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Brenner-
Gespräch (7):
„Wir vergessen die Frage nach dem,
was wir wollen.“

So viele Leute fahren über die Alpen nach Italien. Quart bittet herausragende Persönlichkeiten an den Straßenrand zu einer Jause und einem Gespräch. Folge 7: der Philosoph Michael Hampe im Gespräch mit der Dramaturgin Katja Hagedorn über Erinnerungsunwillen, tausende Arten von Wasserhähnen und die Kunst des Entscheidens.

Katja Hagedorn: Ich würde Sie gern zum Thema „Standpunkte“ befragen und dafür mit der Beschreibung eines Phänomens beginnen, das ich an mir selber beobachtet habe. Wenn ich eine Entscheidung zu treffen habe oder versuche, mir eine Meinung in einer Debatte zu bilden, spiele ich manchmal so viele verschiedene Perspektiven durch, dass es mir am Ende schwerfällt, mich für eine von ihnen zu entscheiden. Die Möglichkeiten scheinen mehr oder weniger gleichberechtigt nebeneinander zu stehen, einen Standpunkt zu finden wird dann schwierig. Ist das mein Privatproblem oder handelt es sich um ein zeittypisches Phänomen?

Michael Hampe: Vielleicht müsste man sich zunächst fragen, inwiefern es sich dabei überhaupt um ein Problem handelt. Die Fähigkeit, sich in verschiedene Perspektiven hineinzuversetzen, ist ja erst mal eine Begabung. Man könnte sagen, sie macht Subjektivität aus. Ein Stein ist einfach nur da und nicht in der Lage, die Perspektive eines anderen Wesens einzunehmen. Das unterscheidet ihn von uns. Wir wissen von Tieren, dass sie ab einer gewissen Entwicklungsstufe die Fähigkeit haben, sich in die Perspektive eines anderen hineinzuversetzen. Wenn sich beispielsweise eine Krähe von einer anderen Krähe beobachtet fühlt, tut sie so, als würde sie etwas vergraben, damit die andere Krähe später an einer falschen Stelle buddelt. Erst, wenn die Krähe sich unbeobachtet fühlt, vergräbt sie den Gegenstand wirklich. Das von Ihnen beschriebene Problem ergibt sich also nicht so sehr aus der Tatsache, dass Sie verschiedene Perspektiven durchspielen, sondern eher daraus, dass Sie nicht in der Lage sind, zu entscheiden, welche Perspektive authentisch zu Ihnen gehört und welche nicht. Das könnte man schon als ein Zeitphänomen betrachten: In den letzten Jahrzehnten wurde ja immer wieder postuliert, dass es Subjekte nicht mehr gibt. Wenn man das Subjekt abschafft, schafft man auch die Möglichkeit ab, einen Standpunkt einzunehmen, von dem aus sich andere Standpunkte beurteilen lassen.

K.H.: In den poststrukturalistischen Theorien, auf die Sie anspielen, ging es ja zunächst um die Ablehnung des Gedankens, dass es einen Seelenkern oder einen substantiellen Geist gibt, der schon vor der Geburt existiert und der bestimmt, wie das spätere Leben abläuft und welche Entscheidungen getroffen werden. Das kam mir in der Auseinandersetzung mit diesen Theorien erst mal sinnvoll vor.

M.H.: Ja, dieser Aspekt der poststrukturalistischen Kritik des Subjekts war sicherlich berechtigt. Aber man kann die Idee eines unwandelbaren Personenkerns, wie sie noch von Kant oder Schopenhauer vertreten wurde, ja ablehnen und trotzdem daran glauben, dass sich zwischen authentischen und nicht-authentischen Positionen unterscheiden lässt, zwischen Positionen, die zu mir gehören und solchen, die nicht zu mir gehören. Es fragt sich, ob die radikale Infragestellung von Subjektivität nicht auch eine ideologische Funktion hat. Dem Kapitalismus konnte jedenfalls nichts Besseres passieren. Der beste Kunde ist der möglichst flexible Mensch, der sich ständig verändert und immer neue Sachen braucht. Eine Person, die eine starke Auffassung davon hat, wie sie ihr Leben führen will und bestimmte Perspektiven für sich ausschließen kann, ist für dieses Wirtschaftssystem nicht so günstig.

K.H.: Sie haben eben von der Unterscheidung zwischen authentischen und nicht-authentischen Positionen gesprochen. Wie kann man sich das vorstellen?

M.H.: Stellen Sie sich vor, Sie bekommen das Angebot, eine interessante Stelle in einer anderen Stadt anzutreten. Sie müssten also die Entscheidung treffen, ob Sie die berufliche Herausforderung annehmen und die Stadt wechseln möchten oder nicht. In einer solchen Situation ist es gar nicht hilfreich, einen Standpunkt einzunehmen – jedenfalls nicht, wenn man darunter eine Außenperspektive versteht, von der aus man versucht, allgemeine Kriterien auf das eigene Leben anzuwenden. Zwar lassen sich von außen betrachtet verschiedene Kriterien gegeneinander abwägen: Ergeben sich durch das Angebot neue Karrierechancen für Sie? Ist die neue Stadt interessant? Verdienen Sie mehr Geld? Ist mit der neuen Stelle ein Reputationszuwachs verbunden? Die Antworten auf diese Fragen sind aber nicht auch eine Antwort darauf, welche Entscheidung für Sie die authentische wäre. Diese Antwort finden Sie nur, wenn Sie eine Innenperspektive einnehmen und sich fragen, wie Sie Ihr Leben fortsetzen möchten. Welche Erfahrungen gehören bisher zu Ihrem Leben und sollen weitergeführt werden? Was gehört nicht zu Ihrem Leben und soll darum beendet werden? Wenn man über eine Lebensentscheidung aus einer Innenperspektive nachdenkt, kann es sein, dass man eine Entscheidung trifft, die aus einer Außenperspektive unvernünftig erscheint, weil man ein interessantes Angebot in einer interessanten Stadt ausschlägt. Aber aus einer Innenperspektive kann diese Entscheidung dennoch authentisch sein.

K.H.: Sie schlagen vor, in die Vergangenheit zu blicken und die Frage zu stellen, wie diese Vergangenheit jetzt und in Zukunft sinnvoll weitergeführt werden kann. Ist das ein Plädoyer für ein Geschichtsbewusstsein? Ist ein solches Bewusstsein hilfreich, wenn man zu einem authentischen Standpunkt finden will?

M.H.: Ich denke schon. Man kann sich zu der eigenen Vergangenheit, den eigenen Erfahrungen ja mehr oder weniger aufmerksam verhalten. Man kann versuchen, seine Erfahrungen nicht zu beachten, sie quasi immer wieder auf den Müll werfen. Dann „rebootet“ man immer wieder neu und schneidet sein Leben in einzelne Stücke, die eine Dauer von zwei oder drei Jahren haben. Man kann aber auch zu der Einsicht gelangen, dass man nicht immer wieder von vorne anfangen kann, dass man eine Vergangenheit hat, zu der man sich verhalten muss, weil man sie nicht löschen kann, weil das „rebooting“ der eigenen Person eine Illusion ist. Denn man muss sich entscheiden, ob und was man fortsetzen oder anhalten will. Dann ist man damit beschäftigt, einen Sinnzusammenhang zu erzeugen. Ich glaube, im Moment gibt es eher die Tendenz, die eigene Erfahrung auf den Müll zu werfen. Die Klage über den Erinnerungsunwillen der Menschen taucht ja auch bei vielen Schriftstellern auf, sehr deutlich zum Beispiel bei W.G. Sebald. Als Sebald nach längeren Aufenthalten in der Schweiz und England wieder in die Bundesrepublik zurückkehrte, wunderte er sich, wie wenig noch von der Zeit seiner Jugend, vom Nationalsozialismus, zu sehen war. Quellen, die daran hätten erinnern können, waren planiert, die Spuren des Krieges waren verwischt, die Städte sahen alle sehr ähnlich aus. Man kann den Wiederaufbau als Erfolg betrachten, aber für Sebald war das, was er sah, Ausdruck einer unauthentischen Existenz, in der Erinnerung später nur als auferlegtes moralisches Ritual, aber nicht als existentielle Notwendigkeit vollzogen wurde. Die Deutschen existierten in seinen Augen nur scheinbar, weil sie versuchten, die Erinnerung an das Geschehene zu vermeiden. Ich denke, diese Gedanken zum Kollektiv kann man auch auf das Individuum übertragen.

K.H.: In Ihrem Buch „Das vollkommene Leben“ schreiben Sie, dass wir heute in einem Zustand des Dauerrausches leben. Das Leben in einer dynamisierten Welt, in der sich die Lebensverhältnisse so rasant verändern, dass Menschen sich ständig neu anpassen müssen, würde es nicht mehr zulassen, zwischen der Sphäre gewachsener Zusammenhänge und dem Ausnahmezustand des Festes zu unterscheiden. Der Alltag werde zu einer Art haltlosem Taumel.

M.H.: Ja, das geht eigentlich auf einen Gedanken zurück, der sich in Nietzsches Nachlass findet. Dort beschreibt er, was passiert, wenn das Christentum und die Sinnzusammenhänge, die es produziert hat, zerbrechen. Dann bleiben Menschen übrig, die ihre alten Sinnzusammenhänge verloren haben, aber nicht in der Lage sind, neue zu produzieren. Davor flüchten sie in den Dauerrausch. Nietzsche nennt die möglichen Räusche, zum Beispiel den politischen. Damit hat er die Ideologien des 20. Jahrhunderts antizipiert, in dem politische Führer gesucht wurden, die im ständigen Ausnahmezustand eine Art „Dauerfest“ veranstalteten. Nietzsche nennt auch den Drogenrausch. Er hat vorausgesehen, dass Menschen alle möglichen Medikamente und Drogen nehmen werden, um der Erkenntnis zu entgehen, dass sie ein langes Leben vor sich haben, in dem eigentlich Sinnzusammenhänge erzeugt werden müssten. Weil sie damit überfordert sind, nehmen sie in der Droge Dauerurlaub vom Leben. Er nennt auch noch die frenetische Arbeit als Rauschzustand. Man sucht sich eine Aufgabe, der man angeblich Tag und Nacht nachgehen muss und vermeidet damit die Reflexion. Das waren hellsichtige Diagnosen, die im Laufe des 20. Jahrhunderts alle eingetreten sind. Die Postmoderne und den heiß laufenden Kapitalismus kann man im nietzscheschen Sinne als den Gipfel des Nihilismus deuten, in dem es nur noch den Dauerkaufrausch und den Dauerunterhaltungsrausch gibt.

K.H.: Aber kann man derzeit nicht wieder ein Bedürfnis nach Zusammenhängen beobachten? Wenn man sich zum Beispiel Umfragen zur Situation von Jugendlichen in Westeuropa anschaut, ist Kontinuität etwas, das wieder stark angestrebt wird, sei es beruflich oder privat. Es wird wieder viel geheiratet. Auch in Film und Fernsehen gibt es Tendenzen, formal und inhaltlich Zusammenhänge zu erzeugen: Das Format der Serie ist extrem beliebt, auch das der mehrteiligen Saga. Sind das Gegenbewegungen zu dem von Ihnen beschriebenen Phänomen der Fragmentierung, die man begrüßen sollte? Oder sind diese Phänomene Ausdruck einer Sehnsucht nach Geschichten, die Zusammenhänge um jeden Preis anbieten? Letzteres fällt ja in rechtspopulistischen Debatten auf. Dort sind die Standpunkte einfach zu haben, aber sie gehen auf Kosten eines Differenzierungsprozesses, der nötig wäre, um der Komplexität der Debatten gerecht zu werden.

M.H.: Wenn wir über Standpunkte reden, sollten wir zwischen den verschiedenen Bereichen unterscheiden, in denen Standpunkte möglich und nötig sind. Beim Politischen handelt es sich um einen anderen Bereich als den, der eine individuelle Lebensentscheidung betrifft. Ich habe vorhin dafür plädiert, dass man im Falle einer Lebensentscheidung eine Innenperspektive einnimmt und keine Außenperspektive. Es gibt Bereiche, in denen man ganz klar eine richtige oder falsche Außenperspektive identifizieren kann und es gar keine Innenperspektive gibt, zum Beispiel in den Naturwissenschaften und der Mathematik. Da spielt meine individuelle Lebenserfahrung keine Rolle. Es ist richtig, dass zwei plus zwei vier ergibt. Es ist falsch, dass zwei plus zwei fünf ergibt. Bei der Politik handelt es sich um einen Übergangsbereich, in den die individuelle Lebenserfahrung hineinspielt. Menschen, die einen Krieg erlebt haben, werden sich in einer politischen Entscheidungssituation, in der es darum geht, ob ein Land an einem Krieg teilnehmen soll oder nicht, anders verhalten als Menschen, die nie einen Krieg erlebt haben. Man kann seine Lebenserfahrung in einem solchen Fall so weit verobjektivieren, dass daraus ein Standpunkt wird, zum Beispiel eine pazifistische Theorie.

K.H.: Aber leben wir nicht in einer Welt, die so komplex geworden ist, dass man nicht mehr alle Standpunkte aus der eigenen Lebenserfahrung entwickeln kann, weil diese Lebenserfahrung nicht mehr auf alle Fragen anwendbar ist?

M.H.: Die Aussage, dass unsere Welt immer komplexer und unüberschaubarer wird, hört man ja heute oft, aber ich frage mich, ob sie wirklich für alle Bereiche zutrifft. Das Europa vor den napoleonischen Kriegen stellte sich zum Beispiel in mancher Hinsicht differenzierter dar als heute: Es gab eine Vielzahl von Kleinstaaten, alle 30 Kilometer wechselte die Währung. Man hatte sehr komplizierte Kleidungssysteme, in denen sich die verschiedenen sozialen Stände symbolisch darstellten. Heute finden sich dagegen überall die gleichen Fussgängerzonen mit den gleichen Geschäften und Fastfood-Ketten. Die Menschen tragen entweder Jeans oder schwarze Anzüge. Durch die Ausbreitung der Marktwirtschaft über den Globus hat eine unglaubliche Homogenisierung des Lebens stattgefunden.

K.H.: Dennoch hat man den Eindruck, dass unsere Gesellschaften sich stark ausdifferenzieren, so dass manchmal Fachwissen nötig scheint, um eine Entscheidung zu treffen. Ich nenne mal ein banales Beispiel: Wenn ich mir einen Computer kaufe, befinde ich mich in einer Situation, in der es mir schwer fällt, eine Entscheidung zu treffen, weil ich nicht über genug Wissen verfüge. Wenn ich mich dann trotzdem für ein bestimmtes Gerät entscheide, beruht meine Entscheidung nicht auf eigener Erfahrung oder Wissen, sondern auf den Aussagen einer Person, die mich berät. Ich kann diese Aussagen nicht überprüfen, sondern ihnen nur glauben oder nicht glauben.

M.H.: An dieser Stelle könnte man noch einmal fragen, ob es sich bei dem, was Sie beschreiben, um das eigentliche Problem handelt. Wenn Sie etwas nicht wissen, haben Sie das Gefühl, dass Sie sich im Bereich der Irrationalität und des Glaubens bewegen und das lehnen Sie ab, jedenfalls wenn es darum geht, eine Entscheidung zu treffen. Das ist heute ein verbreitetes Phänomen: Wir leben ja in einer Wissensgesellschaft, in der Wissen sehr hoch geschätzt, wenn nicht sogar überschätzt wird. Wir denken, dass sich alle Fragen technisch lösen lassen. Darum häufen wir so viel Wissen wie möglich an. Wir vergessen darüber die Frage nach dem, was wir wollen. Wie wollen wir unser Leben führen? Wollen Sie überhaupt einen Computer benutzen? Diese Fragen lassen sich nicht technisch lösen, genauso wenig wie die Frage, ob man die neue Stelle in der neuen Stadt annehmen soll oder nicht. Da muss man herausfinden, was man will.

K.H.: Ist das so einfach, wie es klingt? Ich würde behaupten, dass es genug Menschen in der westlichen Welt gibt, die die Frage nach dem, was sie wollen, nicht beantworten könnten. Man kann das als ein Luxusproblem bezeichnen, aber ich glaube, dass es der Realität vieler Menschen entspricht.

M.H.: Das mag sein. Manche Menschen orientieren sich so lange an Außenperspektiven, dass sie keine Innenperspektive mehr einnehmen können. Sie sind sich selbst entfremdet. Das kann so weit gehen, dass Menschen gar nicht mehr merken, wann sie sich in einer relevanten Entscheidungssituation befinden. Wir leben in einer Warengesellschaft, die ständig irrelevante Alternativen erzeugt, zum Beispiel tausende Arten von Wasserhähnen. Die Entscheidung für einen bestimmten Wasserhahn ist aber für die meisten Lebensläufe gar nicht relevant. Die Hauptsache ist ja, dass Wasser aus dem Hahn kommt. Wenn man ständig mit irrelevanten Entscheidungssituationen konfrontiert wird, ist es möglich, dass man sie nicht mehr von relevanten Entscheidungssituationen unterscheiden kann – zum Beispiel von der Frage, mit welcher Person man zusammenleben will. Dann wird die Entscheidung für einen Menschen mit der Wahl zwischen verschiedenen Käsesorten im Supermarkt verwechselt.

K.H.: Der Soziologe Alain Ehrenberg beschreibt in seinen Büchern, dass die Vielzahl der Möglichkeiten auch durch das zunehmende Verschwinden normativer Strukturen entstanden ist. Damit seien die Menschen überfordert, weil sie die Verantwortung für ihre Entscheidungen nur noch aus sich selbst heraus und nicht mehr aus einem religiösen oder gesellschaftlichen Regelwerk begründen müssten. Vor dieser Überforderung flüchten die Menschen nach Ehrenberg in die Depression, also in die totale Verweigerung, sich für etwas zu interessieren, geschweige denn, sich für etwas zu entscheiden.

M.H.: Es gibt heute sicherlich ein Autonomie-Ideal, das postuliert, Menschen könnten alle Entscheidungen selbständig treffen. Gleichzeitig nehmen Menschen eine Marktperspektive auf ihr Leben ein. Dadurch entsteht ein hoher normativer Druck. Wir leben ja nicht nur in einer Welt der Möglichkeiten, sondern auch in einer Welt des Dauervergleichs, in der fast alles zu einer Konkurrenzsituation wird. Es herrscht die Meinung vor, dass die Verantwortung für die eigene Lebenssituation völlig beim Einzelnen liegt. Wer nicht erfolgreich ist, wird dafür verachtet, weil er offenbar falsch gewählt, etwa für „möglichst wenig Anstrengung“ optiert hat. Es war sicherlich noch nie erstrebenswert, arm zu sein, aber die Verachtung, mit der Armut heute betrachtet wird, kommt mir doch neu vor. Menschen, die kein Geld haben, werden als faul bezeichnet, man wirft ihnen mangelnde Selbstkontrolle vor. Die soziale Rolle, die wir spielen, wird mit einer moralischen Wertung verbunden. Die Angst vor dieser Art sozialer Ächtung kann auch ein Grund sein, warum ein Entscheidungsprozess schwierig wird.

K.H.: Wir haben nun viel über individuelle Lebensentscheidung gesprochen, aber ich würde gerne noch einmal auf den Bereich des Politischen zurückkommen. Sie haben vorhin gesagt, dass die Welt nicht in allen Bereichen komplexer geworden ist, aber es ist eine Tatsache, dass durch die Medien und neue Reisemöglichkeiten ein Kontakt zwischen unterschiedlichen Kulturen entstanden ist, den es früher nicht gab und der die Welt komplexer macht. Wenn ich mit einer anderen Kultur oder Religion konfrontiert werde, beispielsweise mit dem Islam, komme ich zu dem Schluss, dass ich mich mit bestimmten Ansichten oder Praktiken schwer identifizieren kann. Andererseits bin ich meinem Selbstbild nach ein toleranter Mensch, der Respekt vor den Eigenarten einer anderen Kultur oder Religion haben und ihr nicht den eigenen Standpunkt aufzwingen möchte. Bin ich da, was die Standpunktfindung anbelangt, nicht wieder in dem in meiner Eingangsfrage beschriebenen Dilemma?

M.H.: Nicht unbedingt. Sie können ja Aspekte der anderen Kultur aufgrund Ihrer persönlichen Erfahrungen und Werte ablehnen und so einen Standpunkt einnehmen. Die Frage ist eher, wie Sie damit umgehen, wenn ein Mensch aus der anderen Kultur einen anderen Standpunkt einnimmt und ob dieser Standpunkt Ihren eigenen Standpunkt verletzt. Ich habe mal an einer Konferenz teilgenommen, auf der darüber diskutiert wurde, ob grausame Bestrafungen im Sudan, die auf Grundlage der Scharia erfolgen, akzeptiert werden müssen oder nicht. Das stellt die Frage nach dem Allgemeinmenschlichen und danach, in welchen Bezug man es zu einer kontingenten historischen Kultur setzt. Es gibt Menschen, die sagen, dass es zur sudanesischen Kultur gehört, Dieben die rechte Hand abzuhacken – wobei man sicherlich prüfen muss, ob diese Meinung nicht von den Menschen vertreten wird, die auf der richtigen Seite des Operationstisches stehen. Der Dieb, der im Kaufhaus das Radio geklaut hat, beruft sich auf das Allgemeinmenschliche, das er mit der Amputation verletzt sieht. Wenn man über das Allgemeinmenschliche nachdenkt, befindet man sich aber nicht automatisch im Bereich des Naturwissenschaftlichen, in dem für alle Kulturen auf dieser Welt das Gleiche gilt. Grausamkeit definiert sich im Sudan anders als bei uns. Die Kulturen müssten versuchen, solche Fragen miteinander auszuhandeln. Im Moment scheint aber die Illusion vorzuherrschen, dass man diese Verhandlungsprozesse durch Interventionen abkürzen kann. Wenn die westliche Welt der Meinung ist, dass sie einen stringenten Begriff des Allgemeinmenschlichen hat und bei Verstößen interveniert, hat das langfristig ja gar keinen Erfolg. Das kann man in Afghanistan sehen. Eine solche Intervention hat einen kurzfristigen Effekt, aber man kann die kontinuierlich gewachsene Entwicklung eines Landes nicht von einem Moment auf den anderen abbrechen – genauso wenig, wie Sie Ihren Lebenslauf einfach abbrechen können. In dem Kollektiv, das von der Intervention betroffen ist, entsteht der Eindruck, dass ihm etwas von außen aufgezwungen wird, das nicht authentisch zur eigenen Kultur gehört. Dagegen lehnt sich dieses Kollektiv auf. Ich glaube, die einzige Möglichkeit, in diesen Dingen etwas zu bewirken, ist wirklich, dauerhaft Kritik vom eigenen Standpunkt ausgehend zu üben. Das hieße, dass die Kulturen so lange miteinander streiten müssten, bis sie einen für alle verbindlichen Begriff des Allgemeinmenschlichen entwickelt haben.

 

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