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„Prüfen, wozu die Freiheit dient...“

Nach etlichen Anläufen ist es dem britischen Architekten-Duo Jonathan Sergison / Stephen Bates tatsächlich gelungen, ihren ehemaligen Lehrer, den weltweit gefragten Architekten David Chipperfield, für ein paar Stunden an einem der Redaktion nicht bekannten Ort festzuhalten. Zweck des Freiheitsraubs war ein länger vereinbartes Werkstatt-Gespräch für Quart: über die Sinnhaftigkeit von Regelwerken und öffentlichen Räumen, die Dimension „Nutzlosigkeit“ in der Architektur und warum die Fassade beim Kaufhaus Tyrol in Innsbruck einen Knick hat.

Jonathan Sergison: Man könnte behaupten, dass eine der Konstanten in Ihrer Arbeit als Architekt in der Wichtigkeit liegt, die Sie dem Ort, mit dem Sie arbeiten, zugestehen. Und doch spielt sich Ihre Arbeit an immer noch unterschiedlicheren Orten ab. Ihr Architekturbüro ist international tätig, und das Œuvre an Projekten, die Sie realisiert haben, ist außerordentlich. Wie gehen Sie mit dem Gefühl der Unsicherheit um, das sich einstellen kann, wenn der Ort, an dem Sie arbeiten, so fremd ist? Vor allem dann, wenn die kulturellen Rahmenbedingungen, die er repräsentiert, Ihnen nicht unmittelbar vertraut sind? Wie gehen Sie als Architekt mit der Spannung zwischen dem lokalen und dem internationalen Umfeld um?

David Chipperfield: Es geht sowohl darum, was man an einem bestimmten Ort machen könnte, als auch darum, was man machen sollte. Der Ort ist für mich durchaus wichtig, aber man muss den darüber hinausgehenden sozialen und kulturellen Kontext bewusster artikulieren. Vielleicht wäre das eine gute Übung: Wann immer man in seinem eigenen Umfeld arbeitet, sollte man sich ein paar Mal im Kreis drehen, bevor man beginnt, anstatt einfach sofort loszulegen, weil es ja die eigene Stadt ist und man über sein eigenes Umfeld nicht ganz so intensiv nachdenkt wie über andere Orte. In manchen Fällen ist der Ausgangspunkt aber auch sehr von der Bautechnologie oder anderen Voraussetzungen abhängig – denn wir können nicht so tun, als gäbe es bei dieser Herangehensweise so etwas wie wirkliche Objektivität. Man kann ja nicht einfach sagen: Ich habe das Gelände analysiert, die Kultur verstanden, mich mit der Bautechnologie befasst, und infolgedessen werde ich dies und jenes machen … Ich glaube, man reagiert viel vager und subjektiver. Es geht darum anzuerkennen, dass Architektur insgesamt betrachtet nicht in einem Vakuum agiert und daher ein Dialog notwendig ist. Zu der Zeit, als ich meine ersten Erfahrungen als Architekt sammelte, war die Einstellung gegenüber moderner Architektur in diesem Land (Großbritannien, Anm.) ungemein negativ, was bei mir zu einer gewissen Befangenheit führte. Ich dachte: Wir müssen etwas falsch gemacht haben, es muss einen Weg geben, etwas daraus zu lernen. Und dieser Weg hat wohl damit zu tun, dass man Dinge klarer ausdrückt, Argumente findet, die es den Menschen ermöglichen zu verstehen, worum es bei einem Projekt geht, anstatt sich nur von Experten versichern zu lassen, dass man seine Arbeit gut macht. Ich glaube, dass die Architektur –
in diesem Land mehr als überall sonst – sich selbst entfremdet hat, darum habe ich mich während meiner gesamten beruflichen Laufbahn damit beschäftigt, wie man diese Entfremdung mildern könnte. Ich bin zu einer Zeit aufgewachsen, in der eine Art postmodernistische Krise herrschte. Dann kamen Aldo Rossi und Robert Venturi und Leon Krier, und mit einem Mal fing man wieder an, sich die Städte und den Kontext anzusehen, ebenso wie die Geschichte. Aber dabei ging es mehr um die Ausrichtung von Dachlinien, die Positionierung der Fassade im richtigen Winkel – im Grunde ein guter, direkter Ansatz, aber nicht unbedingt der Weisheit letzter Schluss.

S.: An dieser Stelle sollte man vielleicht erwähnen, dass Sie von Beginn Ihrer beruflichen Laufbahn an häufig außerhalb von London tätig waren. Der Weg zum Flughafen wurde sehr rasch zur Routine. War das eine bewusste Entscheidung oder ein Ergebnis der damaligen Umstände?

C.: Es hat sich aus den Umständen ergeben. Als ich meine ersten Aufträge für Läden in Japan und Paris erhielt – das war Mitte der 80er Jahre –, gab es hierzulande keine Aufträge. Selbst ein so begabter Architekt wie Ed Jones, der die Generation vor mir vertrat und für uns alle ein immens wichtiger Lehrmeister war, zog nach Kanada, weil er dort eine Ausschreibung gewann. Damals war der Gewinn einer großen Ausschreibung Anreiz genug für einen Architekten, seine Koffer zu packen und mit seiner Familie nach Nordamerika zu ziehen. In Großbritannien gab es einfach zu wenig Arbeit. Wenn man an Ausschreibungen teilnehmen wollte, musste man das im Ausland tun.

Stephen Bates: Interessanterweise haben wir im Grunde dieselbe Erfahrung gemacht. Als wir anfingen, befand sich das Land mitten in einer Rezession, und die Aufträge, die es gab, gingen meist an große Büros. Es bestand kaum eine Chance für uns, Auftraggeber zu überzeugen und komplexe Projekte an Land zu ziehen, also suchten wir im Ausland nach Möglichkeiten. Im Endeffekt richtet man sich nach den Umständen und baut darauf sein Geschäft auf.

C.: Genau so ist es. Ich glaube, wir leben in einer Kultur, die der Tätigkeit des Architekten wenig Sensibilität entgegenbringt, nicht nur was die externe Sicht betrifft, sondern auch innerhalb der engeren Grenzen des Berufsfeldes selbst. Das größte Problem ist die in diesem Land herrschende Missachtung fachlicher Qualifikation im Allgemeinen, eine Folge der Ära Thatcher, in der fachliche Qualifikation beinahe mit Elitarismus gleichgesetzt wurde. Mich verwundert diese Sichtweise, denn wenn ich einen Arzt oder einen Rechtsanwalt brauche, möchte ich sichergehen können, dass er ein angesehener und qualifizierter Vertreter seines Berufsstandes ist. Bei unserem Beruf, den wir lieber wie den eines Arztes oder Anwalts sehen würden, wird das Unternehmerische in den Vordergrund gestellt, und man verlangt von uns, unternehmerisch zu agieren, während wir eigentlich unseren Beruf als Architekt ausüben sollten.

B.: Wenden wir uns wieder den künstlerischen Aspekten der Arbeit eines Architekten zu. Wenn man Ihre Entwürfe betrachtet, scheint eine allmähliche Entwicklung weg von einem von der universalen Moderne beeinflussten abstrakten Formalismus hin zu einer verstärkt tektonischen Gestaltung erkennbar. Natürlich ist das in Ihrer Arbeit nicht allein ausschlaggebend: Dort, wo es nötig ist, lassen sich ebenso Züge einer organischeren und eher objektorientierten Formgebung erkennen, doch es scheint offensichtlich, dass Ihr Verhältnis zur Gestaltung von Fenstern – weg vom Horizontalen hin zum Vertikalen – und zur Gestaltung von Räumen sich verändert. Hans Kollhoff hat sich sehr wortreich zur tektonischen Fassade geäußert, und ich frage mich, inwieweit diese Entwicklung in Ihrer Arbeit etwa mit der Etablierung Ihres Berliner Büros in Zusammenhang steht.

C.: Ich denke, die Tatsache, dass wir nun schon mehr als zehn Jahre in Deutschland tätig sind, hat uns durchaus beeinflusst. Um auf das vorhergehende Thema zurückzukommen – ich glaube auch, dass in Deutschland eine gewisse Anspruchshaltung existiert, was die Qualität der Detailplanung und Bauausführung betrifft. Wenn man in Großbritannien ein Projekt entwickelt, geht man in jede einzelne Bauphase meist mit einer gewissen Vorsicht, weil man damit rechnet, dass jede Phase durch die anderen Phasen in Frage gestellt werden könnte. Wenn man die Planer von Anfang an mit einer sehr konkreten Vorstellung dessen, was man machen will, konfrontieren würde, würde man wahrscheinlich Ablehnung riskieren. Also versucht man, möglichst lange alles offen zu halten. Selbst wenn man schon die Detailplanungsphase erreicht hat, geht man noch immer zögerlich vor, wegen des Verhältnisses zur Bauindustrie oder weil einem das Budget gekürzt werden könnte. In Deutschland wird es schon am Anfang sehr konkret. Niemand sagt: ‚Wenn du hier Ziegel anstatt Naturstein verwendest, wirst du den Auftrag nicht bekommen …‘ Diese Herangehensweise bedeutet, alles von Anfang an genau auszuarbeiten, um zu zeigen, dass es machbar ist. Beim Kunsthaus Zürich zum Beispiel sind wir gerade in der Vorentwurfsplanung. Man könnte auf Basis dieser Pläne fast schon mit den Bauarbeiten beginnen.

B.: Das Kunsthaus-Projekt wurde doch über Ihr Berliner Büro entwickelt?

C.: Ja, so ist es. Nach dem Gewinn des Gutachterverfahrens zum Wiederaufbau des Neuen Museums wurde 1998 das Büro in Berlin eröffnet. In meinem ersten Jahr in Berlin hat man mich bei Planungsrunden mit dem Bauherrn erst etwas misstrauisch beäugt, weil ich nicht jedem sofort erzählt habe, was wir machen wollten. Man dachte, ich würde etwas verheimlichen, dabei galt es zunächst einmal, zuzuhören und herauszufinden, welche Anforderungen es gibt und alle Wünsche möglichst auf einen Nenner zu bringen. Ich denke, dass wir uns durch unsere Arbeit in Deutschland einen gewissen Grad an Qualifikation angeeignet haben – in Bezug auf Abläufe, Vergabeverfahren und auch darauf, wie man die Detailplanung für ein Projekt ohne Qualitätsverlust realisieren kann. Demgegenüber hat mich die Frage, wie Architektur aussehen sollte – in Anbetracht der sensiblen Umfelder, in denen wir arbeiten –, immer schon beeinflusst. Für mich ist das ein essentielles Thema. Der universalen Moderne ging es in gewisser Weise darum, Unterschiede auszudrücken; mittlerweile sollten wir diesen Drang allerdings überwunden haben. Wir haben uns bemüht, einen Teil der Potentiale und Freiheiten, die uns die Moderne eröffnet hat, zu bewahren. Das ging Hand in Hand mit dem Wegfall von Restriktionen, den wir der modernen Technologie verdanken. In der Moderne ging es darum, der Freiheit Ausdruck zu verleihen. Heute sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir prüfen müssen, wozu diese Freiheit dient, über die wir verfügen können.

S.: Kommen wir auf Ihre Ausbildung als Architekt zurück: Sie fühlten sich von einer Persönlichkeit wie Patrick Hodgkinson angesprochen, und vielleicht – wenn ich hier spekulieren darf – haben etwa auch James Gowan, Neave Brown, Alan Colquhoun, Leslie Martin, Denys Lasdun oder sogar die Smithsons wertvolle Beispiele für die modernistische Position geliefert, die Ihre frühen Arbeiten geprägt hat. Diese Architekten könnte man als Vertreter einer nordeuropäischen modernistischen Tradition bezeichnen. Stimmt diese Annahme, oder waren es doch eher die Tessiner Architekten oder die in Spanien, Portugal und anderen südeuropäischen Ländern tätigen Architekten, die für Sie beispielgebend waren?

C.: Ihre Annahme trifft durchaus zu. Als Student wurde ich wohl von den von Ihnen genannten, etwas kompromissloseren Vertretern der Moderne beeinflusst. Allerdings war eines der aufregendsten Projekte, das ich während meiner Studentenzeit sah, das erste kleine Haus von Mario Botta. Es schien, als hätte die Moderne mit einem Mal einen neuen Energieschub erhalten. Später dann, als wir die Architekturgalerie ‚9H‘ gegründet hatten, begann ich mich mehr und mehr für Arbeiten wie die von Rafael Moneo und Álvaro Siza zu begeistern. Die Arbeiten von Moneo suggerierten, dass Geschichte und Typologie möglicherweise mehr Bedeutung hatten, als ihnen die Moderne zugestand. Die beiden, die ich am meisten schätze, sind vermutlich Siza und Moneo.

S.: Gleichzeitig mit Ihrem Interesse an einer modernistischen Position scheint sich in Ihrer Arbeit auch eine wachsende Vorliebe für einen älteren architektonischen Kanon herauszukristallisieren. Das Kaufhaus Tyrol etwa, das Sie vor kurzem in Innsbruck fertiggestellt haben, verbindet sich auf überzeugende Weise mit den urbanen Häuserblöcken des 19. Jahrhunderts und den damit assoziierten Werten; es wirkt wie eine Form klassischer Architektur, trotz des universalisierenden Charakters der Rasterstruktur und deren modernistischen Assoziationen.

C.: Die Geschichte des Projekts war etwas kompliziert. Meine erste Begegnung mit dem Bauherrn fand auf der Baustelle statt, nachdem man das alte Gebäude bereits abgerissen hatte. Zunächst sollten wir nur die straßenseitige Fassade wieder-
herstellen, eine Idee, die wir nicht überzeugend fanden. Wir argumentierten, dass man das Problem nicht einfach dadurch lösen könne, indem man eine Fassade aufstellt, die mit dem Gebäude dahinter nicht viel zu tun hat.

S.: Die Lesart des Gebäudes als Häuserblock scheint aufzugehen. Es ist eine Reparatur, die jedoch gut mit dem für das 19. Jahrhundert typischen Eindruck eines Gebäudes harmoniert, einem Gefühl von Schicklichkeit.

C.: Ja, darum geht es. Eine der Herausforderungen war, dass die Breite des Grundstücks dem Ausmaß von zwei Gebäuden entsprach. Wir haben das durch einen Knick in der Fassade gelöst, um die Vertikalität und die Schatten zu betonen. Durch die drei leicht schräg zueinander stehenden Fassadenbereiche wird die lang gestreckte Gebäudefront gegliedert. Meiner Ansicht nach bestärkt dieses Element die Assoziation einer Reparatur, weil es zwei Gebäude impliziert und die unregelmäßig gewachsene historische Struktur der Maria-Theresien-Straße fortgeführt. In einem angelsächsischen Umfeld wäre man hinsichtlich der Umsetzung vielleicht etwas nervös gewesen, weil eine hohe Qualität in der Bauausführung nötig ist, damit eine so simple Idee funktioniert.

S.: Nach allem, was ich höre, wird das Gebäude sehr geschätzt, nicht nur bei der Stadtverwaltung, es ist auch in kommerzieller Hinsicht ein großer Erfolg.

C.: Ein so großes Gebäude in die unmittelbare Nähe einer mittelalterlichen Stadt zu stellen – das ist eine Idee, mit der man sich wohl kaum auf Anhieb anfreunden kann. Aber gerade solche Bauprojekte sind eine spannende Herausforderung für uns. Ich bin froh, dass wir mit solchen Projekten beauftragt werden und die Diskussionen die Sinnhaftigkeit der Arbeit, die man macht, unterstreichen; es bedeutet, dass man sich als Architekt mit einem Platz befasst, den die Menschen als wichtig erachten. In Tirol wurde das Kaufhaus Tyrol als Problem für die ganze Stadt gesehen, daher gab es ein allgemeines erleichtertes Aufatmen, als sich herausstellte, dass durch das neue, moderne Gebäude der wichtigste Platz der Stadt nicht zerrissen, sondern auf eine eigene Art wieder zusammengefügt worden war.

B.: Daran möchte ich gleich mit meiner nächsten Frage anschließen, weil sie auch einen Bezug zur Fassade des Kaufhaus’ Tyrol hat, die mir im Übrigen sehr gut gefällt: Wenn man die Fassade betrachtet, zeigt sich, dass Maß und Rhythmus zu wichtigen Aspekten in Ihrer Arbeit geworden sind, und für mich ergibt sich daraus die Frage nach Ihrem Umgang mit Proportionen. Was mich interessiert, ist Ihre Herangehensweise an die Maße von Öffnungen. Wir kennen die Arbeit von Architekten wie Peter Märkli und Paul Robbrecht, die persönliche Proportionssysteme entwickelt haben, um die Maße – und auch die sich daraus ergebenden Formen – der Öffnungen in ihren Bauwerken festzulegen. In vielen Fällen basieren diese auf historischen Systemen, wie dem Goldenen Schnitt oder der FibonacciReihe, die zu einem persönlichen Regelwerk zur Schaffung ansprechender Proportionen adaptiert wurden. Natürlich entsteht dadurch auch eine Art methodisches Hilfsmittel für die Arbeit in einem Architekturbüro, das eine bestimmte Formensprache hervorbringt. Ich frage mich also, ob Sie ein solches System bereits in irgendeiner Weise verwenden oder überlegen, sich ein solches anzueignen. Wenn man bedenkt, wie Ihr Büro strukturiert ist, mit Niederlassungen in Berlin, London, Mailand und Shanghai und Projekten in aller Welt …

C.: Nein, das tun wir nicht, zumindest nicht nach irgendeinem systematischen oder mathematischen An-
satz. Aber es gibt natürlich einen Dialog über die Größe von Fensteröffnungen und darüber, welche Proportionen man als interessant erachtet. Mithilfe physischer Modelle probieren wir unzählige verschiedene Varianten aus. Bei diesem Thema kommt auch ein technischer Aspekt zum Tragen, nämlich in Bezug auf die Größe der Glasscheiben und der Fenster. Die Hauptfassade des Kaufhaus’ Tyrol besteht aus Fassadenstützen, hellen Betonfertigteilen, die mit Naturstein versetzt sind. Es wird eine Balance geschaffen zwischen einer massiven Konstruktion und der Transparenz der raumhohen Fenster.

B.: Und wenn man das Raster von vorne betrachtet, wirkt es offen, während aus der Schrägansicht die Materialität der Fassade dominiert und einen starken Eindruck von Stofflichkeit vermittelt.

C.: Das Spiel mit Subtilitäten ist in der Architektur schwierig umzusetzen. Je mehr Gebäude wir planen, desto mehr müssen wir uns dieser Diskussion stellen.

S.: Wir würden gern noch einen anderen Aspekt Ihrer Arbeit ansprechen, nämlich den der sozialen Nutzung. Das America’s Cup Building in Valencia ist ein sehr skulpturales Stück Architektur, hat jedoch, wie ja ausgiebig berichtet wurde, als Schauplatz für ein sehr öffentlichkeitswirksames Spektakel gedient. Als Stephen und ich kürzlich das Neue Museum in Berlin besucht haben, erlebten wir es als Gebäude voller Menschen. Wahrscheinlich hat man Bilder dieser wunderbar leeren Räume im Kopf und kommt dann sozusagen mit der egoistischen Erwartung dorthin, sich allein auf das Gebäude einstellen zu können … Aber meine eigentliche Frage dreht sich um die Kapazität Ihrer Gebäude als Forum für soziale Aktivitäten, die nicht immer genau planbar sind –

C.: Ein Faktor, der uns in unserer Arbeit antreibt, ist die Suche nach dem ‚Öffentlichkeitspotenzial‘, was auch immer ‚Öffentlichkeit‘ heute bedeuten mag. Das Literaturmuseum der Moderne in Marbach oder das America’s Cup Building zum Beispiel schöpfen ihre Identität nicht aus ihren programmatischen Aspekten, sondern aus den nicht-programmatischen Elementen. Die Terrassen in Valencia waren nicht Teil des Programms, sondern kamen später dazu. Der Zweck des Gebäudes ist es, die Boote zu beobachten und in die Atmosphäre einzutauchen. Da will man doch nicht in einem verglasten VIP-Raum stehen, sondern auf die Terrasse gehen können … Also beginnt man mit einer Box, an deren Seiten man Terrassen anbringt; dann kam uns die Idee, man könnte eine Konstruktion aus Terrassen planen, in die man Boxen einfügt – die umgekehrte Herangehensweise. Würde das einem Gebäude nicht Identität verleihen? Der Bürgermeister wollte ein Gebäude, das als Symbol für die Ausdehnung der Stadt zum Meer hin steht. Ein anderer wichtiger Aspekt des Projekts war, dass es zwar als VIP-Gebäude geplant war, dass man also eine Eintrittskarte brauchte, um hinein-
zukommen, der Bau aber doch eine gewisse Offenheit und Zugänglichkeit haben sollte. Wir haben das Haus so entworfen, dass die unteren zwei Ebenen öffentlich sind. Durch diese Plattformen wird ein Gefühl sozialer Durchlässigkeit vermittelt. Die meisten Leute aus der Stadt sahen sich das Gebäude an und kamen nie über das erste Obergeschoß hinaus, aber sie konnten in den Souvenirshop gehen und die Decks besuchen. Das Literaturmuseum in Marbach – ein Black-Box-Museum, in dem sehr empfindliche Dokumente ausgestellt werden – hätte auch zu einer eher gestischen Konstruktion werden können. Die Kolonnade und die Terrassen stellen einen Versuch dar, eine architektonische Sprache zu schaffen, die das Projekt angesichts seiner Akropolisähnlichen Lage in einen Platz verwandelt. Das Ergebnis ist, dass die Leute an warmen Abenden hinkommen, eine Flasche Wein mitbringen und sich auf den Vorplatz setzen. Die Erweiterung des Programms ließ also die Ränder des Gebäudes durchlässiger werden. Auch bei dem Projekt in Kyoto war die Frage, wann man im Gebäude ist und wann nicht, ein Thema. Bei diesem Bau kann man bis hinauf aufs Dach gehen, ohne jemals in das Innere hineinzugehen. Meiner Meinung nach sind es nicht die Funktionsräume, die einen Eindruck hinterlassen, sondern viel eher Orte wie Arkaden, Kolonnaden, Innenhöfe oder Terrassen. Das ist etwas, was wir in all unseren Projekten umzusetzen versuchen. Die Gesellschaft sorgt nicht mehr für die Schaffung öffentlicher Räume, deshalb denke ich, dass hier private Projekte einspringen müssen, um öffentliche Räume –
oder eine Variante davon – zu ermöglichen. Diese soziale Dimension ist sehr wichtig für mich. Museen sind natürlich per definitionem öffentlich, das macht das Konzept eines öffentlichen Raums viel einfacher.

B.: Das Eingangsgebäude, die James-Simon-Galerie in Berlin wird man vermutlich auch wie einen öffentlichen Raum wahrnehmen …

C.: Das Gebäude ist als Eingangs- und Empfangsort geplant. Es sorgt für eine Entlastung der Museen und dient zugleich als Veranstaltungs- und Besucherzentrum. Als gebaute Topografie besetzt die James-Simon-Galerie mit einem hohen Sockel die Uferkante zum Kupfergraben. Darüber erhebt sich eine Hochkolonnade, die auch außerhalb der Öffnungszeiten frei zugänglich ist. Die Kolonnade verwandelt sich in eine Halle, die wiederum zu einer Buchhandlung und einem Café wird, während sämtliche Infrastruktureinrichtungen unterirdisch liegen. Alles in allem ein Raum, der durch eine simple Glasfläche definiert wird, während das eigentliche Gebäude versucht, sich zurückzu-
nehmen. Was jedoch die Repräsentationswirkung betrifft, so wird durch diese reduzierte architektonische Sprache den kollektiven Ideen – etwa wie ein Publikum sich bewegt, wie es sich ansammelt und wieder zerstreut – Bedeutung verliehen.
Das BBC-Gebäude in Schottland mit seinem zentralen Atrium ist in sozialer Hinsicht ein phantastisches Projekt. Es zeichnet sich durch das besondere Verhältnis zwischen dem Individuum und einer Art Kollektiv aus. Im Atrium herrscht durch die diagonale Ausrichtung ständige Aktivität, wie in einem Nonstop-Theater. Niemand fährt mit dem Aufzug in sein Büro, jeder geht zu Fuß hinauf, um mitzubekommen, was los ist.

B.: Kommen wir zur letzten Frage: Wir beide kennen Sie als Lehrer an der Uni. Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen der Tätigkeit als Architekt und der Tätigkeit als Lehrender – angesichts des zumindest auf dem europäischen Festland herrschenden Gebots, dass die besten Architekten unterrichten sollten.

C.: Dieser Meinung bin ich auch, allerdings kostet es auch viel Mühe. Ich halte eine gute Mischung zwischen Lehrtätigkeit und Praxis für sehr wichtig. In Großbritannien ist das System allerdings kommerzieller orientiert, und niemand wird Ihnen ein Projekt zutrauen, wenn Sie nicht ein riesiges Büro und eine entsprechend eindrucksvolle Maschinerie hinter sich haben. Als wir die Ausschreibung für das Neue Museum gewonnen haben, hatten wir 15 Mitarbeiter im Büro, aber niemand in Berlin hat uns je gefragt, ob wir das überhaupt schaffen können. Und man hat auch keine Projektmanager vorbeigeschickt, um unsere Qualitätsmanagementsysteme zu überprüfen.

B.: Wir fanden es auch ziemlich ernüchternd, als uns kürzlich ein Kollege erklärte, dass die Erwähnung unserer Lehrtätigkeit in den Lebensläufen, die wir für Ausschreibungen einreichen, keinen guten Eindruck macht und tatsächlich als Minuspunkt gewertet wird. Manche Kunden oder Manager sind der Ansicht, man könne kein Büro führen, wenn man gleichzeitig unterrichtet.

C.: Genau. Allerdings gehört es sogar in Amerika zum Status eines Architekten, auch zu unterrichten. Ob man genug Zeit dafür hat oder nicht, ist eine andere Frage, aber selbst wenn man die Zeit hätte, wäre es in diesem Land nicht gut für die Karriere, weil einen niemand als professionellen Architekten ernst nehmen würde. In der Schweiz ist es doch genau umgekehrt, oder?

S.: Das stimmt, dort gilt man kaum als ernstzunehmender Bewerber, wenn man nicht unterrichtet.

(Aus dem Englischen von Astrid Tautscher)

 

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