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Die Tyrannei des Wünschenswerten

„Allem und jedem versuchen wir, hermeneutisch plappernd, eine Antwort abzupressen.“ – Schauspieler und Regisseur Sven-Eric Bechtolf interpretiert Interpreten. Eine Polemik.

Der Dirigent Viktor Klemperer probt Bachs Matthäuspassion. Bei einer komplizierten Phrase unterbricht er korrigierend den Sänger. Der erwidert ihm: „Maestro, heute Nacht habe ich im Traum Johann Sebastian Bach gesprochen, und er hat mir verraten, wie man das singen muss.“ Klemperer lässt den Sänger gewähren und schweigt. Am nächsten Morgen unterbricht Klemperer den Sänger vor dem gesamten Orchester an der nämlichen Stelle und sagt: „Ich habe heute Nacht im Traum auch Johann Sebastian Bach getroffen, und stellen Sie sich vor, der kennt Sie gar nicht!“


Ein junger Regisseur fragt den großen Fritz Kortner, was das Geheimnis der Regiekunst sei.

Kortner: „Sie müssen das Stück auseinandernehmen wie eine Uhr. Also, wie ein Uhrmacher das täte, penibel! Und dann wieder zusammensetzen – aber nicht richtig!“

Die Beziehung zwischen Schöpfer und Interpreten gleicht der von Fliegen zur Fensterbank. Heute noch fürwitzige Eroberer, liegen sie schon morgen rücklings darauf. Dieses Mißverhältnis bleibt konstituierend.

Die beiden oben stehenden Anekdoten umreißen unser Problem, die Spannung zwischen zwei widerstrebenden Anforderungen: das den Vorstellungen seines Schöpfers so weit als möglich genügende Verständnis des Werkes einerseits und die natürliche und sowohl unumgängliche wie unverzichtbare Subjektivität und Ermächtigung durch uns Nachschöpfenden andererseits. Mit dieser Widersprüchlichkeit darf allerdings kein fauler Friede gemacht werden.
Wer die Autonomie des Werkes zu Gunsten eigener Auslegungen opfert, muss gute Gründe haben. Nicht gegenüber dem Feuilleton, nicht gegenüber dem Publikum, sondern gegenüber der eigenen künstlerischen Redlichkeit.
Phillipe Ariès bemerkte einmal, dass man – um etwa aus der Lektüre eines Werkes von Leibnitz Gewinn zu ziehen – Leibnitz’ ursächliches Problem kennen müsse, da nur so die darin gefundenen Antworten Sinn machten; davon abgelöst seien diese wissenschaftlich meist längst präzisiert oder widerlegt und überwunden.
Es geht also weniger um die Antworten, als um die Fragen.

Wenn wir aber das Amalgam der Bedingungen sichten, die zu einem Werk führen, die bewussten und unbewussten Einflüsse und Absichten ergründen, können wir nicht umhin, sie mit unseren eigenen Bedingtheiten, Beeinflussungen und Absichten zu konfrontieren. In dieser Bewegung – hin zum Fremden und ins Eigene zurück – liegt eigentlich schon ein Gutteil dessen, was wir Verständnis heißen, was aber mit „Interpretation“ treffender ausgedrückt wäre. Denn „verstehen“ können wir wenig. Notwendigerweise werden wir dann auch auf den Unterschied zwischen unserer eigenen Bewegtheit und der monolithischen Faktizität des fremden Werkes aufmerksam.
Wir verhalten uns nämlich gegenüber denen, deren Werke wir aufsuchen, um unsere Position zu bestimmen, wie Navigierende zum Sternenhimmel. Irrtum und Subjektivität liegen schon in dieser einfachen Absicht begründet.
Verfahren wir aber vorsätzlich umgekehrt, lassen wir den Künstler und sein Werk flottieren, rauben wir ihm die Fähigkeit, Leuchtmarke und Navigationspunkt auf unserer ohnehin ziemlich verdüsterten Reise zu sein. Oder anders ausgedrückt: Gestehen wir einem Werk – wenigstens hypothetisch – Ewigkeitscharakter zu, werden wir von ihm interpretiert. Betrachten wir hingegen das fremde Werk lediglich als Material, würdigen wir es zu einem Instrument unserer Absichten herab. Es verliert sein durch die Zeiten zu erhaltendes Antlitz und grinst uns nun mit unserer eigenen Allerweltsfresse an. Es wäre aber doch geeignet gewesen, uns aus weiterer oder näherer Ferne in einen besonderen Zustand zu versetzen: fremd und staunend vor ihm und damit vor uns selbst.
Der Interpret soll sich nicht ermächtigen, sondern er muss, wie um Erlaubnis bittend, sich höflich und fragend nähern. Das wissen wir im Innersten auch, tun es aber selbstverständlich nicht. Die Verlockungen am Wegesrand sind zu groß.

Ich spreche hier natürlich von unserem Verhältnis zu den wichtigen Stücken des Kanons, die man auch als die „Klassiker“ bezeichnet. Der lebende Autor mag sich gegen die unlauteren Zudringlichkeiten eines Interpreten wehren, die Toten können das nicht. Das Theater – seinem Wesen nach ohnehin animistisch – sollte daher zuweilen auch einer kollektiven Totenbeschwörung dienen.
Zur Beschäftigung mit den Werken sind wir nicht durch uns, sondern durch sie selbst ermächtigt. Nicht der Theaterdirektor erteilt uns den eigentlichen Auftrag, nicht das lebendige Publikum, sondern ein abstraktes Auditorium, das sein Recht einfordert, sich mit Vergangenem ins Vernehmen zu setzen. Auch das Vergangene macht sein Recht nach Gegenwärtigkeit geltend.
Die Dichter haben, so stelle ich mir vor, ein ewiges „uns“ gemeint, als sie selber noch „wir“ waren. Ein ernster Auftrag, bilde ich mir ein, liegt daher im Bewahren und Weitergeben. Die noch Lebenden geben den schon Toten Sinn – und empfangen ihn zugleich von ihnen.
Wer wir sind, sagen uns auch die, die waren.
Die Redlichkeit derer, die nach uns kommen, erhoffen auch wir, auf ihren Respekt werden auch wir angewiesen sein, wenn wir denn über eine nennenswerte Hinterlassenschaft verfügten.
Der Interpret hat sich nicht vor der Presse, ja nicht einmal vor seiner Zeit zu verantworten, sondern vor dem Theater selbst. Je mehr er sich aber als Medium versteht, desto mehr wird er von sich absehen müssen. Wer kann das schon?

Leichter ist es da, der vordergründigsten aller Vorgehensweisen zu verfallen – der Aktualisierung: Das Herunterbrechen auf heutige Zustände – mit Hilfe dramaturgischer Abrissbirnen, genannt Konzeptionen, mit denen wir uns erfolgreich daran machen, die unverstandenen und daher bedrohlich wirkenden Riesen ins Diesseitige zu befördern – ist unser vorrangiges Interesse gegenüber dem einschüchternd Unverstandenen geworden.
Mörderische Geburtshelfer sind wir.
Nichts fürchten wir durch und durch aufgeklärten und säkularisierten Nachschöpfenden mehr als das Dämmerlicht unseres Verstandes. Wir entzünden daher ein bengalisches Feuer, in dem unser Gegenstand – fahl, aber berechenbar – aufscheint. Wir kostümieren und maskieren das uns Fremde, bis wir es wieder erkennen. Als Notbehelf darf solche Vorgehensweise wohl herhalten, befriedigend ist sie nicht.
Ein Regisseur, der in Shakespeares stürzenden Königen etwa nur die Vorstandsvorsitzenden global operierender Konzerne erkennen will, ist vorsätzlich blind und unlauter.
Das Universum, dachten die Alten, wölbe sich in unzähligen kristallenen Kugeln, an deren Wände die Sterne geheftet wären, um die Erde, als ihrem Sinn und Zentrum. Diese ineinander schwebenden Sphären, glaubten sie, drehten sich in unterschiedliche Richtungen und wenn ihre Flächen und Inhalte sich in kreisender Weise berührten, entstünde die Sphärenmusik, die nie erhörte Musik der Welt. Im Mittelpunkt dieser so vollkommen geordneten Schöpfung stand der von seinem Gott gemeinte Mensch, und im Mittelpunkt dieses Mittelpunktes, ihn strahlend und aus tiefem universalen Willen überragend: der König. Das war, als die Sonne sich noch um die Erde drehte und der Saturn in Hoden und Milz wirksam wurde und dort den Fluss schwarzer Galle regierte, die, nach der Lehre der vier Temperamente und der vier Körpersäfte, im Übermaß vorhanden, den Melancholiker kennzeichnete.
Der ganz besondere Saft, das Blut, entstand im Herzen, dessen Planet der Jupiter war, dem Sanguiniker zugeordnet. Die gelbe Galle, der Leber entströmend, schuf den Choleriker, dominiert von seinem Planeten Mars, und der Schleim, der vierte der Säfte, entquoll bezeichnenderweise dem Gehirn des Phlegmatikers, der dem Monde untertan war.
Die Sterne wirkten bestimmend in das Wesen und Schicksal des Menschen und die menschlichen Taten wirkten bis hinauf zu den Sternen. Der Mensch erträumte seine Sicherheit wie ein Nest, im Geflecht der Analogien von Mikro- und Makrokosmos.
Dann kam Kopernikus und zerschnitt das erträumte Band zwischen Welt und Mensch, die Erde begann rotierend ihre rasende Fahrt um die Sonne, die ptolomäische Erhabenheit, die Würde des Gemeinten, der Sphären zerbrach, und das Getöse des zerspringenden Kristalls, der niederprasselnden Sterne und Allgewalten des zertrümmerten Weltenbaues tönte über und durch Shakespeare noch bis hin zu uns. Auch wir leben noch erschrocken und ungläubig zitternd im Echo des fürchterlichen Donners. Die Körpersäfte sind nun sinnloser Ausfluss sinnloser Materie geworden, unsere Körper denkendes Eiweiß, unsere Existenz eine in die unbeseelte, grausame Natur achtlos und zufällig geworfene. Gott zu denken heißt seitdem, ihn sich als einen sich aus seiner Schöpfung Zurückziehenden vorzustellen. Der Gläubige betet seitdem in ein ewiges Abwenden hinein, seinem Gott sozusagen in den Rücken.
Diesen gewaltigen Sturz erleidet stellvertretend für seine nun schon elisabethanischen Untertanen (und noch uns Heutigen) zum ersten Male der stürzende König Richard der Zweite.
Nicht der historische, der von alledem nichts ahnte, der von Bolingbroke, nicht von Kopernikus besiegte, wohl aber der, den William Shakespeare uns als den Urvater seiner Königsdramen vorstellt. Sein Richard stürzt mit der Welt auf die Erde. Erst stirbt er als König, dann als Mensch. Sein in der Königswürde gesalbter Körper reißt fallend den sterblichen mit sich. Shakespeare zeigt uns Verlust und Gewinn dieses doppelten Todes. Er verfährt umgekehrt wie die Zeit und die Erkenntnis. Richard als König ist ein schuldiger Mensch. Als ein bestrafter, gestürzter Mensch im Kerker aber wird er verzweifelnd zum König.
Seine letzten Worte, zu seinem Mörder gesprochen, lauten:

Die Hand soll nie verlöschend Feuer foltern
Die so mich stürzet. Deine freche Hand
Befleckt mit Königs Blut des Königs Land
Auf, auf mein Geist! Den hohen Sitz zu erben
Indes mein Fleisch hier niedersinkt zu sterben.

Der Frevel an der Heiligkeit des Königs bleibt aber vorerst ungesühnt. Seine Nachfolger und ihre Kinder und Kindeskinder werden freilich dieser für immer gemordeten Würde nicht mehr froh. Shakespeare erkennt es, beklagt es, versteht es, begrüßt es, fürchtet es?
Aus dem sich klaffenden Riss in der Welt aber steigt wundersamer- und paradoxerweise – eben diesen Riss,
oder wenigstens uns versöhnend – Shakespeares Text.

Dieser Umstand ist uns Heutigen nicht mehr interessant genug. Wir wollen Zustände geißeln, aktuell sein, wir streben nach der so genannten „gesellschaftlichen Relevanz“. Auf diesem zeitgeistigen Wege wird man rasch zum Symptom der Krankheit, die man zu beschreiben glaubt. Darüber hinaus aber verblöden wir in unserem Verlangen nach Kritik (statt nach Erkenntnis) bis zur Wahnhaftigkeit: Solange sich nämlich die widerborstige Realität nicht zur empfohlenen Besserung bequemt, zählt der Vorwurf als die Tat, und das größtmögliche realisierbare Ideal wird das berechtigte Unbehagen mit den Zuständen. In Ermangelung von Ergebnissen wird so wenigstens die Tyrannei des Wünschenswerten ausgerufen, die im Werk immer nur einen Vorwand sucht und zwanghaft suchen muss.
In dieser Weltschau wird die Bühne zu einer substituthaften Flagellantenanstalt und das Original zum Material im Dienste einer höheren Sache.
Welche Natur diese Sache hat, ist allerdings nicht recht bekannt. Sie nährt sich aus diffusen Befunden und wählt sich als Genre das Palimpsest, andeutungsreich bis zur Unverständlichkeit. Die haben unsere Rezipienten nämlich paradoxerweise gerne. Es handelt sich allerdings um eine Verwechslung: Man hält das Ungefähre für einen besonders reichhaltigen, und daher nur schwer zu entziffernden Hinweis … auf eine Lösung.
Zum Glück für uns wird das Undeutliche vom verschreckten Publikum zunächst tatsächlich der Tiefe bezichtigt.
Das verweislose Stillewerden vor geschlossener Gestalt und Form findet dagegen – allerdings nicht nur im Theater – erbitterte Gegnerschaft. Dass irgendetwas sich nicht hergeben könnte, scheint allgemein ein Furcht einflößender Gedanke geworden zu sein. Dahinter steckt aber kein böser Wille, sondern am Ende nur das Bedürfnis nach Trost und Gewissheit. Allem und jedem versuchen wir, hermeneutisch plappernd, eine Antwort abzupressen. Dass wir hierfür, im Gegenteil, schweigen müssten, könnten uns die Dichter lehren: „Schläft ein Lied in allen Dingen“, heißt es bei Eichendorff.
Wir kommentieren lautstark dagegen an. In dauernder Selbstermächtigung und den Blick streng nach außen gerichtet. – Vielleicht die falsche Richtung. Denn, wie Schopenhauer es unvergleichlich signifikant formuliert hat: „Die Welt ist meine Vorstellung.“
Sie soll es aber nicht bleiben.

Ohne die an die sektiererischen Debatten des 19. Jahrhunderts gemahnenden Diskussionen um das so genannte „Regietheater“ fortführen zu wollen, ist aber der Umgang mit der Autonomie der Autorenschaft gewiss in unseren weltanschaulichen Wurzeln zu suchen. In grober Verkürzung könnte man zwei sehr unterschiedliche Haltungen ausmachen. Zum einen jene, die man das „tragische Bewusstsein“ nennen könnte und die das Leben als Verhängnis, als unaufhellbare, so wundervolle, wie grauenerregende Veranstaltung begreift, die man letztendlich nur in ein numinoses Dunkel hinein befragen kann, ohne freilich mit einer Antwort zu rechnen.
Zum anderen jene Haltung, die man wohl als „kritisches Bewusstsein“ bezeichnen würde und die in der Philosophie dem Materialismus entspräche. Die erstere ist, als „bürgerlich“ und allenfalls „idealistisch“ gebrandmarkt, im Verschwinden begriffen, die letztere tritt ihren Siegeszug an. Wir, die wir sie nolens volens vertreten, dulden keine Dunkelheit, wir machen das Licht an. Wir sind die großen Entzauberer, und unsere Leidenschaft ist die Entlarvung.
Wir feiern eine umgekehrte Eucharistie. Aus Fleisch und Blut machen wir wieder Brot und Wein. Allzu oft sauren Wein und hartes Brot.
Das identifikatorische und illusionistische Theater haben wir für tot erklärt, seine Referenzwissenschaft war die Psychologie. Die Wissenschaft von uns heutigen Theaterschaffenden ist die Soziologie! Dass beide irren, ahnen wir indes dunkel. Denn das Theater verlangt und produziert etwas Drittes.
Stimmigkeit erlangt es durch vollkommen widersprüchliche Ansätze und Mittel. Nicht – oder nur auch –
durch Wissenschaftlichkeit.

Was ist also zu tun? Wie sollen wir nun und mit welchen Instrumenten den würdigen Mumien beikommen?
Unsere Altvorderen schmeichelten sich damit, Diener eines Stückes, eines Autors zu sein.
Demut hielten sie für eine Tugend.
Diese beiden Worte alleine reichen aus, um neuralgische Reaktion von emanzipierten Wutbürgern zu provozieren. Erst recht von uns zeitgenössischen Künstlern oder Interpreten. Demut und Dienen? Undenkbar.
Aber vielleicht könnte es gelingen, der eigenen Frechheit und Unkenntnis eingedenk zu bleiben. Den Antworten misstrauend, nicht müde werden zu fragen. Das Rauschen der Stimmen, das von den Werken der Vergangenheit aufsteigt und unseren eigenen Erkenntnissen den Rang der Vergänglichkeit und Blindheit durch seine bloße Existenz zuweist, zu hören.
Ja, wir werden weiter unser Eigenes mit dem Anderen verquicken, es geht nicht anders. Um die versiegelten, in der Zeit stumpf gewordenen Worte und Gedanken neu zu schärfen und wieder zum Sprechen zu bringen, um sie zu verlebendigen und aus ihren staubigen Höhlen wieder ins Licht zu schaffen, werden wir uns in ihnen abbilden.
Wir werden sie auch, wie Kortner verlangte, auseinandernehmen, um ihre Gründe zu verstehen und sie, um sie kenntlich zu machen, vorsätzlich falsch zusammensetzen. Mechaniker der Aufklärung werden wir sein.
Aber dabei sollten wir nicht aufhören zu hoffen, Bach im Traum zu begegnen, um ihn nach dem rechten Wege zu fragen.

 

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