zurück zur Startseite

Archäologien der Gegenwart

Peter Sandbichler hat den Umschlag und fünf Doppelseiten dieser Quart-Ausgabe gestaltet. Simon Rees über die Hintergründe einer künstlerischen Arbeit, die Zeitungsseiten in Raum und Zeit verwandelt.

Es fällt schwer, an die Obsoleszenz des Zeitungsjournalismus zu glauben – eines der gegenwärtigen kulturellen Schlagwörter –, wenn man Peter Sandbichlers zeitungsbedeckten Tisch betrachtet (von dem sinnbildhafte Darstellungen in dieser Ausgabe von Quart zu sehen sind). Das Objekt wurde im Kunstraum Bernsteiner in Wien bearbeitet. Es besteht aus mehreren Schichten von Ausschnitten aus den wichtigsten europäischen Zeitungen, die der Künstler sich täglich in die Galerie schicken ließ. Nachdem er sie gelesen hatte, klebte er die verschiedenen Ausschnitte auf die Tischoberfläche. Das Konzept eines Feldes aus Zeitungsbildern verwendete Sandbichler zum ersten Mal in einer Installation für die Ausstellung Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners (2011) in der Galerie im Taxispalais in Innsbruck. Diese unterschiedlichen Versionen eines Konzepts (und die Genesis vom Blatt, zum Raum, zur Oberfläche, und zurück zum Blatt) bekräftigen die Assoziation mit der ursprünglichen und wörtlichen Bedeutung von „cut-and-paste“, also ausschneiden und aufkleben. Der Begriff stammt eigentlich aus der Sprache der Drucktechniker und Grafiker und lässt an Teppichmesser, Skalpelle und Klebstoff denken. Älteren, englischkundigen Lesern kommen in diesem Zusammenhang vielleicht auch Begriffe wie „pasteboard“, also Karton, oder „paste-up“, Klebeumbruch, nebst dem dazugehörigen Beruf des „paste-up artist“ in den Sinn. Damit ordnet sich Sandbichlers Arbeit folgerichtig in mit Collagetechnik assoziierte Tropoi ein, die vom Kubismus (man denke nur an die in Werken von Braque und Picasso präsenten Zeitungen) bis in die von Hal Foster kürzlich zum „ersten Pop-Zeitalter“ erklärten späten 1950er reichen. Foster bezieht sich auf die Collagen von Richard Hamilton und die medienübergreifenden Arbeitstechniken des aus Architekten, Künstlern und Designern bestehenden Kollektivs The Independent Group (im Hinblick auf Sandbichlers multimediale und räumliche Arbeiten von besonderer Relevanz).
Der wunderbar gewählte Titel „Die Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“, ein Zitat aus den Schriften des Wissenschaftlers und Philosophen Heinz von Förster, kann auf eine endlos lange Reihe spätkapitalistischer kultureller Dispositionen und Episoden des 20. und 21. Jahrhunderts bezogen werden. Er weckt Assoziationen mit anderen Erklärungen und Prinzipien (etwa Werner Heisenbergs „Unschärferelation“ von 1927), die in den turbulenten Dekaden zwischen der Weimarer Republik und der Errichtung der Berliner Mauer entwickelt wurden. Es waren die radikalen Umbrüche jener Jahre, die Menschen wie den gebürtigen Österreicher Förster dazu bewogen, nach Amerika zu gehen, wo ihre europäischen philosophischen und kulturellen Sensibilitäten sich mit Popkultur und der unreflektierten Hingabe an die Massenmedien konfrontiert sahen (die Europäer hatten die Übel der vollkommenen nationalsozialistischen Manipulation von Radio, Kino, Theater und öffentlichen Veranstaltungen miterlebt). Nichtsdestotrotz gelang es ihnen, über das, was ihnen in den USA widerfuhr, schockiert zu sein, selbst wenn es sich um Benny Goodman oder Shirley Temple handelte, denkt man etwa an die in Los Angeles entstandenen Texte Theodor Adornos aus Prismen (1955) oder seine Betrachtungen über „virtuelle Geschichte“ im abschließenden Teil seiner Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1951). Im letztgenannten Buch versucht Adorno in gewisser Weise, die Unschuld seiner Kindheit zurückzuerobern – einer Zeit vor dem deutschen Kataklysmus der Jahrhundertmitte –, und dazu gehörten auch die Kaffeehäuser: so ganz anders als die anspruchslose Diner-Kultur der amerikanischen Westküste, wo Adorno viele Jahre verbrachte.
Ich erwähne die Kaffeehäuser hier, weil Wien damals wie heute (hält man sich an die urbane kulturelle Elite und touristische Beschreibungen der Stadt, wie sie auch in aktuell veröffentlichten Magazinen erscheinen) als Kaffeehaushauptstadt Europas galt und gilt – ein Ort, an dem das Ritual, den ganzen Tag lang um den Preis einer Tasse Kaffee Zeitungen zu lesen und über das Gelesene zu diskutieren, selbstverständlicher Teil des öffentlichen und bürgerlichen Lebens ist.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts und bis in die 1930er-Jahre hinein wurde dieser Lebensstil in zahllosen Essays, Tagebüchern und Romanen beschrieben, wohl von niemandem besser als vom Schriftsteller und Journalisten Joseph Roth. In England wurde diese Spielart der entspannten Lektüre und Debatte im gesellschaftlich eng umgrenzten Raum der Universitäten und Clubs zelebriert, in Frankreich in Cafés, Clubs und Salons und in den USA – einer Nation, die sich laut Thorstein Veblens Theorie der feinen Leute (1899) ganz dem „Geltungskonsum“ hingegeben hat – innerhalb der noch eingeschränkter zugänglichen Domänen von kirchlichen, kommunalen und gesetzgebenden Gremien. Sandbichlers tägliche Verrichtungen des Lesens, der Verarbeitung und Bearbeitung von Zeitungsberichten setzt ihn somit in Beziehung zu älteren Wiener Ritualen und Rhythmen, mit durchaus zufriedenstellendem Ergebnis. Von dieser Warte aus erscheinen sein Unterfangen und sein Werk eher „sozialer“ als „kritischer“ Natur zu sein, allerdings ist diese Sozialität ebenso sehr von Adornos kristalliner Unschuld durchdrungen, wie sie als Akt der Liebenswürdigkeit gelten kann.
Mit solchen ständigen Verweisen auf das Wien vor dem Sündenfall und den Niedergang der Stadt um die Jahrhundertmitte riskiert man natürlich, ins Klischeehafte abzudriften – und den ortsansässigen Leser zu langweilen, wenn auch deutsche Zeitschriften wie Der Spiegel und DIE ZEIT oder das österreichische profil unablässig aus derselben reichen Quelle schöpfen. Bedauerlicherweise ist die Quelle deshalb so reich, weil sie in den Darstellungen des menschlichen Daseinskampfes, die in den von Sandbichler ausgewählten und (auch hier in Quart) nach Themen angeordneten Zeitungsausschnitten zu sehen sind, allgegenwärtig ist. Die vom Künstler gesetzten Themenschwerpunkte könnten in etwa betitelt werden mit: die Schönen und die Ungeheuer; Diktatoren und Demagogen; Aufstieg und Fall und kurze Atempausen. Der Umstand, dass eine derartige Vielzahl von Bildern und Geschichten sich auf eine Handvoll Schlagzeilen reduzieren lässt, spiegelt die systemische Natur des Nachrichtengeschäfts wider, ebenso wie die Art und Weise, wie andere Bereiche von Gesellschaft und Wirtschaft sich dem unterordnen oder sich diesem System anpassen. (Hier sollte angemerkt werden, dass viele der Bilder und der darauf gezeigten Persönlichkeiten mehr als nur eine dieser Typologien repräsentieren, je nach Kontext und / oder Blickwinkel.) Die Fotos des Regisseurs Werner Herzog (Demagoge oder kurze Atempausen) und des Sprachwissenschaftlers / Philosophen und Romanautors Umberto Eco (Demagoge oder kurze Atempausen) zum Beispiel sind weniger Porträts von Herzog und Eco als vielmehr Illustrationen des Umstands, dass Sandbichlers Lektüre dieser Zeitungen in die Vorweihnachtszeit fiel, jene Jahreszeit, die von der Filmindustrie und den Buchverlagen traditionell für Veröffentlichungen im Hinblick auf das Weihnachtsgeschäft genutzt wird. Herzogs Die Höhle der vergessenen Träume kam Ende des Jahres auf dem europäischen Festland heraus, während Ecos Der Friedhof in Prag, im italienischen Original zu Ostern erschienen, vor Weihnachten zeitgleich in französischer, deutscher, englischer und spanischer Sprache veröffentlicht wurde – und die Filmproduzenten und Verlagshäuser setzten mit Sicherheit alle Hebel in Bewegung, um im Feuilleton besprochen zu werden. Herzogs demagogische Tendenzen sind bekannt, wohingegen die Nennung von Ecos Namen in diesem Zusammenhang überraschen mag – bis man sich das von ihm beworbene Buche genauer ansieht: ein antisemitischer Potboiler, der sich als intelligenter, selbstreflexiver Meta-Roman (ähnlich wie sein früheres Werk Das Foucaultsche Pendel) geriert. Die Kritiker sind sich uneins darüber, welcher Interpretation der Vorzug zu geben ist, doch eines ist gewiss: Die hartnäckige Präsenz der „jüdischen Frage“ in der europäischen Kultur scheint damit besiegelt zu sein (nachdem viele schon geglaubt hatten, sie wäre längst nur mehr in Extremistenkreisen ein Thema).
Tragischerweise finden sich in den Bildserien zahlreiche Beispiele, die mit extremistischen Randgruppen zu tun haben, vor allem zu den Schwerpunkten Diktatoren und Aufstieg und Fall. Am bemerkenswertesten ist das Bild jenes jungen Libyers, der sich Muammar Gaddafis aus reinem Gold gefertigte 45er Automatik angeeignet hat: Mit verschränkten Armen, in der einen Hand die goldene Pistole, in der anderen einen klassischen Armeerevolver, starrt er ausdruckslos in die Kamera, ein Racheengel umgeben von Bildern des Todes und der Zerstörung, von Protesten und Massenbegräbnissen aus der Levante, dem Nahen Osten und Nordafrika. Nicht weit entfernt finden sich Bilder von Mahmud Ahmadinedschad oder dem diktatorisch regierenden syrischen Präsidenten Baschar al-Assad – etwa in einer Collage, die ein Bild von Gaddafi mit dem Wort „DONE“ in weißen Buchstaben über seiner Brust neben einem Bild von Assad zeigt, auf dessen Brust der Schriftzug „NEXT“ prangt. Wenn man sich die Entwicklungen der zwei oder drei Monate ansieht, die vergangen sind, seit Sandbichler diese Bildserie fertiggestellt hat, erscheint das Werk geradezu prophetisch. Zwar ist immer noch offen, ob Assad tatsächlich gewaltsam aus seinem Amt entfernt und die Diktatur gestürzt werden wird; dass er sein eigenes Volk exekutieren lässt, ist mittlerweile hingegen nur allzu offensichtlich, ebenso wie sein Schulterschluss mit Ahmadinedschad und dem Iran, um zu verhindern, dass die Vereinten Nationen, das Nahost-Quartett oder Israel auf die bürgerkriegsähnlichen Zustände in Syrien mit einer militärischen Intervention reagieren. In dieser Hinsicht übernimmt Sandbichler mit seiner Arbeit die Rolle des „Künstlers als Ethnographen“ (oder Anthropologen), um den Titel von Hal Fosters 1996 erschienenem richtungweisendem Essay zu zitieren: Er dringt mit seiner Arbeit in das erweiterte Feld der Kultur vor und erkennt ihre „strategische Überlappung mit einem globalen System“. In dem genannten Essay, ebenso wie in vielen anderen seiner Schriften, bekräftigt Foster den Gedanken, dass zeitgenössische Künstler, die ihre Inspiration aus der jüngsten Vergangenheit beziehen, besonders dazu berufen sind, die Gegenwart darzustellen und/oder Vorhersagen über die Zukunft zu treffen.
Aus dem Blickwinkel von Assad und vielleicht auch Ahmadinedschad ist die jüngste Vergangenheit (wie Theodor Adorno in einem Brief vom 2./4. August 1935 an Walter Benjamin bemerkte) die am stärksten verdrängte Zeit, auf die wir uns nur als katastrophalen Verlust, der aus der Vorgeschichte wiederkehrt, beziehen können. Die (zur jüngsten Vergangenheit werdende) Gegenwart ist der Fluchtpunkt, hinter dem die Toten verschwinden. Und wenn man sich das Schicksal Gaddafis und jenes Saddam Husseins vor ihm in Erinnerung ruft, dann verschwinden sie in einem Erdloch – von der Sensationspresse zum „Rattenloch“ stilisiert –, um dort zu sterben; in jedem Fall zieht die extreme Hybris des Diktators gern ein extremes und unrühmliches Ende nach sich. Gaddafis Tod war eine Neuinszenierung des Todes von Saddam Hussein (und wir sollten nie vergessen, dass auch der ultimative Diktator des 20. Jahrhunderts unter der Erde, in einem Bunker, sein Ende fand) und lässt erahnen, was Assad erwarten könnte: Sandbichlers Absicht hier ist es, ebendiese Geister zu rufen, nicht jedoch, die Zäsur des Verlusts auszulöschen. (Ein Verlust, der in den hier ebenfalls gezeigten Bildern von Amy Winehouse und Michael Jackson spürbar wird.) So düster sich all dies auch anhören mag – Diktatoren, die wohl nur ihre gerechte Strafe erhalten, Drogensüchtige, die der tragischen Unentrinnbarkeit ihres Schicksals erliegen –, so ist dieses vorhersehbare Unglück vielleicht doch leichter zu ertragen als die Ungewissheit und die zahllosen Zäsuren, denen Catherine Deneuve und Charlotte Rampling sich stellen werden müssen, während ihre Schönheit langsam verblüht.

(Aus dem Englischen übersetzt von Astrid Tautscher)


Zum Bildbeitrag

 

im Heft weiterblättern


Email

registrieren

Ihre Email-Adresse wurde bei uns registriert und zur Liste der Newsletter-Abonnenten hinzugefügt.
Sie erhalten in Kürze ein Bestätigung per Email.