.

1   Nach: http://www.wittgen-cam.ac.uk/cgi-bin/deutsch/text/biogrg4.html
2   http://de.wikipedia.org/wiki/%C3%96sterreichische_Krone

 

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