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Das verwundete Herz

„Erlauchte u. berühmte Personen, die in diesem Hause gewohnt“, steht über der Marmortafel am Eingang des Innsbrucker Hotelgasthofs „Goldener Adler“. Der älteste Eintrag verzeichnet den Aufenthalt Kaiser Maximilians I. im Jahr 1494, der jüngste, gut 500 Jahre später, gilt Sultan Hamengku Buwono X. Nur eine Zeile darüber ist zu lesen, 1952 habe Nobelpreisträger Albert Camus im „Goldenen Adler“ logiert. – Der Schriftsteller Mirko Bonné heftet sich an die Fersen Camus’.

Alles ist ein Zeichen der Liebe für den,

der gezwungen ist, allein zu sein,

das heißt für alle Menschen.

Albert Camus


Der in Stein gemeißelte Eintrag im „Goldenen Adler“ ist in doppelter Hinsicht ungenau, ja falsch. Zwar war Camus 1952 bereits ein europaweit angesehener Autor, ein Idol. Den Literaturnobelpreis aber erhielt er erst nach Erscheinen seines Romans „La Chute“, „Der Fall“, 1957. Auch war er 1952 durchaus auf Reisen, so in sein Heimatland Algerien, da noch ein Teil, wenn auch ein zunehmend von Unruhen geschüttelter Teil des spätkolonialen Frankreich. Algerien war ein Pulverfass, dessen Sprengstoffgemisch der 1913 in Mondovi bei Algier geborene Camus so gut kannte wie kaum ein zweiter französischer Schriftsteller.

1952 aber war Albert Camus nicht in den Alpen. Es war das Jahr nach Veröffentlichung seiner politisch-philosophischen Abhandlung „L’homme révolté“, „Der Mensch in der Revolte“. Deren antidogmatischer, mithin antikommunistischer Impetus hatte Camus in zermürbende Grabenkämpfe mit Sartre schlittern lassen. Noch im selben Jahr ging ihre Freundschaft in die Brüche. Unter den „erlauchten u. berühmten Personen, die in diesem Hause gewohnt“, ist auch Jean Paul Sartre, der 1972 Innsbruck besucht haben soll. Camus war da schon seit zwölf Jahren tot. Im „Goldenen Adler“ gibt es heute eine Camus-Suite, die keine Wünsche offen lässt. Gerade deshalb hat sie nichts gemein mit Albert Camus’ wirklichem Aufenthalt in Österreich im Sommer 1936.

In jenem Sommer war Camus zweiundzwanzig, ein drahtiger, gesund, ja blendend aussehender junger Mann mit auffallend wachen Augen, kleinen Ohren und immer einer Zigarette im Mundwinkel. Die äußere Erscheinung täuschte. Er hatte bereits einiges hinter sich: das Regiment der Großmutter, die der vaterlosen Familie vorstand, die denkbar einfachen Verhältnisse, in denen Mutter, Bruder und er mit der Patronin lebten, den mühsamen Ausbruch aus der ihm vorbestimmten Handwerkerlaufbahn auf die Uni von Algier. Sein Studium schloss er mit einer Diplomarbeit über Christentum und Hellenismus ab; die antiken nordafrikanischen Philosophen Augustin und Plotin sollten ihn zeitlebens beschäftigen. Der KP beigetreten, warb er in den Armenvierteln meist vergeblich um Mitglieder. Er war Mitbegründer des „Théâtre du Travail“, begann sich für Dramaturgie zu interessieren und Stücke zu schreiben. Außerdem war er Fußballer und leidenschaftlicher Schwimmer gewesen, bis man Anfang der Dreißigerjahre Tuberkulose bei ihm festgestellt hatte. Wenig später lernte er eine der aufregendsten jungen Frauen des seinerzeit weltoffenen Algier kennen. Er spannte Simone Hié einem Freund aus, umwarb sie mit ersten schwärmerischen Erzählungen und Feenmärchen und heiratete sie.
Ein ganzes Leben mit seinen lichten Flächen und deren abgründigen Verwerfungen scheint sich in Camus’ letzten algerischen Jahren vorzubereiten. Die Jahre vor Kriegsausbruch, die seltsame Müdigkeit unter dem grünen Himmel, das Zersplittern der Tabus und die damit einhergehende Ziellosigkeit, das Ganze eine Art verspäteter ennui, wenn man so will, schildert der Roman, auf dem sein späterer Ruhm fußt und den viele für Camus’ bedeutendstes Buch halten. 1936 aber trennten ihn von „L’étranger“, „Der Fremde“, noch sechs schwierige Jahre.

Im Sommer 1936 kamen die Camus mit einem Bekannten Alberts vom Theater, dem Englischlehrer Yves Bourgeois, überein, zu dritt auf eine ausgedehnte Kajaktour durch Österreich, Tschechien und Schlesien zu gehen. Bourgeois galt als brillanter Kopf, war ein politischer Einzelgänger und, vier Jahre älter als Camus, viel in der Welt herumgekommen. Er kannte Inn, Donau und Elbe, sprach fließend vier Fremd-
sprachen, darunter Deutsch, und er war Kanufahrer, seit er in London studiert und in Annapolis, Maryland, ein Stipendium absolviert hatte. Camus dagegen kränkelte, rauchte zuviel, mochte zwar Nietzsche, kannte das Deutsche aber lediglich aus philosophischen Fußnoten. Seine erste Reise nach Mitteleuropa begriff er als Zäsur. Fern des Alltags über sagenumwobene Flüsse paddelnd, hoffte er zu einem archimedischen Punkt zu finden, von dem aus sich entscheiden ließe, welche Laufbahn er einschlagen würde. Die Politik zog ihn an, doch alles Kaderdenken war ihm zuwider. Ein neues politisches Theater schwebte ihm vor. Er hatte André Malraux gebeten, dessen „Zeit der Verachtung“ auf die Bühne bringen zu dürfen, Malraux hatte ein einziges Wort zurücktelegraphiert – „spiel“. So stolz ihn das machte, so gut wusste er, dass sich mit engagiertem Theater ein Leben nicht finanzieren ließ, schon gar nicht mit Simone, die das Extravagante liebte, die Ballett tanzte und jedes Kleid nur einmal trug. Halbherzig bewarb er sich um einen Lehrerposten an einer Privatschule in Oran, woher Freunde stammten und wo er zehn Jahre später seinen großen Roman „La Peste“, „Die Pest“, ansiedeln sollte. Im Grunde wusste er, was er wollte, weil das Schreiben alles miteinander verband: Sein erstes Buch war nahezu fertig, „L’envers et l’endroit“, „Licht und Schatten“, eine Sammlung literarischer Essays. Vieles von der später so leuchtenden Beschreibung mediterraner Landschaften und der so knappen, unbestechlichen Charakterzeichnung nehmen „Ironie“, „Zwischen Ja und Nein“, „Liebe zum Leben“ und „Licht und Schatten“ vorweg – vier Aufsätze nahm er im Juli 1936 zu letzten Korrekturen auf die Reise mit. Der bitterste und dunkelste aber ist der fünfte, den er erst nach der Kajakwanderung schrieb und einfügte in die Mitte des Bandes: „Tod im Herzen“.

Die Ehe von Simone und Albert Camus war nach nur zwei Jahren zerrüttet. Hier liegen der eigentliche Anlass für die Reise und der Grund für ihr so furchtbares wie klägliches Scheitern. Seit langem nahm Simone Drogen. Gegen starke Menstruations-
beschwerden hatte man ihr bereits als Mädchen Morphium verabreicht, eine schwere Traumatisierung in ihrer Kindheit oder frühen Jugend dürfte aber dafür verantwortlich gewesen sein, dass die schlanke und hübsche junge Frau sich bald auch gezielt betäubte. Sie war neunzehn. Immer wieder wird Simone als „ätherisch“ beschrieben, „Guten Tag, Traumbild!“ lautete Camus’ Grußformel für sie. Andere Stimmen, auch im nahen Umfeld, bezeichnen Simone hingegen als „gourgandine“, ein Flittchen, das im Ruf stand, zu trinken und mit jedem Kerl, der bezahlte, ins Kino zu gehen – männliches Wunschdenken in einem auf Status und Vorankommen bedachten Bekanntenkreis, der in Camus seinen Star sah und ihn missgünstig beäugte. Simones lange Zigarettenspitzen, Simones breitkrempige Hüte, Simones Fuchsstola und ihre weißen Kleider, unter denen sie, so hieß es, nichts anhatte. Auf den wenigen Fotos, die es von ihr gibt, wirkt sie weder ätherisch noch liederlich, vielmehr unsicher, fragend. Ihre auffällige Schönheit kann über ihre Selbstzweifel nicht hinwegtäuschen.

Als das Trio Anfang Juli in Algier die Fähre nach Marseille bestieg, war Simone Camus für längere Zeit in einer Klinik gewesen. Auch Yves Bourgeois hatte sie dort während des Entzugs besucht, und so hegte Camus die Hoffnung, mit vereinten Kräften könnte es gelingen, seine Frau vom Rauschgiftnachschub abzuschneiden, solange Bourgeois und er für Ablenkung, für sportliche Betätigung, Reiseeindrücke und Unterhaltung sorgten. Dresden wollte man sich ansehen, Wien und Prag. Zusammen mit Simone hatte Camus Manns „Zauberberg“ und Wassermanns „Fall Maurizius“ gelesen, aber auch Kafka. 1933 war „Der Prozess“ auf französisch erschienen.
In Marseille sandten sie die beiden Kajaks voraus nach Innsbruck und bestiegen den Zug. Sie fuhren dritter Klasse, zunächst nach Lyon, wo Bourgeois Lehrer gewesen war, dann weiter nach Zürich. Durch den Arlbergtunnel kamen sie nach Innertirol und trafen am 16. Juli 1936 in Innsbruck ein. „Wenn es keine Kaffeehäuser und keine Zeitungen gäbe, wäre das Reisen eine mühselige Angelegenheit“, heißt es in „Liebe zum Leben“. Für den jungen Camus macht den Wert des Reisens die Angst aus, da es in jedem eine Art Staffage zerstöre: „Es ist nicht mehr möglich, zu mogeln, sich hinter Büro- oder Fabrikstunden zu verschanzen.“ Da man das Gefühl habe, auf Reisen sei die eigene Seele krank, gewinne jeder Mensch und jedes Ding seinen Wert als Wunder zurück.

Von der Kajakreise existieren nur spärliche Notizen. Zwar führte Camus seit 1935 ein Tagebuch, skizzierte darin aber vorrangig Ideen und Lektüreeindrücke. Das erste Heft dieser frühen Journale, ein herkömmliches Schulheft, hat er später zerschnitten, umarrangiert und neu zusammengeklebt. Die Eindrücke der Reise durch die Alpen wanderten so in den Sommer 1937 und lesen sich seltsam isoliert. Bedenkt man Leerstellen und Zerstückelung mit ein, so drängt sich die Vermutung auf, dass Vorkommnisse während der Reise und spontane Aufzeichnungen Camus erst veranlasst haben, das Journal eigenhändig zu zensieren.
Über Innsbruck, wo er sich immerhin drei Tage lang aufhielt, vermerkt das Tagebuch kein Wort. Doch gibt es eine Handvoll Briefe, die Camus nach Algier schickte, Depeschen an zwei Freundinnen und KP-Mitstreiterinnen, beide Töchter wohlhabender Familien in Oran. An Jeanne Sicard und Marguerite Dobrenn schrieb er am 17. Juli aus dem Café Maximilian: „Was mich an Tirol am wenigsten interessiert … ist das Tirolerische. Innsbruck ist eine Operettenstadt. Die Leute laufen in kurzen Hosen und mit Federhüten herum.“ Beeindruckt ist er dennoch: „Das Land ist herrlich – von wilder Sanftheit – mit wunderschönen Abenden.“ Er klagt über Geldsorgen: „Ich habe einen Schein der algerischen Lotterie (50 Francs). Hier gibt’s aber keine nordafrikanischen Zeitungen. Achten Sie also auf die 3. Ausspielung, vielleicht bringt uns Nummer 136918A Millionen, einen Bauernhof und das Glück.“ Mit Marguerite Dobrenn und Jeanne Sicard hatte er lange vor Reiseantritt eine Wohnung in Algier gemietet, fürs Zusammenleben mit Simone sah er offenbar keine Zukunft. In der Maison Fichu, dem „Haus vor der Welt“ mit Blick auf Hafen und Mittelmeer, spielen große Teile von „La Mort heureuse“, seinem erst posthum veröffentlichten Debütroman „Der glückliche Tod“. Darin ist auch vom Ende seiner Ehe die Rede, von den Schrecknissen der Reise durch ein nach Essiggurken riechendes Europa.

Camus konnte nicht wissen, denn er hatte nichts von ihm gelesen, dass Bahnhof und Café Maximilian wie so viele Innsbrucker Örtlichkeiten untrennbar mit Georg Trakl verbunden sind. 1936 war Trakl seit zweiundzwanzig Jahren tot, elf Jahre zuvor hatte man seine sterblichen Überreste aus Krakau überführt und auf dem Neuen Friedhof in Mühlau beigesetzt. Die Drei aus Algier liefen im Nieselregen am Fluss entlang und suchten nach einer Stelle, an der sie ihre Faltboote würden zu Wasser lassen können. Jenseits der Mühlauer Brücke, wo heute der vom Verkehr umbrandete Traklpark liegt, wurden sie fündig, Wiesen erstreckten sich dort bis zur Innuferböschung.
Nichts zog sie nach Mühlau hinauf, an Trakls Grab oder zur Rauchvilla, wo Trakl in Camus’ Geburtsjahr den „Helian“ geschrieben hatte und wo sein Förderer und Freund Ludwig von Ficker, der Herausgeber des „Brenner“, noch immer lebte. Im Café Maximilian an der Anichstraße war von Ficker Trakl zum ersten Mal begegnet. Als Camus dort saß und Briefe nach Algier schrieb, wusste er nichts davon, konnte nicht ahnen, dass an dem selben Bahnhof, an dem die Drei ihre Boote unterstellten und eine Droschke zum „Goldenen Adler“ nahmen, Trakl einen Viehwaggon an die ostgalizische Front des „großen Krieges“ bestiegen hatte. Eine gespenstisch nickende rote Nelke an der Mütze, überreichte Trakl von Ficker zum Abschied einen Zettel, der auch Camus nicht unberührt gelassen hätte: „Gefühl in den Augenblicken totenähnlichen Seins: Alle Menschen sind der Liebe wert“, stand darauf.

Der „Große Krieg“ sollte bald nur noch Erster Weltkrieg heißen. Schon stand ja der zweite ins Haus. Mitte Juli 1936 waren seine Vorboten nicht länger von der Hand zu weisen. Camus hatte Mühe, über das Zeitgeschehen auf dem Laufenden zu bleiben, denn französische Zeitungen waren in Innsbruck nicht zu bekommen. Bourgeois übersetzte ihm, dass der Abessinienkrieg zu Ende war. Mussolini hatte Äthiopien annektiert und war dabei, aus den Kolonien am Horn von Afrika ein „Italienisch-Ostafrika“ zu schmieden. Mit dem Juliabkommen hatte Hitler den Einfluss des Duce auf Schuschniggs austrofaschistischen Ständestaat unterbunden. Österreich war nun praktisch reichsdeutsches Mündel. Die fettesten Schlagzeilen aber galten dem Sport. In Berlin würde der Führer am 1. August die Olympischen Spiele eröffnen, Hitler und Goebbels gaben sich betont weltoffen. Bourgeois war der Meinung, man dürfe die euphorischen Deutschen nicht alle über einen Kamm scheren. Für Camus dagegen jubelte da bereits der Vorplatz der Hölle, bevor die sich auftäte.
Weit mehr als die offenkundige Propaganda-Show in Berlin beunruhigte ihn, was in Spanien vor sich ging, dem Land der Vorfahren seiner Mutter. Während sie zu dritt auf Wanderkarten vom Inntal ihre Route festlegten, Linzer Torte aßen und auf Häuserwände geschmierte judenfeindliche Parolen entzifferten, putschten in Spanien die Faschisten. Die linksrepublikanische Regierung Santiago Quirogas geriet unter Druck und brach schließlich zusammen. Am 19. Juli war Franco schon fast am Ziel: Quiroga dankte ab, die Nationalisten kontrollierten Pamplona, Salamanca, Valladolid. Camus war überzeugt, dass der nationalistische Aufstand keine Chance hatte, offenbar glaubte auch er Hitlers Beteuerungen, Deutschland werde sich in Spanien nicht einmischen. An jenem 19. Juli ließen sie an der Mühlauer Brücke die Kajaks zu Wasser. Bourgeois fuhr mit Zelt und Gepäck im ersten, die Camus folgten. Der Inn war von pastelligem Türkis, wie grüne Milch sah er aus. „Schwebstoffe!“, rief Yves, für den es kein Wunder zu geben schien. Seit Tagen der Regen, und die Strömung von einem Tempo, dass Simone jauchzte. Camus verstörte das alles. Er fühlte sich verwundet. Auch der Verwundete sei hinrichtungsfähig, hatte Österreichs Kanzler Schuschnigg gesagt, und Camus bezog das auf sich. So gut er konnte, paddelte er innabwärts Kufstein und der deutschen Grenze entgegen.

Bei Nieselregen und diesiger Luft kamen sie durch Hall, an Pill fuhren sie vorbei und an Schwaz, bevor sie bei Buch eine Rast einlegten. Simone schienen Bewegung, fremde Umgebung und klare Luft gutzutun. Himmlisch, die ineinander übergehenden, sich kreuzenden und auseinanderstrebenden Linien der Almhänge. Jede Kuh war ein Engel für sie. So ruhig, so gleichmütig hätte sie auch sein mögen. Sie passierten Strass, dann die Zillermündung. Bourgeois’ Boot legte sich längsseits an das etwas kürzere der Camus, und Yves schwärmte vom Liebreiz des Tals, das sich zwischen den Bergen südwärts erstreckte. Er war in seinem Element, und Camus entging nicht, wie wohl sich auch seine Frau fühlte, wie einig Simone und Yves sich in ihrer Begeisterung waren. Wider Erwarten war er es, dem das alles nichts sagte, der sich ausgeschlossen fühlte und danach sehnte, allein zu sein.
Kurz vor den Montanwerken von Brixlegg, am Innflößerweg, etwa dort, wo der Alpbach herabgerauscht kommt und in den Fluss mündet, schlugen sie nach rund der Hälfte der Strecke das Zelt für die Nacht auf. Bachstelzen schwirrten umher. Die Boote lagen festgezurrt im Röhricht. Während Bourgeois ins Dorf ging, um Bier und ein Abendbrot zu besorgen, richteten die Eheleute das für drei viel zu kleine Zelt her und setzten sich dann vielleicht unter einen Baum an den Inn. Camus spürte, wie ihn die alte Eifersucht in den Klauen hielt. Hinzu kam die Angst, Simone könnte nur auf eine Gelegenheit aus sein, an die Notration Morphium zu gelangen, von der er sicher war, dass sie irgendwo versteckt lag. Er ließ seine Frau nicht aus den Augen. Sie warteten auf Yves, blickten stumm auf den blaugrünen Fluss. So blicken Merseult und Marthe, die einander belauernden Liebenden in „Der glückliche Tod“, zur Leinwand eines Kinos, in dem auch ein Mann sitzt, der Mersault keine Ruhe lässt. „Marthe, ist er dein Liebhaber gewesen?“, fragt er schließlich. „Ja“, antwortet sie. „Aber jetzt interessiert mich der Film.“

Die Stille und das Grün des Inntals von vor fündundsiebzig Jahren sind unwiederbringlich verloren, mehr noch, sind nicht einmal mehr vorstellbar. Auf der Inntal-Autobahn jagt man vorbei an Rattenberg-Ost, Rattenberg-West, der Kiesgrube bei Radfeld, der Holzfabrik in Wörgl, den Speditionen in einem ehemaligen Flecken wie Kundl. Tiefe Wolkenbänke, hinziehend über Kirchbichl. Kurz vor Kufstein bekommt man im Schatten des Kraftwerks Langkampfen eine Ahnung, wie es zwischen Schilf, Uferbirken, Uferweiden und Himbeersträuchern einmal überall geflirrt und geblinkt hat. Haubentaucher, Libellen, Tagpfauenaugen. Die Forellen stehen im Fluss, so reglos, als wüssten sie nicht, ob sie noch leben oder sich bloß erinnern.
Die starke Strömung ließ die Camus die Flussmitte meiden, immer wieder stellte sich so ihr Kajak quer und drohte zu kentern. Nach einer weiteren Nacht in dem klammen Zelt erreichte das Trio abgekämpft Kufstein. An Marguerite Dobrenn und Jeanne Sicard schrieb Albert Camus am 22. Juli: „Ich fühle mich völlig erschöpft, und jetzt erst ist mir wieder eingefallen, dass mir jede intensive Schultergymnastik verboten ist. Ich werde also auf das Kanufahren verzichten und die Strecke parallel zu Fuß oder per Bus zurücklegen.“ Es regne zum Verzweifeln, in jedem Kino laufe „Walzerkrieg“. Die Frauen seien blond, groß und dumm, die Tiroler von unergründlicher Einfalt.
Von dem imposanten Festungsstädtchen hält Camus sogar eine Tagebuchimpression fest: „Kufstein – die Kapelle und den Inn entlang die Felder im Regen. Sich verdichtende Einsamkeit.“ Simone entschloss sich, allein mit Bourgeois weiterzurudern. Als nächsten Treffpunkt vereinbarten sie Berchtesgaden, ehe auf dem Inn die zwei aneinandergebundenen Kajaks an ihm „vorbeischossen wie ein Blitz“. Gut möglich, dass er sich an diesem ersten Morgen allein in Europa die doppelstöckige Dreifaltigkeitskapelle am Kufsteiner Stadtplatz ansah. Wahrscheinlich aber bestieg er den ersten Zug nach Deutschland und sah dann tatsächlich am Inn entlang Felder im Regen liegen, die heute verschwunden sind unter Gewerbegebieten, Parkplätzen, der Autobahn zum Grenzübergang. Kurz vor Kiefersfelden steht dicht an der Bahntrasse wie auf steinernen Stelzen die seltsam anrührende König-Otto-Kapelle.

Weinen können hieß dem Elend eine Grenze zu ziehen. Camus wusste, in Spanien hatte Franco Burgos genommen und eine Gegenregierung eingesetzt. Er wusste, auf dem milchgrünen Fluss, an dessen Ufer er dahinfuhr, eilte seine Frau vor ihm davon. Manchmal, während er sprachlos unter lauter Fremden im Zug saß, summte er den Sommerschlager vor sich hin, den seine Mutter so mochte, Tino Rossis „Marinella“: „Marinella, ah! Reste encore dans mes bras …“ Doch die meiste Zeit starrte er bloß aus dem Fenster und sah dabei nichts als die Bilder von einem unbesiegbaren Sommer in seinem Kopf.
Als Bourgeois und Simone mit einem Tag Verspätung in Berchtesgaden eintrafen, mietete man sich zu dritt ein Gasthofzimmer. Was hatte Camus vierundzwanzig Stunden lang allein in dem verregneten Nest gemacht? Wohl kaum den Watzmann bestaunt. Ein paar Kilometer entfernt auf dem Obersalzberg lag Hitlers Berghof. Seit kurzem lebte Eva Braun dort. Wenige Tage zuvor hatte Hitler Mädchen aus einem Bad Reichenhaller Internat empfangen, am 25. Juli aber hörte er sich in Bayreuth „Lohengrin“ an. Berchtesgaden bekam seinen Tyrannen zu spüren: Anwohner des Obersalzbergs wurden vertrieben, der NS-Apparat zwang sie, Land und Häuser zu verkaufen, damit das „Führersperrgebiet“ entstehen konnte. Güterzüge, Lastwagen, Baumaschinen, Pferdefuhrwerke und hunderte Arbeiter passierten im Juli 1936 das Städtchen, in dem Camus gestrandet war und über das er nie ein Wort verlor.
Abends machte sich Simone schick. Die Blicke der Einheimischen in dem Gasthof, wo sie einkehrten, fraßen die junge Frau auf. Jodler, Zitherspieler – Camus höhnte, und Bourgeois platzte der Kragen: „Sind das denn keine Menschen für dich?“ Camus antwortete erst, als zwischen Dirndln und Lederhosen immer mehr Braunhemden und Hakenkreuze auftauchten. „Ihnen zum Trotz werde ich ihnen nicht absprechen, dass sie Menschen sind“, sagte er. „Will ich dem, woran ich glaube, treu sein, bin ich gezwungen, das in ihnen zu achten, was sie bei Anderen nicht achten.“

Tags darauf, am 26. Juli, nahmen sie den Zug nach Salzburg. In Mozarts Geburtshaus gefielen Camus besonders die Entwürfe von Bühnenbildern, und völlig unerwartet erfasste ihn die erste Begeisterung seit Beginn der Reise, als sie in die Freilicht-
aufführung eines Mysterienspiels gerieten: Auf dem Domplatz wurde „Jedermann“ gegeben – die Salzburger Festspiele hatten begonnen.
In gelöster Stimmung sahen sie sich den Petersfriedhof an, schritten untergehakt zu dritt durch den Mirabellgarten und setzten sich ins Café Demel, um Touristenfiaker zu beobachten, die über den Residenzplatz mit seinem Fischpferdbrunnen rollten. Camus war verblüfft, dass ihn ausgerechnet die durch das Gassengewirr schwirrende Musik seine Selbstachtung wiederfinden ließ. Simone ging mit Bourgeois den Dom besichtigen, und er tauchte ein in die Klänge aus lauter fremden Stimmen und machte sich auf den Weg zur Post, um dort lagernde Briefe abzuholen.
Auch ein an Simone adressiertes Schreiben wurde ihm ausgehändigt. Absender war ein Arzt. Als Camus den Umschlag aufriss, muss er geahnt haben, was ihn dazu berechtigte – seine Ehe, das Leben, wie er es gekannt hatte, waren vorbei, nur er hatte es nicht wahrhaben wollen. Der Brief löschte alle Halbwahrheit, alles Sichvorgaukeln aus. Was er in Händen hielt, war absurd, der Liebesbrief eines erpresserischen Mediziners. Der Arzt bekundete seine Bereitschaft, die Patientin weiterhin mit Morphium zu versorgen, und nannte seinen Preis. Er sei derselbe wie bisher, derselbe, den Simone auch bei anderen Ärzten entrichtet habe.
Der „Salzburger Brief“ beendete zwar nicht die Reise, doch eine gemeinsame war sie fortan nicht mehr. Camus fuhr mit Nachtzügen bis nach Breslau, während Simone und Bourgeois über Elbe, Donau und Moldau paddelten. Man traf sich in Budweis, Dresden und Prag, ehe es über Wien, Vicenza und Venedig zurückging nach Marseille und schließlich Algier. Dort trennte sich Camus von seiner Frau, ließ sich aber erst vier Jahre später scheiden. Simone Camus blieb zeitlebens Morphinistin. Über ihre Mutter bat sie Camus immer wieder um finanzielle Unterstützung und erhielt sie stets.

In „Der glückliche Tod“ erkennt Merseult am Ende seiner Europareise, immer nur einem Glück nachgejagt zu sein, das er im Grunde für unmöglich hielt. „Er hatte gespielt, glücklich sein zu wollen. Nie aber hatte er es bewusst, entschlossen gewollt, nie bis zu jenem Tag … Von da an schien ihm das Glück möglich zu sein.“ Ist es möglich, das Glück bewusst herbeizuführen? Um diese Frage kreist Camus’ Schreiben. Am Ende seines Tagebuchs, geschrieben wenige Tage vor seinem tödlichen Autounfall, kommt er nochmals auf die Kajakreise zu sprechen und bekennt sich zu einem verwundeten Herz: „Das erste Geschöpf, das ich liebte und dem ich treu war, ist mir in den Drogen, im Verrat entglitten. Vielleicht rührt vieles von dort her, aus Eitelkeit, aus Angst, wieder zu leiden, auch wenn ich viel Leid auf mich genommen habe. Seither aber bin ich meinerseits allen entglitten, und irgendwie wollte ich, dass mir alle entgleiten.“

 

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