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Fließtext *
Von Thomas Stangl

Wir haben zwanzigtausend Jahre in diesem Bachbett verbracht, sagte er. Nun ist es Zeit, uns eine andere Bleibe zu suchen. Woher kommen Sätze wie diese (samstagabends, vor dem Nachtmahl), wohin wollen sie? Du kaust sie wieder und wartest, ob sie ihren Geschmack verlieren. Du wiederholst sie in Dialekten, von denen du meinst, sie könnten zu ihnen passen, zum Beispiel auf sächsisch oder in dem, was du für sächsisch hältst (denn natürlich kannst du nicht sächsisch). Am schönsten wäre es, wenn eigentlich die Tiere in dir weitersprechen würden; oder warum nicht die Steine. Aber was hätten denn die Tiere davon (zwei Krebse, die sich mit der ganzen Gattung oder dem ganzen Stamm verwechseln; soweit man bei Krebsen von Stämmen reden kann); was hätten die Steine davon, die dich ohnehin überleben und die es sogar überleben, zu Staub zerbröselt zu werden, denn nichts erhebt sie über ihre Einzeilteile; was hätten sie davon außer der Freude, übersetzt zu werden, in die Sprache einer anderen Gattung? Die Freude, dich ratlos zu sehen, vor ihren Sätzen, die eigentlich nur für sie selbst da sind, die Steine oder Staubkörnchen, die Krebse oder die winzigen, fast durchsichtigen, fast selbst aus Wasser scheinenden Asseln. Die Freude eines anderen Zeitmaßes, einer anderen Art von Ausdehnung. Immer wünscht du dir, dass jemand beschließt, in deine Sätze zu übersiedeln, du versprichst, dass du ihn (oder sie oder es, worum auch immer es sich bei dem Wesen handeln mag) gut behandeln wirst, zart und vorsichtig mit ihm umgehen, es soll in der fremden, im Grunde lebensfeindlichen Umgebung gedeihen. Natürlich solltest du Skrupel haben; natürlich bist du jederzeit bereit, diesen Wesen ihre Freiheit zurückzugeben. Manchmal scheint es dir wie ein Glück, dass du vergessen kannst, dass die Sätze, von denen du nicht weißt, woher sie kommen und was sie von dir wollen, auch plötzlich wieder verschwinden können, ins Nirgendwo, aus dem sie kurz aufgetaucht waren. Natürlich sind es gerade die intelligentesten, die witzigsten der Sätze, die sich gleich wieder entschließen fortzugehen, wie könntest du es ihnen verübeln. Du nimmst einen Schluck Bier, ein Kind streckt seinen Arm ins Wasser (ein kalter, eisiger Bach, in einem Gebirgstal, das du dir leicht vorstellen kannst), hebt zwei Kieselsteine heraus und lässt sie ins Täschchen seines Kittels oder in den Rucksack, den Mama oder Papa versehentlich offen dastehen haben lassen, gleiten. Mit tropfenden kleinen Händen, das Portemonnaie, das Notiz- oder Adressbuch, das Jausenbrötchen werden nass. Die kleinen Hände, die Arme des Kindes sind nass und eiskalt, Mama oder Papa halten sie in der eigenen warmen großen Hand, das kleine, immer kleinere Kind versucht die Hand abzuschütteln. Irgendwann öffnest du müde den Rucksack, räumst dein Notizbuch (das jedes Mal fleckiger wird), dein Portemonnaie, in dem die Geldscheine sich wellen, ein ungegessenes Jausenbrötchen aus; woher aber kommen diese beiden Steinchen, glatte runde Kiesel, was wollen sie von dir. Wenn dich jetzt ein Schwindel erfasst, denk dir, es gibt Sätze, die du einmal aufgeschrieben hast und die vorwegnehmen, was geschehen kann, Sätze, in denen die Zeiten und die Orte durcheinanderkommen, eines sich ins andere verwandeln, sich im anderen verlieren kann; kommt dir ein fremder Gegenstand in die Hände, dann halt ihn fest; halt ihn fest, aber ohne ihn gewaltsam zu drücken, leg ihn ans Fenster, damit die Sonne ab und zu darauf scheinen kann. Zwei Krebse wie aus Zeichentrickfilmen entschließen sich, ihren Bach (wo das Wasser irgendwie eklig und verpestet geworden ist) zu verlassen und in die Stadt zu übersiedeln, wo sie Abenteuer erleben, vor Köchen flüchten, vor Kindern, Killern und Schriftstellern und schließlich in einem Vorstadthäuschen glücklich werden. Du findest tote Krebse in deiner Tasche, die du ausnahmsweise ausräumst, greifst voller Ekel auf diese schleimigen kalten Dinger, zuckst zurück, dein Herz klopft, wie kommen diese Dinger hier herein. Jetzt erst riechst du den Gestank, dir scheint, er würde einem Gestank aus deinem Inneren entsprechen. Du nimmst einen Schluck Bier, du schneidest dir ein Brot ab. Die winzigen durchscheinenden Asseln, leuchtende Schleier im klaren Wasser (du bist bereit, sie sich dir vorzustellen und sie mit den Medusen zu verwechseln, die du aus Aquarien kennst: sanfte Musik in diesen Sälen, weiches Licht, du darfst mit zarten Gespenstern umgehen, mit vage feenhaften Wesen, deren Sprache du nicht verstehst, und das ist vielleicht schon der Fehler: du darfst nichts verstehen wollen, es gibt nichts als die Bewegung und das Schweben), winzige zarte Schleier im Gebirgsbach, mit einem Finger herausgeholt, einem staunenden Blick, einem kurzen „Töch“ bedacht, in die Tasche (in Mamas, in Papas Rucksack) geschleudert, unbemerkt: ein zartes Wesen (oh weh, was geschieht mir?), ein zweites (hallo, mein Gott, wo sind wir hier, ich bekomme keine Luft –), du greifst in deine Tasche, was ist das für ein Schleim, wie kommt er zwischen Notizbuch und Portemonnaie, was hat sich hier, wie Rotz, zwischen die Seiten deines Adressbuchs geschoben. Wo sind wir hier, ich bekomme keine Luft. Bitte beiß von deinem Brot ab, bitte nimm noch einen Schluck Bier. Stell dir diese Geduld vor, zwanzigtausend Jahre, diese plötzliche Entschlusskraft, diese rührend zeremonielle Ausdrucksweise, eine Bleibe suchen. Und dann so ein Ende: In dieser lebensfeindlichen Umgebung, was würdest du hier tun, als intelligentes, witziges Wesen, das gerade noch in seiner Geisterwelt aus Wasser und Licht daheim war. So als würdest du dich entschließen, dass du eigentlich keine Luft zum Atmen brauchst, du kannst es auch mit etwas anderem versuchen. Aber genug, bitte, vergiss den Satz, er gehört zu keiner Geschichte.

— * Text, der in einem Stück und ohne Unterbrechungen durch Absätze, Überschriften, Abbildungen, Fußnoten u.Ä. gesetzt wird.
— Aufforderung, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und dabei nicht zurückzuschauen; freihändig draufloszulegen, ohne zu korrigieren; die Buchstaben zu Papier zu bringen und bedenkenlos aus der Hand zu geben.

 

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