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Hexenglaube, Enneberg, 1936

Die Historikerin und Ethnologin Lucie Varga reiste in den 1930er Jahren in ein ladinischsprachiges Tal in den Südtiroler Dolomiten und arbeitete dort an einer Studie zur wissenschaftlichen Erforschung des Hexenglaubens, die schließlich 1939 in der Pariser Zeitschrift Annales erschien. Für ihre Arbeit beobachtete Varga das Leben der Dorfbewohner eingehend, sie führte mit ihnen Gespräche und zeichnete sie auf. Dabei gelang es ihr, ein Bild zu zeichnen, das bis heute durch seine Exaktheit, Originalität und Lebhaftigkeit besticht und wegen seiner besonderen Perspektive ein seltenes und daher umso wertvolleres Zeitdokument darstellt. Porträt einer ungewöhnlichen Chronistin von Ingrid Runggaldier Moroder.

Lucie Varga1 kam am 21. Juni 1904 in einer ungarisch-jüdischen Familie als Rosa Stern in Baden bei Wien zur Welt. Sie war das jüngste von drei Kindern. Bei ihrer Geburt lebten ihre Eltern schon getrennt: der Vater Gyula Stern in Budapest und die Mutter Malvine Tafler-Stern in Baden, wo sie mit den Kindern ein finanziell sorgenfreies Leben führen konnte. Malvine Tafler-Stern war eine kultivierte Frau, die darauf bedacht war, allen ihren Kindern gleichermaßen, auch den Mädchen, eine gute höhere Ausbildung zukommen zu lassen. Von einer englischen Gouvernante lernten sie Englisch und Französisch. Zu Hause wurde Deutsch gesprochen, Jiddisch galt als unfein. Rosa Stern besuchte die bekannte Wiener Privatschule von Genia Schwarzwald, die als fortschrittlich galt und wo die unkonventionellen Ideen der Jugendbewegungen zirkulierten.2 1923 machte sie dort ihr Abitur. Während ihrer Schulzeit änderte Rosa Stern aus einer Laune heraus ihren Namen und nannte sich fortan „Lucie“, ein Name, der zusammen mit ihrem Nachnamen einen hübschen Pleonasmus bildete. Es sollte nicht ihre letzte Namensänderung sein. Bereits 1924, im Alter von nur 20 Jahren, heiratete sie den zwölf Jahre älteren ungarischen Arzt Joseph Varga. Ein Jahr später wurde ihre einzige Tochter Berta geboren. Für Lucie, die Diabetikerin war, bargen Schwangerschaft und Geburt ein erhöhtes Risiko. Das Insulin war zwar gerade erst in Kanada entdeckt worden und wurde auch bereits zur Kur eingesetzt, trotzdem war die Krankheit damals noch schwer zu behandeln, und Lucie Varga blieb nichts anderes übrig, als sich damit zu arrangieren und die Auswirkungen des Leidens, das ihr Leben beeinträchtigte, irgendwie zu verdrängen. Während ihrer Ehe mit Joseph Varga studierte sie Geschichte und Kunstgeschichte an der Universität in Wien. 1931 schloss sie das Studium bei Professor Alphons Dopsch, einem der bedeutendsten deutschen Historiker seiner Zeit, mit einer Doktorarbeit über die Entstehung des Schlagworts vom „finsteren Mittelalter“ ab. 1932 ließ sie sich scheiden. Während Joseph Varga nach Budapest zog, wohnten Lucie und die siebenjährige Tochter Berta bei ihrer Mutter in Wien, wo Lucie Lehraufträge an der Volkshochschule Urania übernahm. 1933 lernte sie durch ihren ehemaligen Professor Alphons Dopsch die Herausgeber der französischen geschichtsissenschaftlichen Zeitschrift Annales, Lucien Febvre und Marc Bloch, in Paris kennen. Im selben Jahr hatte sie auch den jungen marxistischen Intellektuellen und Historiker Franz Borkenau-Pollack3 kennengelernt. Er war nur vier Jahre älter als sie, kam aus ähnlichen Familienverhältnissen und war nach der Machtergreifung Hitlers von Deutschland nach Wien, seiner ursprünglichen Heimatstadt, gezogen. Der junge sprachbegabte, geistreiche und belesene Borkenau faszinierte Varga. Noch im Dezember 1933 legalisierten sie ihre Beziehung, bevor sie mit Tochter Berta nach Paris übersiedelten.

In Paris war Varga als Mitarbeiterin Lucien Febvres für die Annales tätig. Auch Borkenaus Aufsätze erschienen in der Zeitschrift, doch über Wasser halten konnten sie sich mit dem Einkommen, das ihnen ihre Arbeit brachte, nicht. Die Wege des Ehepaars trennten sich, als Borkenau nach Südamerika reiste, um dort eine Stelle anzunehmen, die er jedoch bald aufgab, um enttäuscht zurückzukehren.
Indessen setzte Varga, die sich in Paris gut eingelebt hatte, ihre Mitarbeit an den Annales intensiv und kontinuierlich fort. Sie beschäftigte sich vor allem mit den Gründen, die zur Entstehung des Nationalsozialismus in Deutschland geführt hatten, und reiste deshalb auch öfters dorthin, was für sie nicht ungefährlich war. Die Aufsätze sind bis heute von erstaunlicher Aktualität, umso mehr in Anbetracht der Tatsache, dass die Ausmaße der Katastrophe, zu der der Nationalsozialismus führte, damals noch nicht vollständig voraussehbar und in ihrer ganzen Tragweite bekannt waren.4

1936 und 1939 erschienen in der Zeitschrift zwei Aufsätze Vargas über das Montafoner Tal in Vorarlberg und das ladinischsprachige Südtiroler Enneberg. Zu deren Vorbereitung verbrachte sie die Sommer von 1935 und 1936 jeweils in Vorarlberg und in Tirol. Beide Male hatte sie ihre zehnjährige Tochter und den 13-jährigen Sohn Febvres dabei. Sie tat also, was Frauen oft zu tun pflegen, nämlich ihre Ferien mit den Kindern mit „etwas Nützlichem“ – sprich: mit Arbeit – verbinden. Sie wanderte und kletterte mit ihnen, sah zu, dass sie spielen und sich beschäftigen sowie Kontakte zu anderen Kindern knüpfen konnten. Nebenbei befragte sie die Frauen und Männer im Dorf, um über die Veränderungen ihrer Lebensgewohnheiten zu recherchieren, die sich durch die Entwicklung des Tourismus in diesen Orten ergeben hatten und weiterhin ergaben. Sowohl im Aufsatz über das Montafon als auch in jenem über Enneberg zieht Varga einen Vergleich zwischen dem Früher und dem Jetzt in den jeweiligen Tälern, zwischen einer Vergangenheit ohne Touristen und einer Gegenwart mit Touristen, in der sich die gesamte dörfliche Wirtschaft, aber auch die Mentalität, das Denken der Menschen und ihre gesamte Lebensweise gänzlich verändert haben.5 Sie zeigt, wie der Ausbau des Tourismus neue Strukturen entstehen lässt, neue Gasthäuser gebaut und die bestehenden vergrößert werden. Diese erfordern mehr Personal: Köchinnen und Kellnerinnen werden angestellt. Auch die Essgewohnheiten verändern sich: Wurde früher die Milch der eigenen Kühe getrunken, wird diese jetzt verkauft, man isst mehr Fleisch und kauft andere Lebensmittel hinzu. Es entsteht eine neue Dorfelite, der Typ des Gastwirts, der ehemalige Bauer, der in die Stadt fährt, um dort einzukaufen, was die Gäste verlangen. Lucie Varga schreibt: „Der Bauer sucht also die Stadt. Aber vor allem überfällt nun die Stadt das Dorf.“6
Mit ihrer Beschreibung der Dreißigerjahre im Montafon zeichnet Lucie Varga eindrucksvoll und mit äußerster Klarheit die Verbreitung des Nationalsozialismus unter der Bevölkerung. Die neue Ideologie entwickelt sich parallel mit der Zunahme des Tourismus, sie schleicht sich ins Dorfleben ein und ersetzt mehr und mehr die Religion, ja sie wird zu einer Religion, während die Kirche an Autorität verliert. Alles, was aus Deutschland kommt, und von dort kommen auch die meisten Touristen, scheint gut zu sein, und vor allem lässt sich die Jugend davon begeistern.

Die 1939 in den Annales erschienene Studie „Sorcellerie d’hier. Enquête dans une vallée ladine“, zu Deutsch „Hexenglauben in einem ladinischen Tal“7 ist ein in zweifacher Hinsicht beachtlicher Aufsatz. Einerseits stellte die historische Hexenforschung, in jenen Jahren noch in den Anfängen, eine gänzliche Neuheit dar. Tatsächlich wurde dem Thema erst mit der Frauenforschung in den Sechzigerjahren vermehrt Beachtung geschenkt. Andererseits war Vargas Methode der Feldforschung, ihr direkter Kontakt zur örtlichen Bevölkerung und deren Befragung in Form zahlreicher Einzelgespräche ungewöhnlich modern, ihr persönlicher Zugang zum Thema äußerst originell. Wie im Aufsatz über das Montafon interessierten Varga auch in diesem Aufsatz über Enneberg vor allem die Veränderungen der Lebensbedingungen der dort lebenden Menschen. Im Mittelpunkt ihrer Untersuchung stehen der Glaube an die Hexen und die Frage, warum er in diesem ladinischen Tal in den Südtiroler Dolomiten so lange überdauert hat.
Varga stellte fest, dass der Hexenglaube zur Zeit ihrer Nachforschungen so gut wie verschwunden war, beziehungsweise, dass die Leute im Dorf zwar noch an die Existenz der Hexen glaubten, jedoch dachten, dass es sie dort nicht mehr gebe, weil sie vom Priester exorziert worden seien und keine Macht mehr ausüben könnten. Manche von den befragten Frauen meinten von sich selbst, Hexen zu sein, aber ihre Zauberkraft vergessen zu haben. Angeblich kannten noch alle im Dorf Hexen. Die Menschen glaubten an sie, wie sie an die Muttergottes und das Jesukind glaubten, die ihnen übrigens näher standen als Gott und Jesus. Sie glaubten auch an verschiedene Heilige, etwa an den heiligen Florian, Sankt Christoph oder Sankt Martin, deren Bilder auch im Inneren ihrer Häuser und in den Ställen hingen, um Menschen und Vieh zu beschützen.8 „Heutzutage“, schreibt Varga, „wird der durch den Pfarrer vermittelte Schutz der katholischen Religion gegen alle Krankheiten, Epidemien, Unwetter und Katastrophen eingesetzt, die auf das Tal niedergehen. […] Aber noch vor kurzem verlangten die Bauern einen besonderen Schutz gegen okkulte Kräfte, die mit verschiedenen Namen belegt und als Ursachen allen Unglücks betrachtet wurden. Gemeint sind vor allem die Hexen. Ihre Listen zu durchkreuzen war eine der Hauptaufgaben des Pfarrers. Man sagte von einem Pfarrer: ‚Die Hexen gehorchen ihm, er widersteht jedem Sturm.‘ Oder im entgegengesetzten Fall: ‚El ne vel nia dalla tempesta.‘9 […] Noch vor dem Krieg gab es in jedem Dorf zwei oder drei Hexen. In manchen Orten leben heute noch einige Frauen, auf denen in ihrer Jugend der Verdacht der Hexerei lastete. Aber sie üben ihren Beruf nicht mehr aus. ‚Der Pfarrer hat uns entmachtet‘, behaupten sie selbst und mit ihnen das ganze Dorf.“
Interessant scheint vor allem die Tatsache, wie offen und freimütig die angeblichen Hexen über ihr Hexendasein berichteten. Ihr Reich sind der Sturm und das Vieh. Ihren Erzählungen zufolge konnten sie mit Hilfe ihrer Zauberkräfte bewirken, dass die Milch der Nachbarskühe in ihre eigenen überging. Anderen Erzählungen zufolge beteiligten sie sich auch am Hexensabbat, der vor allem darin bestand, ausgiebig zu essen und zu trinken und wollüstig zu tanzen. Auch ein Priester ohne Kopf soll dabei gewesen sein und ihnen Ratschläge erteilt haben, wie sie sich vor seinen Berufskollegen schützen konnten.10
Varga fragte, woran man eine Hexe erkennen konnte. Das war angeblich ziemlich schwierig: „Auf jeden Fall war die Hexerei das genaue Gegenteil des Katholizismus, und die Hexen fürchteten die Priester, die Messe und die Sakramente (umgekehrt fürchteten freilich auch die Priester die Hexen). Hexen wagten es also nicht, am Hochamt teilzunehmen, und es wurde erzählt, dass sie, wenn sie die Messe besuchten, so schnell wie möglich wieder verschwanden. Sie schlossen die Augen, schliefen oder täuschten es vor, sie senkten den Kopf ganz tief herunter und richteten nie den Blick auf die heilige Hostie.“11
Lucie Varga fragt auch danach, welche Frauen Hexen wurden und warum, und sie stellt fest, dass in einer Welt, die sich in wenigen Jahren stark verändert hatte, eines gleich geblieben war, nämlich: „Die Festlegung und Organisierung der Arbeit obliegt dem Vater, anschließend dem Sohn. Die Ausführung liegt bei den Frauen.“12 Bei jenen Frauen im Dorf, die an die Hexen glauben, ortet sie eine gewisse Rebellion gegen ihr Lebensumfeld. Dieses sei geprägt von harter, monotoner Arbeit, die Askese und Selbstverleugnung verlangt. Für die Töchter der armen Bauern sei es ein langer Weg, bis sie ihre Aussteuer verdient hätten. Und welchen Kampf müsse eine Bäuerin, die zwei oder drei Kühe hatte, durchstehen, damit sie in der Dorfgemeinschaft respektiert würde! Sie empfand dumpfe Ungeduld, sich den Regeln der Gesellschaft und der Religion mit ihren Heiligen zu unterwerfen, die doch „eigentlich meist auf der Seite der Mächtigen im Dorf sind“13. Durch die Materialität des Bösen im Hexenglauben können die bösen Mächte, die Unheil anrichten, beschworen werden, bemerkt Varga. Weil die Hexen diesem Glauben zufolge etwa für den Hagel verantwortlich sind und die Kühe der Nachbarn unfruchtbar machen können, gebe es so etwas wie eine strafende, rächende Macht. „Dadurch entsteht Hoffnung“, schreibt sie.

Der Tourismus in Enneberg war zur Zeit, als sich Lucie Varga dort aufhielt, ein neues Phänomen. Angeblich kamen erst seit 15 Jahren mehr Touristen und erst seit fünf Jahren kamen sie auch im Winter. Doch die sozialen Veränderungen waren bereits deutlich erkennbar. Früher, unter dem habsburgischen Österreich, löste sich die bäuerliche Struktur langsamer auf, Urbanisierung und Fortschritt waren weniger eng verknüpft und beeinflussten das Leben der Menschen im Dorf weit weniger. Varga stellt fest: „Solange sich nur ein oder zwei Touristen ins Tal wagten, sich über den Glauben der Einheimischen mokierten und während ihres kurzen Aufenthalts versuchten, ihre Fortschrittsgedanken zu verbreiten, sagten die Einheimischen nur: „Quel mat de tudesc.“14 Und sie fährt fort: „Heute sind sehr wenige Ladiner gezwungen fortzugehen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen: Der Tourismus hat alles verändert. Statt eines Gasthofs gibt es deren drei. Statt Arbeit für drei gibt es Arbeit für 30, denn man muss die Touristen nicht nur beherbergen, sondern auch für sie waschen, bügeln, nähen und häkeln. Sie kaufen Schuhe, Strümpfe, Spazierstöcke und Verpflegung. Ganz allmählich entwickeln die Einheimischen daher zwei verschiedene Vorstellungen vom Wert der Arbeit […] Nicht mehr die Anstrengung wird bezahlt, nicht mehr die Ausdauer und die Askese der Arbeit werden entlohnt und führen zum Wohlstand, sondern die körperliche Geschicklichkeit, die geistige Gewandtheit, die Fähigkeit, sich anzupassen oder vorzupreschen […] Die Wertvorstellungen haben sich vollständig gewandelt. Nicht mehr der wohlsituierte Bauer wird beneidet und in der Dorfgemeinschaft ganz oben platziert, sondern der Skilehrer und der Besitzer eines großen Hotels. Nicht mehr ein Haus mit vollen Truhen ist das Symbol für den Wert des Menschen, sondern ein sportlicher Rekord, den irgendein Jugendlicher aufstellt.“15
Mit dem Tourismus, dem Kult des Sports, der Urbanisierung, den veränderten Vorstellungen von Arbeit und Arbeitsrhythmen, aber auch dem plötzlichen Reichtum veränderten sich auch die Sichtweisen der Leute im Dorf. Die früher mit dem Hexenglauben oder der Religion verbundene Hoffnung wurde jäh vom Tourismus abgelöst.
Die neuen Feinde sind für alle die Wirtschaftskrise und die Steuern, für die einen aber auch das österreichische Joch und für andere der Faschismus. Die Alten klagen über die Schule, die den Jungen nichts mehr beibringe außer Singen, Zeichnen und Gymnastik. Es ist für Varga die faschistische Erziehung, die „die Zerstörung der alten Bezüge vollendet“. Sie beendet ihren Aufsatz mit den Worten: „Zwar werden immer noch viele Stunden auf den Religionsunterricht verwandt, aber der erste Satz, den die kleinen Ladiner beim Eintritt in die Schule lernen, lautet nicht mehr ‚Ich bin katholisch‘, sondern ‚Io sono italiano, io sono italiana‘. Ihr erstes Lied ist kein Kirchenlied mehr, sondern die Hymne der Balilla, die folgendermaßen endet: ‚Son bimbi, ma già bimbi fieri, già forti – già pronti a lanciare – il sasso e il cuore.‘16 Die ganze Schulzeit steht neben Gott ein anderer Gott: der Staat.“

Vargas Aufsätze über das Montafon und Enneberg sind, obwohl kritisch in ihrer Haltung gegenüber den Veränderungen der Lebensverhältnisse, nie sentimental oder nostalgisch. Sie anerkennt die Vorteile des Fortschritts, der das Leben und die Arbeit in vielfacher Weise einfacher machte.
Doch den Verlust bestimmter Wertvorstellungen und deren Ersatz durch materielle und ideologische Werte wie Geldhörigkeit, Nationalsozialismus oder Faschismus betrachtete sie mit einiger Besorgnis. Während Geografen und Ethnologen sich gerade in jener Zeit auch vermehrt den exotischeren Ländern der Welt widmeten, zog Lucie Varga es vor, zwei Alpenländer zu erforschen, und zwar nicht, wie es gerade auch in jener Zeit in Mode gekommen war, indem sie sich auf das Verschwinden von altem Werkzeug, Trachten und Folklore konzentrierte, sondern indem sie eine sachliche Analyse der sozialen Gewohnheiten im Wandel der Zeit vornahm.
Lucie Varga arbeitete mit Dualismen. Thematisch gesehen waren es die bäuerliche Welt und der Tourismus, der Katholizismus und der Nationalsozialismus. Zeitlich gesehen waren es die Vergangenheit und die Gegenwart, dabei verband sie Geschichte und Aktualität. Sie verband aber auch zwei Forschungsfelder, nämlich die Geschichtswissenschaft und die Ethnologie. Auch in dieser Hinsicht war sie eine der ersten Wissenschaftlerinnen, die die zwei Wissensbereiche so produktiv einsetzte.
Lucie Varga gelang es, eine Situation sowohl von außen als auch von innen zu betrachten – von außen, weil sie darauf mit dem Blick einer außenstehenden Person sehen konnte, und gleichzeitig von innen, weil sie sich mit dieser Situation lange genug beschäftigte und die Fähigkeit besaß, sich in Menschen hineinzudenken.
Lucie Varga gehörte zu jener Gruppe von Geschichts-wissenschaftlerinnen, die von der Frauenforschung als „unsichtbare Historikerinnen“ bezeichnet werden. So geriet sie einerseits aufgrund ihrer persönlichen Biografie zu Unrecht schnell in Vergessenheit, andererseits beschäftigte sie sich bereits mit Sozialgeschichte, als diese noch nicht etabliert war.

Der Historikerin und Ethnologin war nur ein kurzes Leben beschieden und die letzten Jahre davon waren für sie nicht leicht. Die Ereignisse überstürzten sich. Mit Febvre und seiner Familie kam es zu einem Bruch. Er war nach Südamerika gereist, nachdem es zu Unstimmigkeiten mit Marc Bloch gekommen war, aber vermutlich auch, weil ihn seine Frau vor die Wahl gestellt hatte, sich für sie oder Varga zu entscheiden. Für Lucie war dieser Bruch eine Katastrophe. Plötzlich stand sie allein da, ohne die für sie wichtigsten Bezugspersonen, ohne die Arbeit, die ihr so viel bedeutete. Außerdem wurde es für ihre Mutter, besonders nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland, immer schwieriger sie zu unterstützen. So versuchte sie sich selbst durchzuschlagen, arbeitete als Fabrikarbeiterin und sogar als Vertreterin von Küchengeräten. Sie ließ sich dabei nicht entmutigen und versuchte darin sogar eine Gelegenheit zu sehen, „soziologische Erfahrungen zu sammeln“.17 Ende 1937 oder 1938 ließ sie sich auf eine Scheinehe ein, um die französische Staatsbürgerschaft zu erwerben. Dabei änderte sie abermals ihren Namen, wurde zu „Madame Robert Morin“. Erst nachdem der Krieg schon ausgebrochen war, fand sie eine fixe Anstellung bei der Presseagentur Agence Hava, für die sie Nachrichten abhörte und übersetzte. Doch auch in den schwierigsten Zeiten hörte sie nie auf, intellektuell zu arbeiten.
Nach dem Einmarsch der Deutschen in Frankreich 1940 floh sie mit ihrer Tochter zunächst nach Bordeaux und fand dann Zuflucht in Pibrac, einem Dorf in der Nähe von Toulouse. Dort lebten sie in Armut und wussten kaum, wie sie sich ernähren sollten. Im Haus, das sie gemietet hatten, zogen der Maler und Grafiker Albert Mentzel und Lotte Rotschild mit ihren drei Kindern ein. Im Winter 1940/41 verschlechterte sich ihr gesundheitlicher Zustand. Unter den Umständen, in denen sie während des Krieges zu leben gezwungen war, wegen der unregelmäßigen und mangelnden Ernährung, der unzureichenden Versorgung mit Insulin und vielleicht aufgrund eines gewissen Leichtsinns, kam es zu einer körperlichen Erschöpfung, deren Symptome und Ursache der Dorfarzt verkannte. Er vermutete eine illegale Abtreibung, fürchtete sich vor den Behörden und ließ Lucie Varga viel zu spät ins Krankenhaus einliefern. Dort starb sie am 26. April 1941 im diabetischen Koma. Sie war 36 Jahre alt. Ihre Tochter Berta zog zu ihrem Vater und ihrer Großmutter nach Ungarn, wo sie den Krieg wie durch ein Wunder überlebte. Der Vater wurde 1944 von deutschen Soldaten erschossen, ihre Großmutter Malvine Tafler-Stern wurde von Nazis in der Donau ertränkt. Auch Lotte Mentzel und eine ihrer Töchter wurden in Pibrac verhaftet, nach Auschwitz deportiert und ermordet – dieses Schicksal hätte wohl auch Lucie Varga ereilt, wenn sie nicht schon vorher gestorben wäre.

1   Die Informationen über Lucie Varga stammen aus: Schöttler, Peter (Hrsg.) (1991): Lucie Varga. Zeitenwende. Mentalitätshistorische Studien 1936–1939; Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
2   Ebd., S. 17.
3   Borkenau war Sohn eines Richters am Obersten Gerichtshof in Wien.
4   Schöttler (1991), S. 53.
5   Varga, Lucie: Ein Tal in Vorarlberg – Zwischen vorgestern und heute, in: Schöttler (1991), S. 153.
6   Ebd., S. 155.
7   Varga, Lucie: Sorcellerie d’hier. Enquête dans une vallée ladin, in: Annales d’hisoire sociale, Jg. 1, Paris 1939, S. 121–132.
8   Varga, Lucie: Hexenglauben in einem ladinischen Tal, in: Schöttler (1991), S. 174.
9   Ebd., S. 174–175. „El ne vel nia dalla tempesta“ heißt auf deutsch: „Er ist gegen das Wetter nichts wert.“
10   Ebd.
11   Ebd., S. 176.
12   Ebd., S. 171.
12   Ebd., S. 177.
14   Varga, Lucie: Hexenglauben in einem ladinischen Tal, in: Schöttler (1991), S. 181. „Quel mat de tudesc“ heißt wortwörtlich „Dieser verrückte Deutsche“. Heute wäre die korrekte ladinische Schreibweise „Chël mat de n todësch.“
15   Varga, Lucie: Hexenglauben in einem ladinischen Tal, in: Schöttler (1991), S. 181 f.
16   Ebd., S. 183. Der Satz in italienischer Sprache bedeutet auf Deutsch: „Es sind Kinder, aber schon stolze, starke Kinder – schon bereit den Stein und das Herz zu schleudern.“
17   Schöttler (1991), S. 46 (Vorwort).

 

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