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„Hoffentlich, hoffentlich, hoffentlich ...“

Hochwasser verwüstete 1965 den Bezirk Osttirol: Notizen und O-Töne aus dem Krisengebiet, 47 ½ Jahre nach der Katastrophe. Von Carmen Brucic

Anfang September 1965 regnete es 48 Stunden ununterbrochen, mehr als 400 Millionen Tonnen Wasser fielen in dieser Zeit, an diesem Ort vom Himmel herab. Der Wasserstand der Isel stieg an manchen Stellen auf 4,80 m über den Normalstand. Zwölf Menschen ließen ihr Leben, 141 waren obdachlos, 794 wurden evakuiert. Es gab 36 zerstörte, 38 schwer beschädigte und 74 lädierte Objekte, 148 Brücken wurden vom Hochwasser weggeschwemmt. Viele Menschen mussten nicht nur von ihren Liebsten Abschied nehmen, sondern auch von ihren Sicherheiten.
Nach inzwischen knapp 50 vergangenen Jahren wollte ich diesem Schrecken, der die Osttiroler heimsuchte, nachspüren. Das Thema Abschied beschäftigt mich schon seit längerer Zeit in meinen künstlerischen Arbeiten; das war wahrscheinlich der Grund, warum mich Quart mit dieser Recherche beauftragte. Am 18. Jänner 2012 machte ich mich für fünf Tage mit einem Tonbandgerät auf den Weg zu den Zeitzeugen.

*

Wie spreche ich mit jemandem, der eine Naturkatastrophe überlebt hat? Wie empfindet jemand, der bereit ist, nach so vielen Jahren und Geschehnissen in ein sein Leben veränderndes, unvorhergesehenes Ereignis einzutauchen, sich diesen kaum vorstellbaren Ängsten wieder zu stellen, sie aus den Tiefen seines Unterbewussten hervorkommen zu lassen? Jemand, dem ich vis-a-vis sitze …

… Ja, der Onkel und i. Von der Mamme der Brüda und i håm då zwoa Tåge då die ganze Ding mit Pickel und Schaufel aufgegråb’n, um zu schaugn, ob die Mamme nou do heroben isch oder ob s’es in’s Tal g’schwemmb håt. Am dritten Tog vormittog håma sie nocha g’fundn. Mia håm gsåg’, mia gebn nit auf, bevör ma sie nit finden. Da håma Glück gehåb’, weil die gånzen Helfer håm g’sag, de find’ ma nimma, de find’ ma nimma und de isch öhin. Da sei ma måchtlos und måchtlos. Der Brüda von der Mamme und i håm nit aufgebn. Nocha håma sie trotzdem nou gfundn …

… sich kreuzende und gleichsam suchende Augenblicke. Der schneller werdende Atem, die nach Halt suchenden Hände, die sich wandelnde Stimme, konzentriert. Stille. Als nehme der gesamte Raum durch diesen Zeitzeugen eine vergessene Gestalt an. Ist es überhaupt möglich, über dieses Erleben zu sprechen? Kann das Sprechen darüber selbst zum Ereignis werden? …

… Nocha bin i fira gong’ auf an Felsvorsprung, öha-schrei’n ins Tål, dass Hilfe auhakimp …

… Nix wie Trümmer und Trümmer, Leit g’schrien …

… Nocha honn i ma gedenkt, hiez bin i alloan auf der Welt von dem Dörflen … Spring i da öhin …

… und natürlich entwickelsch’ übernatürliche Kräfte in so oana Situation …

Carmen: De Bilder bleib’n ja, wo tuasch du de hin?
Chrysanth: Jå, de bleibn jå, da denksche nocha hålt wieda. Jed’s Jåhr um die Zeit, überhaupt wenn a Schlechtwettaperiode isch, då bin i nit ansprechbår, a gånze Woche.

Carmen: Was hat dir g’holfen, dass du da weiter gemacht hasch?
Chrysanth: Der Glaube håt mir geholfen, der Glaube. Der woar die oanzige Rettung für mi.

                                                *

In der Welt, in den Zeiten und Geschichten, in die ich hineingeboren wurde, werden Katastrophen vermarktet. In jener Welt fühlen viele Menschen einen Verlust, der noch gar nicht stattgefunden hat und vielleicht nie stattfinden wird.

… „So! Nun habt ihr alles verloren.“
Na, honn i gsåg’, na, mir håm’ goar nix verloren, i woas nou, dass i g’låcht honn sogar – na, Herr Pforra, mia håm goa nix verloren, mia håm uns ålle! …

Alles verloren und dennoch alles behalten; was ist mehr wert als das eigene Leben? Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, das in solcher heftigen Grausamkeit erfahren zu müssen. Aloisia erinnert mich an einen Kapitän auf stürmischer See.

… und die Kirche zamm gebrochen … wo die Sintflut, die Gischt so aufigeht! …

Selbst das Sinnbild des Glaubens wird niedergeschmettert.

… nocha hot ma des glei gsechn, und ja wia die Toten öchngschwumm’ sein und des alles hot nocha nieder-
g’fress’n. Friedhof olls weck, die holbe Kirche weck …

… I hon olleweil g’sog’, es passiert uns nix. Mia sein wia in der Arche Noah …

                                                  *

Jedes Interview birgt eine Unvorhersehbarkeit, eine oder mehrere Überraschungen. Respektvolle Neugier, was mich hinter den mir stets freundlich geöffneten Türen erwartet, treibt mich an. So pendle ich zwischen den Zeiten und plötzlich wird mir klar: Diese fünf Tage sind viel zu kurz.

… Es isch a Monschter gewesn, braun und höech und laut, laut! Hetz kimp’ ma oftramol vor, i hun des Rauschen alleweil nu im Hinterkopf. Wenn’s hetz länger regnet als wie zwoa Toge hinteranondar, nocha denkt man a: hoffentlich, hoffentlich, hoffentlich, …

… Åcht Leit’, zwoa Schirm’. Irgendwo in dem Wåld sein mia gehuckt, unter zwoa Schirm’ und håm Rösenkrånz gebetet. Und håm gewårtet, bis es helle weard. Und überall håt’s gekråcht und getscheppert und mia håm nimma gewisst wo. Und wie’s nocha hell worden isch, nocha sein mia nimma auskemm’, weil do woa die Mure und do woa die Mure …

Versunken in ihre bewegenden Schilderungen, vergisst Ottilie mich. Sie erzählt von der Eiligkeit der Menschen, die ihre Häuser verlassen … ein Zögern, ein Warten kann tödlich sein. Manchmal flüstere oder zische ich ein kleines „Wahnsinn!“ dazwischen. Mehr ist in dieser Stunde nicht möglich oder vielleicht auch gar nicht wichtig.

                                                  *

Während Anton erzählt, zwirbelt er unterhalb der Brust immer an der gleichen Stelle seines dunkelgrünen Jagdpullovers. Wieder in diese heftigen Erlebnisse hineinzugehen ist emotional extrem aufwühlend. Das immer schneller werdende Zwirbeln an den wolligen Fäden … Plötzlich spricht er nur mehr von den Fakten, er schafft sich eine Brücke.

... Des rauscht und schtinkt gonz furchtboa. Durch des Material, durch die Erde, des isch wia so – i woas nit, wia ma des sogn soll, wia so a Schleim. Es schtinkt oanfoch: I woas nit, wia i des sogen soll, wia des schtinkt. Des isch vom Wold nocha die faule Erde, dann isch Ungeziefer drinne, des oll’s und oll’s wead nocha aufg’wühlt und nocha kimp als zamm und des schtinkt oanfach. Des schtinkt fuarchtbar …

                                                  *

Ich bringe ausgeliehene Fotos zu den Gesprächen mit. Zwei kleine Schwarz-Weiß-Aufnahmen fallen mir besonders auf. Das eine ist eine Luftaufnahme, von der aus weit entfernt die Verwüstungen auf „Gassen“ (Gemeinde St. Veit i.D.) festgehalten sind. Durch die Hälfte des Fotos zieht sich von links oben nach rechts unten ein gewaltiger grau-weißer Riss. Die vielen herunterstürzenden Muren zerreißen zuerst das Waldband, bevor sie das Tal weit unten verwüsten, eine davon radiert die Mitte des Dörfleins aus. Links und rechts neben den stehen gebliebenen Häusern ziehen sich weitere weiße Risse durch die malträtierte Landschaft. Die kahlen weißen Stellen stechen hervor, als hätte jemand im Foto herumradiert. Hier starben sechs Menschen, sieben Menschen konnten, teils schwer verletzt, geborgen werden.
Auf der Aufnahme der beschädigten Kirche von St. Johann im Walde sehen die Überreste wie ein Mahnmal aus, das an göttliche Wut erinnert. Der Kirchenkörper ist bis zur Mitte abgerissen. Aus dem Inneren gähnt ein tiefes, leeres Loch. Ein kleines, heil gebliebenes Kirchenfenster leuchtet noch darin, und man kann andeutungsweise die tief versandeten Kirchenbänke erkennen.

… um die Heisa hun i nit a so Sorge g’hab, um die Kinda a nit, aber um die Männer. Weil de alleweil wieder weck sein, des isch so a schreckliches Gefühl gewes’n, bald de weck sein, mitten in der Nocht wieder Wossa wehren sein gong. Da wieda schaug’n, dass es Wasser nit weita zuhafrißt, dass sie de Höfe da unten daretten. Des isch so schrecklich gewes’n bis de do wieder kem’ sein … de Wartezeit. Kemmen sie alle mit gonze Glieder? …

… Sie woan zwoa platschnoss, aba sie hom’s überlebt und sein nit amol krank woan …

Carmen: Hat dein Mann jemals drüber g’redet?
Gunda: Na, hat er nitte. Gsog wohl, da isch nicht mehr ’gong’n, da håma nicht mehr daholfen.

Gebeugt, wie von einem schweren Gewicht, legt Valeria ihren Kopf auf die Seite.

… Mittwoch in da Friah isch a non gstorbn. Wenn i denk, wie schen und friedlich, ohne a Gsicht zu vaziach’n …

Versunken in den vergangenen, wieder lebendig gewordenen Bildern vergessen wir die Milch auf dem Herd, die schon übergelaufen ist. Der Geruch von Verbranntem bringt uns kurz in das Hier zurück. Gemeinsam putzen wir die Herdplatten, setzten uns wieder und Aloisia erzählt weiter.

… Alleweil schwonger und alleweil Stoane geklaub’ und Stoane geklaub’ und nocha isch auf oamal oll’s weck mitn Hochwossa, oll’s was mia zeascht gerodet hom und hergerichtet hom und umgebaut hom …

… Schaug, da isch des Haus g’stond’n. Komplett weggeputzt, als ob’s nie dog’wesn war …

… Des is so schwierig, des zu erzählen, weil des immer wieder aufwiegelt …

                                                  *

Er konnte nicht früher heiraten, er brauchte lange Jahre, um mit diesen Erlebnissen leben zu lernen. Heute erzählt Chrysanth glücklich von der Liebe zu seiner Frau und den Kindern mit ihr.

… Sag’ man dann zum Beispiel: Mei Bue isch noch der Katastrophe auf die Welt kemmen? …

… man denkt nocha: isch es vor Fünfundsechzig oder noch Fünfundsechzig gewes’n, oder isch es schon Sechsundsechzig gewesen? …

Heuer hat es hier nur wenig geschneit, ungefähr 20 cm, so hoch hätte damals das Wasser im ganzen Bezirk gestanden, wenn es nicht abgeflossen wäre. Ich versuche, mir das mittels der Schneedecke während der Autofahrt vorzustellen.
Immer wieder passiere ich lange Tunnel von Straßenverbauungen. Die sich gleichmäßig wiederholenden sterilen Betonstehlen ziehen sich Kurve um Kurve. Sie sollen in Zukunft die Zufahrten ins Tal vor Muren und Lawinen schützen. Wie viele Tonnen Beton das sein müssen?
Die kleine Bergstraße schlängelt sich auf die Hochebene. Kein Verkehr, als ob ich allein in dieser Winterlandschaft unterwegs wäre. An den schroffen, dunklen Felswänden hängen festgefrorene Bäche. Das kalte Sonnenlicht fängt sich darin. Das Eis leuchtet.
Auf meine Frage: „Was gab Dir in dieser schweren Zeit Kraft?“, lautete die Antwort aller: „Mein Glaube.“ In diesen fünf über die Zeiten hin- und herfliegenden Tagen, erfahre ich verkörperten Glauben, der wie eine aus Stein gehauene Skulptur Gestalt bekommen hat und atmet.

... Na, mågsch ruhig Du sågn. Über 1000 Meter Höhe isch åll’s per du ...

... Soll i nit nou an Kaffe moch’n? ... Lei g’frühschtückt! Nocha müesche hetz owa schun ebes essen ... Iss amol bisse genüe hosch ...

... jå, des isch de fremde Frau, de sitzt bei mir in der Kuchl ...

(Nachbemerkung: Für die Gastfreundschaft und das große Vertrauen, mich in so persönliche Erlebnisse einblicken zu lassen, bedanke ich mich bei allen Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern.)

 

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