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Das Fernglas
Landvermessung
No. 3, Sequenz 6
Vom Karwendelhaus nach Garmisch-Partenkirchen

Geschichten kann man auch durch geometrische Operationen auf der Landkarte generieren: In Quart folgen unterschiedliche Autoren mit unterschiedlicher Kondition unterschiedlichen Linien (s. Übersichtskarte). Derzeit befinden wir uns auf einer Geraden, die von Obermauern im Osttiroler Virgental nach Garmisch-Partenkirchen führt. In der abschließenden Sequenz dieser Folge lässt Xaver Bayer seinen Blick länger über die Berglandschaft schweifen und hört unter anderem einen Specht lachen.

Die Zeit ist buchstabengenau und allbarmherzig.


(Hölderlin)


(In die Kälte oder Wärme unseres Nestes sind wir mitverwoben)

&

das Gehen der Beine beim Gehen

(Der vielsagende Körper)

der Schatten des Stiftes

mit dem ich schreibe

(Aber das ist schon außerhalb des Schreibens)

&

als ich in Innsbruck ankam

(So möchte ich das gelesen wissen?)

war es wie zuletzt

als ich in Innsbruck ankam

ich ging wie geduckt

mit gesenktem Kopf

(Das Leben scheint das Heitere zu bevorzugen

um zu bestehen

aber den Nebensatz beschließt der Tod)

durch die Gassen der Innenstadt

und später über die Brücke und in Richtung Außenbezirke

dort

verdorrte Pflanzen hinter den staubigen Schaufenstern leerstehender Geschäfte und Lokale

von den einstigen Besitzern im Stich gelassen

(Wieso muss ich an so etwas denken?)

und als ich dann auf dem Balkon des Hotelzimmers stand und rauchte

(Über mir ein Flugzeuggrollen

ein rostiges Messer

das über den Himmel schrammt)

fragte ich mich

warum eben ich hier immer dieses Gefühl des Geducktseins habe

und die Luft

war mit Souvenirs gespickt

(Schnee und Hausbrand)

&

die Rauchgirlande

die ins Freie zog

immer noch ein Bild der Friedfertigkeit

(Alle-Menschen-werden-Brüder)

und wie um meine weltumarmenden Gedanken zurechtzustutzen

brach einer auf der Straße unten einen Streit vom Zaun

(Was habe ich dort zu suchen?)

und für einen Moment hatte ich den Eindruck

als würde sich die Fassade der Häuser gegenüber in Bewegung setzen

und ich trat zurück ins Zimmer und schloss die Balkontür

und öffnete eine Flasche Wein

und dachte mir

dass mir alles Vorgeschriebene widerstrebt

&

hier mein Körper auf dem Hotelbett

dort der Weltempfänger auf dem Tisch

irgendwo dazwischen die Musik

hinter Tür und Fenster Lebenszeichen anderer Menschen

(Mein Schreiben

das ich beobachte)

und in die Gegend gestreut

was ich mir zugute halten kann

(Die leeren Häuser in der Vorstellung

wie die Tage sie durchleuchten)

&

so lag ich da eine Weile und trank

und suhlte mich in der Unlust

hier zu sein

bis ich mir selbst damit auf die Nerven fiel

also zog ich mir die Schuhe an und ging hinaus

Hütten mit Weihnachtsplunder

als Touristen kostümierte Touristen

dann ein Blick auf einen Mauervorsprung

auf dem eine zusammengekauerte Taube saß

ein zweiter Blick

und es war eine taubengraue Überwachungskamera

&

auf einem Schild in einem Schaufenster las ich die Aufforderung

(Schenken Sie Ihren Liebsten Zigarren)

und sofort hatte ich Lust

das Geschäft zu betreten und Zigarren zu kaufen

um sie jemandem zu schenken

und an einem Lokal vorbeigehend

sah ich auf einem Kühlschrank die Aufschrift

Rauch

(Der Name einer Fruchtgetränkemarke)

und automatisch spürte ich das Verlangen

mir eine Zigarette anzuzünden

&

ich gehe

(Nur den Platzhalter spielend

wie ein Double für die Szenen ohne Stunts)

&

ein Kind

an der Hand seiner Mutter

sagt zu ihr

(Die Welt ist heute ganz unsichtbar)

und ich

dazwischen

bewege mich weiter

damit die Bewegungslosigkeit in mir nicht zu sehen ist

(Diese Starre ist wie die Beschäftigung derer

die in allen Fußgängerzonen der Welt als lebende Statuen ihr Einkommen finden

von der Gefahr begleitet

eines Tages zu gefrieren

zu einer Statue aus Porzellan zu werden

umgeben von hohen Mauern

auf denen Tafeln mit unverständlichen Hinweisen montiert sind

ohne Leben

nur hin und wieder das Widerklingen einer über die Mauer geworfenen Münze am Porzellan)

&

ich sehe unscharf

fühle mich taumelig

(Wie ich gestern noch ins Kino ging

und mir Lars von Triers

Melancholia

ansah und dabei betrunken einschlief)

&

(Verlangen nach Vorfieber)

und

(Wenn der Schlaf einem beim Aufwachen noch schnell Traumkassiber ins Bewusstsein schmuggelt)

&

dann stehe ich also endlich am Fuß des Berges

an einem neuen Tag

und

es gelingt mir nur

das Allernaheliegendste zu erkennen

auch die Wörter haben keine Klettfunktion

rutschen durch das Angeschaute

wie ein Filmgespenst durch Wände geht

(Die schwarze Logik)

die Spinnweben zwischen den Zaunlatten

vom Morgenfrost umwachsen

sie hängen da wie Miniaturblumenketten

&

die fast schon ganz entlaubten Bäume

nicht zu entscheiden aus der Ferne

was Vögel sind und was vertrocknete Blätter

(Ob wir

wenn wir gegen die Natur revoltieren

nicht längst Diener der Natur sind?)

&

ich gehe weiter

&

im Gehen frisst der Schatten der sich bewegenden Hand

immer wieder eintauchend und sich wieder losreißend

in die Körperkontur hinein

und das Bewusstsein lässt

zwischen jedem meiner Schritte auf dem knirschenden Schnee

und dem Lärm der durch das Tal brausenden Autos

wie panisch seine Spitzen hochschießen

und verkriecht sich dann wieder in ein sonores Abtun vom Geschehen

das Mittun tätschelnd als unaufhaltbarer Vertröster

so schlüpft es in die Haut

so will es verschluckt und verschwiegen werden

der Schwerpunkt jedes Blicks

der Druck jeder Ansicht

oder

Betrachtung als Annahmestelle

als zufälliger Magnet mit Bewusstsein

&

die Lust

sich zu blähen und nie mehr auszuatmen

es schafft sich Weile

(So wie man eine Hautschicht in einer Nährlösung züchtet

sie wird perforiert und gespannt und wächst wieder zusammen)

aber mehr als das

das Zusammenprägen mit einem Ort

einer wiederholbaren Bewegung

(Täler mit Mühlen)

&

mit mir trage ich den alten Feldstecher

das Fernglas

ich tue so

als würde ich die Gipfel absuchen

doch so ist jeder Blick Naturspionage

und erst allmählich komme ich dahinter

der Moment der Unschärfe ist es

(oder besser gesagt)

der Moment

in dem das Unerkenntliche erkennbar wird

der mich einnimmt

(Ein Schemen in der Ferne und der Zeitschleier

unterdessen er zum Menschen wird)

apropos

(Überhaupt ein Schlüsselwort des Zu-Sagenden)

sprich von der Notwendigkeit des bloßen Schauens

und schon wird dein Blick befangen

&

(Es wird schwieriger

nichts zu wollen)

&

länger meinen Blick über die Berglandschaft schweifen lassend

versuche ich bei den Wegen und Straßen zu verweilen

deren Verlauf mit dem meiner mouches volantes deckungsgleich ist

und die Wolken am Himmel

wie ein künstliches Gespinst aus Gruselfilmen

und der leere Parkplatz

und der Weg

(Gedanken auf ansteigenden Wegen

Gedanken auf abschüssigen Wegen)

&

plötzlich lacht von hinten ein Specht

(handschriftlich)

und landet auf dem Stamm eines Baums

ich sah hin

(Es wird zu schwierig

Ich breche ab)

(&)

und immer wieder muss man sich der Asche entledigen

(Die Tage sind Kürzel für die Ewigkeit.)

&

die Zeit steckt in den Räumen zwischen der Unterteilung

man kann mit ihr spielen

in sie pflanzen

sie schmücken

wenn man sich ihr

präziser werdend

nähert

(Harlekin ist verrückt geworden)

&

(Der Moment der bewussten Selbstbezüglichkeit

da beginnt die Übervorteilung)

&

und weder das Bild ein Trost

noch die künstliche Beleuchtung

noch der Verlust des Lebens

(It was the time of my life)

oder der Verlust des Augenlichts

der Gegenwart

(Amboss)

keinem gehört etwas

(Adieu Fischvergiftung

adieu Raumkapsel

adieu Mittelfinger

adieu Grußformel

adieu Explosionsmotor

adieu Herzschrittmacher

adieu Politclown

adieu Sklavenhaut)

jede Form der Illusionierung scheitert bald an sich selbst

(Zum Beispiel

Stille Post

mit sich selber zu spielen)

&

(Wo ist der andere?

Ich bin der andere!)

&

als ich zum Himmel aufschaue

kreuzen sich eine Sternschnuppe und eine Fledermaus

(Aber das ist schon später

als ich wieder auf dem Balkon stehe

und die Musik aus dem Zimmer hinter mir)

&

(Das In-Klammern-Setzen ist wie das Betten von Preziosen oder auch Nicht-Preziosen in ein weiches Etui

auch die implizite Bitte um Schonung)

&

(Das Geheimnis ist in den Dingen selbst)

es ist kein Ort

kein Einwand

(Als sei die Welt ein Puzzle

und wenn man es zusammengesetzt glaubt

wer schaut einem da entgegen außer man selbst)

und auf der Rückfahrt durch die Täler

das Gefühl

gar keine eigenen Gedanken zu haben

alles Gedachte könnte Zitat sein

eine Art Stellprobe ohne Zweck

ohne Wirkung

und zurück in Innsbruck

(Keine Karwendelhütte

kein Hoher Fricken

kein Klettersteig

kein Felsgrat

kein Anfang

kein Ziel

nur)

eine Amsel

die neben mir gegen die Glasscheibe eines Hauses geflogen ist

wie sie mit gebrochenem Genick am Asphalt liegt und einige Sekunden lang noch atmet

und wie weich und warm ihr Körper ist

ihre Augen

zu schön

um nicht wahr zu sein

(Das System läuft in sich

man kann es nicht zu Fall bringen

man vermag nur außer sich sein)

&

als ich dann in einem kleinen Lokal sitze

die anderen Gäste vier alte Frauen und ein Sandler

(Seine kretinhaften und verschorften Hände

das vom Alkohol hochrote Gesicht

seine tierhaften Augen

boshaft und unendlich sanft und arglos zugleich

ich denke

diese Augen

sie wickeln den ganzen Himmel voller Sterne ganz einfach und zärtlich in Zeitungspapier)

Musik aus dem Radio

(Etwas Nichtgegenständliches)

und draußen die lichte Innstraße

der beständige Autoverkehr und die Passanten

die ihre langen Schatten hinter sich herziehen wie die Schleppe eines Mantels

&

mir gegenüber an der Wand ein Gemälde

ein Frauenakt

darunter ein länglicher Spiegel

der den gleichen Spiegel in meinem Rücken reflektiert

und so blicke ich in diese künstliche Endlosigkeit wie in einen Bergwerksschacht

der sich unbekümmert und sachlich in die Tiefe krümmt

die Wehmut

die Schönheit

das Leben

die Sonne auf dem Papier

auf dem ich schreibe

(Angeschmiegt an die Phantasmagorie

eine Passform der Sehnsucht)

&

in der späten Nacht

fast schon früher Morgen

minutenlang ein Wolkenfenster am grauschwarzen Himmel

und da habe ich einen Morgenstern gesehen

noch ganz schwach leuchtend

aber unzweifelhaft da

(Oder war es ein Traum?)

und zwei Gänse zogen

schweigend und stark

in der Nacht über die Stadt

sie wissen von unserer Prachtlosigkeit

dachte ich

ihr Gefieder strahlt

und darüber vergessen wir uns

&

und anstatt wieder einzuschlafen

warte ich auf den Frühlingsmorgen

(Das stets ungebrochene Siegel der Sehnsucht)

und solange

(...)

baue ich

mein Nest

an den Wänden der offenen Schlucht

 

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